Eichen, Mythen und Wälder: zwischen Natur und Kultur

Eichen, Mythen und Wälder: zwischen Natur und Kultur
  • VeröffentlichtOktober 2, 2025
Im Naturschutzgebiet „Venner Moor“ bei Senden in Westfalen (Copyright: Wikimedia Commons)
Im Naturschutzgebiet „Venner Moor“ bei Senden in Westfalen (Copyright: Wikimedia Commons)

Seit mehr als einem Jahrhundert nimmt die Waldfläche kontinuierlich zu. Dennoch sind die Wälder alles andere als gesund. Die Jahresberichte des IGN in Frankreich und des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft in Deutschland ziehen für 2025 dieselbe Bilanz: Nahezu 80% der Bäume sind krank.

 

Die Kronen – also die Äste und Zweige des Laubs oberhalb der ersten dicken Astkrone – verkümmern. Die Ursachen dafür sind vielfältig: außergewöhnlich starke Überschwemmungen, schwere Dürren, Klimastörungen sowie Parasiten und Krankheiten. Über die biologischen Aspekte hinaus ist es interessant, die Wälder Frankreichs und Deutschlands zu vergleichen – vor allem aber die Empfindungen, die sie in den beiden Ländern hervorrufen.

 

Kulturelle und sprachliche Wahrnehmungen der Wälder

Diese Wahrnehmungen unterscheiden sich teilweise aufgrund jahrhundertealter Traditionen und sogar der Sprache. Im Französischen ersetzte im 12. Jahrhundert das Wort forêt das frühere forest (das ins Englische übernommen wurde), um eine weite, mit Bäumen bestandene Fläche zu beschreiben. Im Mittelalter nutzten die Engländer das Wort forest, um ein wildes Gebiet oder gar eine Einöde – also eine Wildnis – zu bezeichnen. Eine ähnliche Analogie zeigt sich auch im Deutschen: Das Wort Wald leitet sich sprachlich von wild ab.

Der Waldmensch galt schnell als „Wilder“, ein Begriff, der vom lateinischen silva abstammt (nach Sylvanus, der Gottheit der Wälder in der römischen Mythologie) und sich im Adjektiv sylvestre wiederfindet. Wie der Barbar, der kein Griechisch sprach, hatte auch der Wilde den Ruf, keine menschliche Sprache zu beherrschen. Der Anthropologe und Ethnologe Claude Lévi-Strauss bemerkte dazu: „In beiden Fällen weigert man sich, die bloße Tatsache kultureller Vielfalt anzuerkennen; man bevorzugt es, alles, was nicht der eigenen Norm entspricht, aus der Kultur heraus in die Natur zu verweisen.“ Ein Jahrhundert zuvor schrieb der Archäologe Alfred Maury 1860 in seiner Abhandlung Die Wälder Frankreichs in Antike und Mittelalter: „Wenn die Einrichtung gemeinschaftlicher Wälder bei den germanischen Völkern entstand, wurde das neue Forstrecht, das diese Gemeinschaft einschränkte, unter Fürsten deutschen Ursprungs eingeführt.“

 

Königliche Wälder und Forstrecht

Deutsch-französische Unterschiede bestehen also – auch wenn sie meist ignoriert werden, selbst in Gesetzestexten. Sie zeigen sich vor allem im Wortgebrauch: bois und forêt in Frankreich, Wald und Forst in Deutschland. Manche Waldgebiete waren für die königliche Nutzung reserviert, vor allem zur Jagd: die sogenannten Bannforste, in denen vor allem Wildschweine lebten. Im 13. Jahrhundert nannte man diese Wälder in Frankreich sylvestres, und sie sollten unberührt bleiben. Der Begriff „Bann“ spiegelt dieses Verbot wider: Ackerbau und Siedlungen waren zugunsten der Jagdtiere ausgeschlossen. Diese „Ausgrenzung“ hat auch in der französischen Sprache Spuren hinterlassen – so entstand der Begriff Banlieue für die Randgebiete großer Städte.

Das Wort Forst, vom lateinischen forestis abgeleitet und Ursprung des französischen forêt, bezeichnet ein von Förstern gepflegtes und geschütztes Gebiet. Diese sorgen für Aufforstung und Wiederaufforstung, also für die gezielte Kultivierung von Pflanzen auf einem klar begrenzten Gebiet. Man spricht dabei manchmal auch von einem botanischen beziehungsweise forstlichen Garten (forstbotanischer Garten). Interessanterweise hat die französische Sprache im Gegensatz zum englischen forestation nur die „Abholzung“ (déforestation) übernommen und damit den Fokus auf den Verlust der Wälder gelegt.

 

Die Eiche in Mythen und Legenden

Das Wort Wald, das den berühmtesten Wäldern Deutschlands ihren Namen gibt, bezeichnet dagegen die natürliche Entwicklung der Vegetation. Einfach gesagt: Ein Wald ist ein Naturwald, wie der Schwarzwald, während ein Forst ein von Menschenhand geschaffener Wald ist. Im Gegensatz zum Forst, den man anpflanzen kann, entsteht ein Wald nicht künstlich – man kann nur sein Wachstum steuern, um ihn zu schützen. Für die breite Öffentlichkeit bleiben diese Unterschiede meist theoretisch, vielleicht nur beim Urwald nicht, der keinerlei semantischen Spielraum lässt.

In allen von Franken, Alemannen, Langobarden, Germanen und Sachsen verehrten Wäldern nahm ein Baum eine besondere Stellung ein: die Eiche, geweiht dem Donnergott Thor. Bei den Griechen war es der Baum des Jupiter, verewigt vom lateinischen Dichter Ovid in den Metamorphosen unter dem Namen Philemon. Mit Baucis bildete er ein Paar älterer Menschen, verbunden durch aufrichtige Liebe seit ihrer Jugend. Als Belohnung für ihre Gastfreundschaft durfte das Paar für die Ewigkeit vereint bleiben: zwei Bäume, deren Stämme sich umschlingen, eine Rinde teilen und vereint gegen die Sintflut stehen, die jene traf, die ihnen und Merkur die Gastfreundschaft verweigert hatten.

 

Toponymie und das Geheimnis der Orte

Der Name eines Weilers im hintersten Teil des Départements Sarthe überrascht: Le Chêne-Allemand in Mareil/Loir. Dass der Name auf den mythischen Baum verweist, ist leicht durch das frühere Vorhandensein eines Eichenwaldes zu erklären; dass jedoch das Adjektiv „allemand“ angefügt wurde, irritiert. Zunächst müsste geklärt werden, ob es sich tatsächlich um ein Adjektiv handelt. Ein diskreter Bindestrich zwischen den beiden Begriffen (Chêne-Allemand) auf einem verrosteten Straßenschild deutet darauf hin, dass der Ort aus der Verschmelzung eines Weilers namens Le Chêne und eines namens Allemand oder Alleman entstanden ist – wie viele andere Orte in Frankreich – oder eventuell einen Bezug zu Le Mans hat.

 

Copyright : Gérard Foussier
Copyright : Gérard Foussier

 

Bindestrich oder Gedankenstrich? Typografen unterscheiden klar: Der Bindestrich verbindet, der Gedankenstrich trennt. Das Sarthe-Schild trennt also korrekt Le Chêne und Allemand. Gleichwohl darf man über die Hintergedanken derjenigen spekulieren, die den Ortsnamen bewusst wählten, wohl um das Dorf durch ein Wortspiel bekannter zu machen und „Allemand“ statt „Alamans“ zu bevorzugen.

 

Das Rätsel des Kriegers von Uriage

In Uriage (Isère) umgibt ein Geheimnis das Schloss, das Alemanus de Auriatge (oder Allemandus de Uriatico), der erste Herr des Ortes, um 1080 für seine Familie errichten ließ. Bei einem Verkauf des Schlosses in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wollten die neuen Besitzer eine jahrhundertealte Eiche fällen – und entdeckten den Leichnam eines mysteriösen Kriegers, seit mindestens 300 Jahren in seiner Rüstung gefangen.

 

Blick auf Schloss Uriage (Copyright: Wikimedia Commons)
Blick auf Schloss Uriage (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Die Geschichte des armen Soldaten konnte rekonstruiert werden: Wahrscheinlich handelte es sich um den Abgesandten einer Nachbarfamilie, der im 14. Jahrhundert nachts das Schloss angreifen sollte. Ein Verteidiger der Familie Alleman überraschte ihn, und der Eindringling suchte im Dunkeln Schutz im hohlen Stamm einer Eiche im Garten. Der Angriff wurde abgewehrt, doch der Soldat konnte weder aus der schweren Rüstung noch aus dem Baumstamm entkommen. Er starb schließlich an Durst und Hunger, gefangen im Eichenbaum der Alleman.

 

Literatur, Kultur und militärische Symbole

Der deutsche Förster Peter Wohlleben, Autor des Bestsellers Das geheime Leben der Bäume (2015), betont die enge Beziehung der Deutschen zu ihren Wäldern – weit über die Legenden des 13. Jahrhunderts hinaus. Auch bei Goethe nimmt die Eiche eine symbolische Rolle ein: Der Dichter setzte sich gern unter Eichen am Ettersberg bei Weimar, wo er Gedichte wie Nachtlied des Reisenden schrieb. Dort ritzte er seine Initialen sowie die von Charlotte von Stein, seiner platonischen Liebe, ein. Schon auf Karten des 18. Jahrhunderts war die „Dicke Eiche“ als Naturdenkmal verzeichnet. Man erzählte, dass ihr Verschwinden das Ende des deutschen Reiches bedeuten würde. 1937 wählten die Nationalsozialisten diesen beinahe heiligen Ort im Buchenwald, um dort ein Konzentrationslager einzurichten. An die Nähe zu Adolf Eichmann (wörtlich „Eichenmann“) denkt man aus Pietätsgründen kaum. Bombardiert von der US-Luftwaffe 1944, überstand Goethes Eiche teilweise; ein Stumpf blieb erhalten – Symbol der Nazi-Perversität. Der heilige Baum war zum Folterpfahl geworden. Das Reich überlebte dieses Ereignis nur neun Monate.

 

Goethes Eiche in Buchenwald (Copyright: Wikimedia Commons)
Goethes Eiche in Buchenwald (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Die Eiche – nicht nur in Deutschland – findet sich in vielen militärischen Dekorationen wieder. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die Eisernen Kreuze erhalten, sofern das Hakenkreuz durch Eichenlaub ersetzt wurde. Dieses Motiv erscheint auch auf Münzen: Im Westen eine Bäuerin mit einer Eichenrute, im Osten zwei Eichenblätter, die das Prägejahr umrahmen. 2001 übernahm der Euro das Symbol eines Eichenzweigs mit fünf Blättern und zwei Eicheln auf den 1-, 2- und 5‑Cent-Münzen.

 

Romantische Traditionen

Bis heute existiert in Eutin bei Lübeck im Norden Deutschlands eine über hundertjährige romantische Tradition: Liebende hinterlegen ihre Briefe in einer über 500 Jahre alten Eiche. Seit 1927 läuft dies über die Postverwaltung, die einen speziellen Postboten und eine eigene Postleitzahl eingerichtet hat. Jährlich entstehen so aus rund tausend Briefen etwa hundert Ehen durch die „Bräutigamseiche“ – ein Vorläufer moderner Online-Dating-Portale. Die Tradition geht auf eine junge Deutsche, Minna, und ihren Liebhaber Wilhelm, einen Chocolatier, zurück. Um den väterlichen Verboten zu entgehen, erfand sie diesen Trick, und Wilhelm stimmte schließlich der Ehe unter den Ästen der berühmten Eiche zu.

 

Die „Bräutigamseiche“ in Eutin, ein Vorläufer moderner Online-Dating-Portale (Copyright: Wikimedia Commons)
Die „Bräutigamseiche“ in Eutin, ein Vorläufer moderner Online-Dating-Portale (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Dies erinnert an die Bänder, Kränze und kleinen Statuen, die man noch heute an alten, oft dreihundertjährigen Eichen im Staatswald von Saint-Germain-en-Laye (Yvelines) sehen kann. Einige Stämme haben einen Umfang von über vier Metern. Besonders bekannt ist die der Heiligen Genoveva gewidmete Eiche am Waldrand in Richtung Les Loges. Der älteste Baum des Départements steht in Thoiry: die Eiche von Saint-Santin, geschätzt über 700 Jahre alt, nahe der Kapelle und nicht weit vom Tierpark. Bereits Pläne von 1680 verzeichneten sie als ältesten Baum des Anwesens, im Wettstreit mit der etwa 600 Jahre alten Eiche des Heiligen Ludwig.

 

Der Autor

Gérard Foussier (Copyright: privat)

Gérard Foussier schloss 1969 sein Germanistikstudium an der Universität seiner Heimatstadt Orléans ab und entdeckte durch die Städtepartnerschaft mit Münster in Westfalen seine Leidenschaft für die deutsch-französischen Beziehungen. Nach seiner Journalistenausbildung bei den Westfälischen Nachrichten arbeitete er drei Jahrzehnte lang für den deutschen Auslandssender Deutsche Welle – zunächst in Köln, später in Bonn. 2005 wurde er zum Präsidenten des Bureau International de Liaison et de Documentation (B.I.L.D.) gewählt. Dreizehn Jahre lang leitete er die zweisprachige Zeitschrift Dokumente/Documents als Chefredakteur und ist Autor mehrerer Bücher. Sein jüngstes Werk, „Allemanderies“, erschien im Januar 2023. Gérard Foussier besitzt die doppelte Staatsbürgerschaft und wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

 

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