Zeitenwende:
Strategische Kulturen im Wandel

Zeitenwende: Strategische Kulturen im Wandel
  • VeröffentlichtOktober 15, 2025
Pressekonferenz nach dem Treffen des deutsch-französischen Ministerrats, Toulon, 29. August 2025 (Copyright: Alamy)
Pressekonferenz nach dem Treffen des deutsch-französischen Ministerrats, Toulon, 29. August 2025 (Copyright: Alamy)

„Entscheidend bleiben die Taten“, schreibt David Isken. Auch wenn es seit dem Amtsantritt von Friedrich Merz erste positive Signale gibt, bleibt die deutsch-französische Annäherung in Sicherheits- und Verteidigungsfragen ein zähes Unterfangen – belastet durch historische Differenzen und große Herausforderungen.

 

Die russische Invasion der Ukraine hat die Defizite der deutschen Sicherheitspolitik offenbart und zugleich gezeigt, dass die finanziellen und militärischen Kapazitäten der USA nach wie vor unverzichtbar für die Sicherheit Europas sind. Da die USA derzeit kein verlässlicher Partner für ihre europäischen Verbündeten sind, kommt es mehr denn je auf Deutschland und Frankreich an. Ihr Bündnis war in der Vergangenheit ein zentraler Motor für das Zusammenwachsen Europas – auch in Sicherheitsfragen.

Die sogenannte „Zeitenwende“, die Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Bundestag ausrief, könnte nach Jahren der Stagnation die strategische Kultur Deutschlands grundlegend verändern. Dieser Beitrag untersucht, ob sie zu einer neuen deutsch-französischen Dynamik in der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik geführt hat.

 

In Uneinigkeit vereint

Der Begriff der „strategischen Kultur“ bezeichnet in der Außenpolitikforschung ein Konzept, nach dem außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen eines Staates von historisch gewachsenen und kulturell geprägten Traditionen beeinflusst werden. Für Deutschland bildeten die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs das Fundament dieser Kultur. Im scharfen Gegensatz zur nationalsozialistischen Außen- und Sicherheitspolitik entwickelten die Kanzler der jungen Bundesrepublik neue Leitbilder: einerseits die Bevorzugung friedlicher Mittel zur Konfliktlösung („Antimilitarismus“), andererseits das Handeln innerhalb von Bündnissen („Multilateralismus“).

1963 unterzeichneten Deutschland und Frankreich den Élysée-Vertrag, wodurch sich die einstigen Kriegsgegner offiziell versöhnten. Beide Staaten bekannten sich zu einer Vertiefung der europäischen Integration und zu einer engeren Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Differenzen blieben jedoch bestehen: Während die Bundeswehr als „transatlantische Bündnisarmee“ in die NATO integriert wurde, distanzierte sich Frankreich spätestens unter Charles de Gaulle von der Atlantischen Allianz und pflegte die Prinzipien der „grandeur“ (Größe) und „indépendance“ (Unabhängigkeit).

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts konvergierten die deutsch-französischen Interessen in der Außen- und Sicherheitspolitik. Gründe dafür waren unter anderem die kooperativeren Initiativen Frankreichs und ein Machtvakuum, das die USA in Europa hinterließen. Deutschland verfolgte trotz seines Machtzuwachses durch die Wiedervereinigung weiterhin einen Kurs der Selbstbindung. Gemeinsam legten beide Staaten das Fundament für die heutige Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Kurskorrekturen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts beseitigten jedoch weder den gaullistischen Kern der französischen Politik noch Deutschlands Zurückhaltung gegenüber militärischer Gewalt. Ab den 2010er-Jahren geriet die Integration der GASP/GSVP zunehmend ins Stocken.

 

Angela Merkel und Emmanuel Macron am 23. März 2018 in Brüssel (Copyright: Depositphotos)
Angela Merkel und Emmanuel Macron am 23. März 2018 in Brüssel (Copyright: Depositphotos)

 

Die strategischen Differenzen traten erneut in der Debatte über die von Frankreich 2017 geforderte Europäische Souveränität zutage. Bundeskanzlerin Angela Merkel begegnete dem Begriff mit Skepsis, da befürchtet wurde, die USA könnten ihn als Misstrauenssignal werten. Ähnliche Spannungen zeigten sich in der Diskussion über Macrons Vorschlag zu französischen Nuklearwaffen. Auch die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) offenbarte laut einer SWP-Studie divergierende Ansätze: Deutschland strebte eine möglichst breite europäische Einbindung an, während Frankreich auf kleine „Koalitionen der Willigen“ setzte. Hier prallten die Philosophie der maximalen Integration und der maximalen Befähigung direkt aufeinander.

Die Zeitenwende-Rede von Kanzler Scholz markierte einen Bruch mit den bisherigen Leitlinien der Bundesrepublik. Verteidigungsminister Boris Pistorius sprach infolgedessen von „Kriegstüchtigkeit“. Das Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro unterstrich die Bedeutung der russischen Invasion als externen Schock für die deutsche strategische Kultur. In Frankreich veröffentlichte der Präsident die „National Strategic Review 2022“, in der die revisionistische Politik Russlands betont wurde. Zentral ist dabei der von ihm gewählte Begriff „Adaption“ – also Anpassung. Frankreich passte seine Pläne für eine europäische Sicherheitsarchitektur mit Russland an, verstärkte die Präsenz im Baltikum und belieferte die Ukraine mit strategisch relevanten Waffen. Die GASP/GSVP profitierte davon jedoch nicht – weder vom deutschen Sinneswandel noch von den französischen Anpassungen.

 

Zweifache Gründe

Erstens setzte Deutschland die nationale Ertüchtigung kurzfristig über die Integration der GASP/GSVP hinweg. Kanzler Scholz kündigte Käufe bei US-Rüstungsherstellern an – vom Mehrzweckkampfflugzeug F-35A bis zu Patriot-Flugabwehrsystemen für die European Sky Shield Initiative (ESSI). Dies geschah zum Ärger Macrons, der seit Langem einen europäischen Rüstungsmarkt favorisiert. Paradoxerweise entspricht die ESSI dem französischen Konzept einer „Koalition der Willigen“, doch Deutschland entfernte sich damit weiter vom Ziel einer europäischen Rüstungsautonomie. Frankreich ist seinerseits bis heute nicht der ESSI beigetreten.

 

Mock-up einer F-35A für die Deutsche Luftwaffe mit fiktiver Registrierung (Copyright: Wikimedia Commons)
Mock-up einer F-35A für die Deutsche Luftwaffe mit fiktiver Registrierung (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Zweitens fand kein grundlegender Wandel der französischen strategischen Kultur statt. Für Frankreich bleiben Kriege und Konflikte ein realistisches Szenario. Der russische Konflikt führte daher zu einer Adaption, nicht zu einem tiefgreifenden Wandel. Macron betont Europas Unabhängigkeit – sowohl von den USA als auch von China. Seine Aussage von 2023, Europa dürfe sich nicht zum Vasallen der USA oder Chinas machen, stieß in Deutschland auf Unverständnis. Auch die Idee eines möglichen Einsatzes von Bodentruppen zur Absicherung eines Waffenstillstands in der Ukraine führte zu weiteren Differenzen. Symptomatisch ist die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung: Eine Untersuchung der Hertie School (2024) zeigte, dass die Arbeitsgruppe für Außen- und Sicherheitspolitik aufgrund unterschiedlicher Sichtweisen bis heute keinen gemeinsamen Bericht erstellen konnte.

 

Neustart?

Mit dem Amtsantritt von Bundeskanzler Friedrich Merz am 6. Mai 2025 schienen sich die verhärteten Fronten zumindest äußerlich zu lockern. Gemeinsame Auftritte mit Macron signalisierten gegenseitigen Respekt und persönliche Sympathie, die zuletzt unter Scholz gefehlt hatten. Entscheidend bleiben jedoch die Taten: Merz und Macron müssen zunächst einen gangbaren Weg für das Future Combat Air System (FCAS) finden. Dazu gehört, dass beide Länder ihre nationalen rüstungsindustriellen Ansprüche zurückfahren – ebenso beim Main Ground Combat System (MGCS). Deutschland sollte zudem das Ziel einer strategischen Autonomie Europas klar bekennen. Merz scheint den Dialog über französische Nuklearwaffen aktiv aufzugreifen, sodass auf konzeptioneller Ebene ein Arbeitsmodus entstehen könnte. Es bleibt abzuwarten, ob er seine Ankündigungen tatsächlich in konkrete Maßnahmen umsetzt.

 

Der Autor

David Isken (Copyright: privat)
David Isken (Copyright: privat)

David Isken studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Bonn. Am dortigen Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) war er zudem als administrativer Projektleiter tätig. Er ist Junior Fellow am Kölner Forum für Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik e. V. (KFIBS). Seine Forschungsinteressen liegen insbesondere in der deutschen und französischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in der GASP/GSVP sowie in der Analyse „strategischer Kulturen“ als zentralem Gegenstand der Außenpolitikforschung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dieser Beitrag wurde am 8. März 2025 im Rahmen eines Workshops für französische und deutsche Doktoranden vorgestellt, der gemeinsam vom Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (Universität Bonn) und dem Centre d’Excellence Jean Monnet (Universität Straßburg) organisiert wurde.

 

Mit Unterstützung der Deutsch-Französischen Hochschule und der Deutschen Sparkassenstiftung für internationale Kooperation e.V.

 

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