Die großen Fragen unserer Zeit:
Renten unter Druck

Vor wenigen Tagen hat Premierminister Sébastien Lecornu angekündigt, die Rentenreform von 2023 auszusetzen. dokdoc hat dies zum Anlass genommen, einen Blick auf die Rentensysteme diesseits und jenseits des Rheins zu werfen. Wie unterscheiden sich die Modelle in Deutschland und Frankreich – und warum stehen beide zunehmend unter Druck?
Jochen Pimpertz
Im Gegensatz zu Frankreich sind in Deutschland alle Arbeitnehmer in einer einheitlichen Rentenkasse versichert. Dennoch stehen die Systeme diesseits und jenseits des Rheins vor ähnlichen Herausforderungen.
Kennzeichnend für die deutsche Rentenversicherung ist ihr auf dem Leistungsprinzip beruhender Aufbau: Die Höhe der gesetzlichen Rente richtet sich nach der Dauer der Beitragszahlung und der Höhe des Einkommens. Für die Mehrheit der Rentner ist sie die wichtigste Einkommensquelle im Alter. Private Vorsorge dient vor allem der Sicherung des Lebensstandards. Da jedoch Teilzeitarbeit oder familienbedingte Erwerbspausen zu geringeren Rentenansprüchen führen, kann die gesetzliche Rente kein allgemeines Mindesteinkommen garantieren – diese Aufgabe übernimmt die steuerfinanzierte Sozialhilfe. Sie greift allerdings erst, wenn eigenes Einkommen, das des Ehepartners sowie vorhandenes Vermögen aufgebraucht sind.
Trotzdem wird die Rente in der politischen Debatte immer wieder für soziale Ziele instrumentalisiert – etwa mit der Forderung, sie müsse jeden Beitragszahler vor Altersarmut schützen. Solche Ansätze sind jedoch systemfremd und lenken vom eigentlichen Problem ab: der Demografie. Wie in Frankreich werden auch in Deutschland die Renten aus laufenden Beiträgen finanziert. Damit reagieren beide Systeme empfindlich auf steigende Lebenserwartung und sinkende Geburtenraten.
Die fortschreitende Alterung der geburtenstarken Jahrgänge erhöht den Druck zusätzlich: Die Babyboomer erreichen nach und nach das Rentenalter, die Zahl der Rentner wächst rasant, während nachrückende Generationen kleiner ausfallen. Immer weniger Beitragszahler müssen also immer mehr Renten finanzieren – vor allem über lohnabhängige Beiträge, die Arbeitnehmer und Arbeitgeber je zur Hälfte tragen. Steigende Beitragssätze bremsen jedoch das Wirtschaftswachstum und schwächen damit die Finanzierungsbasis der Sozialversicherung.

Mit den Reformen der frühen 2000er-Jahre sollte die Rentenversicherung langfristig demografiefest und finanzierbar werden. Renten sollten nicht mehr im gleichen Tempo steigen wie die Löhne, um die Ausgaben zu bremsen. Außerdem wird die Regelaltersgrenze seit 2012 schrittweise bis 2031 auf 67 Jahre angehoben. Doch von diesem Kurs ist die Politik in den 2010er-Jahren wieder abgewichen: Die Garantie des Rentenniveaus bis 2025 verhindert geringere Rentenanpassungen, zugleich wurden die Möglichkeiten für einen vorzeitigen Renteneintritt ausgeweitet.
Zwar müssen Arbeitnehmer bei einem früheren Rentenbeginn Abschläge hinnehmen – doch diese fallen zu niedrig aus. Wer 45 Versicherungsjahre vorweisen kann, bleibt sogar ganz verschont. Während französische Beschäftigte im Schnitt mit etwa 62 Jahren in den Ruhestand gehen, arbeiten Deutsche im Durchschnitt ungefähr zwei Jahre länger. Viele erreichen trotz höherer Regelaltersgrenze ihr Rentenalter also weiterhin nicht. Damit steht Deutschland heute wieder vor denselben Problemen wie zu Beginn der 2000er-Jahre.
Damals wie heute helfen nur unbequeme, aber wirksame Maßnahmen: Frühverrentungsanreize abbauen, das Rentenniveau regelgebunden senken und die Regelaltersgrenze weiter anheben. Dazu braucht es jedoch politischen Mut – und der ist in Berlin ebenso rar wie in Paris. Stattdessen plant die Bundesregierung, das aktuelle Rentenniveau sogar bis 2031 zu garantieren. Allein das verursacht in dieser Legislaturperiode zusätzliche Ausgaben von rund 50 Milliarden Euro. Diese sollen zwar aus Steuermitteln gedeckt werden, entlasten die Beitragszahler aber keineswegs. Im Gegenteil: Die Privilegien für Frühverrentung bleiben bestehen – mit der Folge, dass der Beitragssatz künftig noch schneller und stärker steigt.
Gleichzeitig soll eine sogenannte „Aktivrente“ helfen, den Arbeitskräftemangel zu mildern. Ein steuerfreier Hinzuverdienst von bis zu 2.000 Euro im Monat soll ältere Menschen motivieren, nach Renteneintritt weiterzuarbeiten. Da auf diese Einkommen aber keine Rentenbeiträge gezahlt werden, profitieren jüngere Generationen nicht. Ob das Modell überhaupt wirkt, bleibt fraglich. Sicher ist nur, dass vor allem jene davon profitieren, die ohnehin länger arbeiten – während es den Staat jährlich rund 2,8 Milliarden Euro kosten dürfte.
Henri Sterdyniak
Das französische Rentensystem gilt als vergleichsweise großzügig: Im Schnitt beträgt die Rente rund 67,5 % des durchschnittlichen Nettolohns, und der Lebensstandard der über 65-Jährigen unterscheidet sich kaum vom Rest der Bevölkerung. Das durchschnittliche Erwerbsende liegt bei 63,1 Jahren – in Deutschland und Italien jeweils bei 64,5 Jahren. Finanziert wird das System fast ausschließlich über Umlagebeiträge. 2023 machten die öffentlichen Rentenausgaben 13,8 % des Bruttoinlandsprodukts aus. Hinzu kamen 0,9 % an Sozialabgaben auf Renten. Da die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge in Rente gehen und die Lebenserwartung weiter steigt, dürfte der Anteil der über 62-Jährigen bis 2050 um etwa 28 % zunehmen – und damit auch die Ausgaben. Seit der Reform von 2008, die das Rentenalter von 60 auf 62 Jahre anhob, ist die Erwerbsquote der 55- bis 64-Jährigen zwar um 35 % gestiegen. Dennoch liegt die Beschäftigungsquote der 60- bis 64-Jährigen mit 45 % deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 56 % – in Deutschland bei 69 und in Schweden bei 74 %.

Die Vielzahl paralleler Systeme – von der allgemeinen Rentenversicherung über Beamtenpensionen bis hin zu Sonderregelungen großer Staatsbetriebe – lässt sich heute kaum noch rechtfertigen. Sie nährt das Gefühl sozialer Ungerechtigkeit. Ein einheitliches System wäre zwar gerechter, aber auch schwer umzusetzen. Die Reform von 2023, die das Rentenalter schrittweise auf 64 Jahre anheben sollte, wurde trotz massiver Proteste per Dekret beschlossen – inzwischen allerdings ausgesetzt. Vorgesehen waren u. a. eine Verlängerung der Beitragszeit auf 43 Jahre bis 2028 sowie eine Mindestrente von 85 % des Nettomindestlohns.
Die Renten werden im Wesentlichen durch Beiträge von rund 28 % des Lohns im Privatsektor finanziert. 2024 wiesen die Kassen zwar noch einen Überschuss von vier Milliarden Euro aus, doch der Staat übernimmt demografische Lasten in Höhe von rund 30 Milliarden Euro jährlich. Prognosen zufolge wird das durchschnittliche Erwerbsende bis 2039 auf 64,7 Jahre steigen, das Rentenniveau bis 2050 jedoch um mehr als 11 % sinken. In der aktuellen Debatte stehen drei Lager gegenüber:
– Verwaltung und Konservative lehnen höhere Beitragssätze ab. Ihrer Ansicht nach müssen langfristig sowohl ein niedrigeres Rentenniveau als auch ein höheres Rentenalter akzeptiert werden.
– Liberale Ökonomen plädieren für eine teilweise Kapitaldeckung, um Beitragssätze zu stabilisieren – allerdings nur durch erhebliche Sparanstrengungen und langfristige Umstellung.
– Gewerkschaften verteidigen ihrerseits den Renteneintritt mit 62 Jahren. Doch ein solches Rentenalter würde jährlich rund 25 Milliarden Euro kosten; die Stabilisierung des Rentenniveaus weitere 35 Milliarden – insgesamt also rund 2 % des BIP. Ob die Beschäftigten bereit wären, diese Last zu tragen, ist fraglich.
Letztlich kann jedes Land selbst entscheiden, wie es sein Rentensystem gestaltet – sofern es bereit ist, den Preis dafür zu zahlen. Doch angesichts konkurrierender Prioritäten wie Bildung, Verteidigung oder Klimaschutz gilt es, klug abzuwägen. Eine längere Erwerbstätigkeit ließe sich nur dann gesellschaftlich akzeptieren, wenn Arbeitsbedingungen, Karrierechancen und Arbeitnehmerrechte verbessert werden. Ebenso wichtig ist es, das Vertrauen der jungen Generation zu stärken – damit sie darauf bauen kann, später selbst eine verlässliche und faire Rente zu erhalten.
In unserer Reihe „Die großen Fragen unserer Zeit“ widmen sich Experten aus beiden Ländern den zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit.
Die Autoren
Jochen Pimpertz leitet im Institut der deutschen Wirtschaft Köln das Themencluster Staat, Steuern und Soziale Sicherung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den demografischen Herausforderungen der umlagefinanzierten Sozialversicherungen. Außerdem lehrt er volkswirtschaftliche Grundlagen der Gesundheitsökonomie an der Universität zu Köln.
Henri Sterdyniak, Absolvent der École Polytechnique und der ENSAE, ist Mitbegründer des OFCE (Observatoire français des Conjonctures Économiques) und der „Économistes Atterrés“. Er lehrte an der Universität Paris-Dauphine und an Sciences Po Paris und veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zu makroökonomischen und sozialpolitischen Themen. Zuletzt erschien „Penser l’Alternative“ (Fayard, 2024).
