Brüsseler Perspektive:
„Die EU trifft Vorsorge für den Fall eines Regierungswechsels in Frankreich“

Brüsseler Perspektive: „Die EU trifft Vorsorge für den Fall eines Regierungswechsels in Frankreich“
  • VeröffentlichtNovember 18, 2025
EP-Plenarsitzung anlässlich der Rede zur Lage der Union von Ursula von der Leyen, Brüssel, 10 September 2025 (Copyright: Europäische Union 2025/EP)
EP-Plenarsitzung anlässlich der Rede zur Lage der Union von Ursula von der Leyen, Brüssel, 10 September 2025 (Copyright: Europäische Union 2025/EP)

Sechs Monate sind seit dem Machtwechsel in Deutschland vergangen, achtzehn bleiben bis zur Präsidentschaftswahl in Frankreich. Was sich mit dem Amtsantritt von Friedrich Merz in Brüssel verändert hat – und wie die Europäische Union sich auf eine mögliche Kursänderung in Paris vorbereitet – darüber haben wir mit Thomas Gutschker gesprochen.

 

dokdoc: Sie sitzen seit Ende 2019 in Brüssel und beobachten aus nächster Nähe, wie Deutschland und Frankreich auf dem europäischen Parkett agieren. Wie haben Sie den Machtwechsel in Berlin erlebt? Ist Deutschland tatsächlich zur Gestaltungsmacht geworden, von der Friedrich Merz im Wahlkampf immer wieder sprach?

 

Thomas Gutschker: Der Start von Merz war beherzt. Das zeigt sich besonders auf zwei Feldern: Erstens hat sich Deutschland sehr früh hinter das neue NATO-Ausgabenziel gestellt: 3,5 % für harte Verteidigungsausgaben und zusätzlich 1,5 % für weitere sicherheitsrelevante Bereiche. Ein bedeutendes Signal, denn damit wird sich der deutsche Verteidigungshaushalt bis 2029 effektiv verdoppeln. Deutschland wird so zum größten militärischen Akteur in Europa – zumindest bei konventionellen Fähigkeiten – noch vor Frankreich. Zweitens setzte der Bundeskanzler von Anfang an einen klaren Akzent in der europäischen Politik. Für ihn ist die Entbürokratisierung zentral. Er ist überzeugt, dass die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen nur durch eine deutliche Verschlankung der europäischen Gesetzgebung wiederhergestellt werden kann. Eine bemerkenswerte Herausforderung, wenn man bedenkt, dass die Kommissionspräsidentin aus Deutschland kommt und an der Spitze dieser „Gesetzgebungsmaschine“ steht.

 

dokdoc: Und wenn man nun den Blick nach Frankreich richtet: Wie hat sich die Wahl von Friedrich Merz auf die deutsch-französische Zusammenarbeit in Brüssel ausgewirkt?

 

Gutschker: Das persönliche Verhältnis zwischen Merz und Macron ist offenbar sehr gut. Das war ein großes Problem, solange Olaf Scholz noch Bundeskanzler war: Scholz hatte schlicht kein Verhältnis zu Macron. Beide hatten ein völlig unterschiedliches Naturell und fanden nie wirklich zueinander. Die Diplomaten waren ständig damit beschäftigt, Missverständnisse auszuräumen und überhaupt eine Gesprächsbasis herzustellen. Mit Merz ist das grundlegend anders. Er hat früh die Nähe zu Macron gesucht. Die Auswirkungen in Brüssel zeigten sich schnell: Erstmals seit langer Zeit gab es wieder ein deutsch-französisches gemeinsames Papier. Es sollte das informelle Gipfeltreffen in Kopenhagen vorbereiten, bei dem die Rolle der EU und ihrer Institutionen in der Verteidigungsplanung auf der Agenda stand.

 

dokdoc: Können Sie das erläutern?

 

Gutschker: Deutschland und Frankreich haben sich in diesem Papier klar positioniert – und zwar in einer Weise, die die Pläne der Kommission durchkreuzte. Die Kommission wollte sich Mitsprache in der Verteidigungsplanung sichern: Prioritäten setzen und Fortschritte der Mitgliedstaaten regelmäßig bewerten. Dafür gibt es aber keine vertragliche Grundlage. Deutschland und Frankreich haben deutlich gemacht, dass sie damit nicht einverstanden sind – und sie haben beim regulären Gipfeltreffen Ende Oktober durchgesetzt, dass die Zusammenarbeit weitgehend intergouvernemental bleiben wird.

 

Roberta Metsola und Friedrich Merz beim Europäischen Rat in Brüssel, 26. Juni 2025(Copyright: Europäische Union 2025/EP)
Roberta Metsola und Friedrich Merz beim Europäischen Rat in Brüssel, 26. Juni 2025
(Copyright: Europäische Union 2025/EP)

 

dokdoc: Friedrich Merz hat im Wahlkampf viel über Polen gesprochen und einen Freundschaftsvertrag in Aussicht gestellt. Im Koalitionsvertrag heißt es zudem: „Im Weimarer Dreieck werden wir die enge Abstimmung zu allen relevanten Fragen der Europapolitik suchen, um im Dienst der ganzen EU geeinter zu handeln.“ Lässt sich davon in Brüssel bereits etwas spüren?

 

Gutschker: Die Wahl des polnischen Präsidenten Karol Nawrocki stellt einen Rückschlag dar. In der Außenpolitik sind die Kompetenzen zwischen Präsident und Ministerpräsident geteilt: Zu europäischen Räten reist der Ministerpräsident, zu NATO-Gipfeln der Präsident. Das erschwert die Zusammenarbeit im Weimarer Dreieck, insbesondere auf der Ebene des polnischen Präsidenten. Hinzu kommt, dass ein polnischer Nationalist wie Nawrocki wenig Interesse daran hat, sich durch eine gute Kooperation mit Deutschland zu profilieren. Stattdessen verfolgt er das Ziel, historische Konflikte aufzuwärmen – etwa Forderungen nach Reparationszahlungen –, um damit die eigene politische Basis zu mobilisieren.

 

dokdoc: Herr Gutschker, Frankreich steckt seit anderthalb Jahren in einer politischen Sackgasse. Emmanuel Macron ist geschwächt; nur noch elf Prozent der Franzosen stimmen seiner Arbeit zu. Wie blickt man in Brüssel auf Frankreich?

 

Gutschker: Mit großer Besorgnis. Die Umfragen aus Frankreich werden in Brüssel sehr genau verfolgt. Sollte das Berufungsverfahren dazu führen, dass Marine Le Pen nicht länger sofort unwählbar ist, wäre das ein Rückschlag für das Rassemblement National. Die Partei müsste dann einen Führungskonflikt zwischen zwei inzwischen einflussreichen Persönlichkeiten austragen. Fest steht: Über Frankreich liegt derzeit große Unsicherheit – sei es bei der Haushaltskonsolidierung, der finanziellen Unterstützung der Ukraine oder der geplanten Erhöhung der Verteidigungsausgaben.

 

dokdoc: Emmanuel Macron galt lange als intellektueller Anführer Europas. Wie relevant ist seine Stimme – und die Frankreichs – in Brüssel heute noch?

 

Gutschker: Macron wird respektiert und bringt viel Erfahrung im Europäischen Rat sowie gute Beziehungen zu anderen Regierungschefs mit. Gleichzeitig hat er erkannt, dass Frankreich politisch an Einfluss verlieren würde, wenn das Land seinen Verschuldungskurs unbegrenzt fortsetzt.

 

dokdoc: Der französische Präsident und der Bundeskanzler haben zuletzt viel angekündigt, doch in zentralen strategischen Fragen – Stichwort Naher Osten – verfolgen sie teils unterschiedliche Kurse, und in anderen Bereichen – Stichwort Ukraine – scheint sich wenig verändert zu haben. Ist der viel beschworene deutsch-französische Schulterschluss also mehr als Symbolpolitik?

 

Gutschker: Es gibt das Potential für echte Zusammenarbeit, zum Beispiel bei der EU-Erweiterung. 2023 vollzog Macron hier einen wichtigen strategischen Kurswechsel: In Bratislava machte er deutlich, dass er die Erweiterung der EU als geopolitische Notwendigkeit betrachtet und es in Europa keine Grauzonen geben dürfe. Das war ein wichtiges Signal aus einem Land, das in dieser Frage zuvor besonders stark auf der Bremse gestanden hatte. Wir müssen zudem bedenken, dass die EU-Erweiterung in den nächsten zwei Jahren reale Entscheidungen erfordert. Voraussichtlich werden die Verhandlungen mit Montenegro und Albanien abgeschlossen sein; anschließend geht es darum, einen Erweiterungsvertrag zu schließen, der wiederum ratifiziert werden muss. Ähnliches gilt für die Unterstützung der Ukraine. In Paris wie in Berlin herrscht große Sorge, dass ein amerikanischer Präsident sich mit dem russischen Präsidenten separat über das Schicksal Europas verständigen könnte. Um dies zu verhindern, versuchen Deutschland und Frankreich – teils in einem Spiel mit verteilten Rollen, aber dennoch in strategischer Übereinstimmung – auf Trump einzuwirken.

 

Friedrich Merz und Emmanuel Macron beim Europäischen Gipfel am 23. Oktober 2025 in Brüssel (Copyright: Alamy)
Friedrich Merz und Emmanuel Macron beim Europäischen Gipfel am 23. Oktober 2025 in Brüssel (Copyright: Alamy)

 

dokdoc: Dass der Rassemblement National 2025 an die Macht kommt, ist in den vergangenen Monaten wahrscheinlicher geworden. Frankreich ist nicht die Niederlande: Ein Wahlsieg der Rechtsextremisten hätte erhebliche Auswirkungen auf die EU und ihre Handlungsfähigkeit. Wie bereitet sich Brüssel auf ein solches Szenario vor?

 

Gutschker: Vielleicht ist das beste Beispiel dafür der mehrjährige Finanzrahmen. Die Kommission hat sich vorgenommen, die Verhandlungen bis Ende 2026 abzuschließen. Der neue Finanzrahmen soll am 1. Januar 2028 in Kraft treten – dazwischen liegt ein ganzes Jahr. Beim letzten Mal wurde erst in letzter Minute Einigkeit erzielt. Die Kommission argumentiert, dass dadurch die Verabschiedung der Rechtsgrundlagen für die einzelnen Programme verzögert wurde, was wiederum dazu führt, dass bis Ende 2027 voraussichtlich ein Viertel der Haushaltsmittel nicht ausgegeben sein wird. Um dies beim nächsten Mal zu vermeiden und die Mittel vom ersten Tag an zuzuweisen, braucht es mehr Vorbereitungszeit. Dahinter steht aber auch eine politische Überlegung: Der neue Finanzrahmen soll unbedingt vor der Präsidentenwahl in Frankreich im Frühjahr 2027 abgeschlossen sein, denn ein Sieg des RN könnte alle Verhandlungen torpedieren und Europa in erhebliche Turbulenzen stürzen. Gelingt es, die entscheidende Weichenstellung noch unter Macrons Präsidentschaft vorzunehmen, wäre eine zentrale Absicherung geschaffen. Sobald der Finanzrahmen steht, können die anschließend jährlich zu beschließenden Haushalte mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden – Frankreich wäre dafür nicht zwingend erforderlich.

 

dokdoc: In einer Rede in Oviedo am 25. Oktober warnte Mario Draghi, die EU müsse sich radikal modernisieren, sonst verliere sie ihre wirtschaftliche und politische Bedeutung. Sind Sie zuversichtlich, dass ihr das gelingt?

 

Gutschker: Ich bin zuversichtlich, dass das Bewusstsein der europäischen Akteure für die neue strategische Lage ausgeprägt ist. Europa hat in den letzten Monaten zwei Illusionen verloren. Erstens, dass man sich in Verteidigungsfragen verlässlich auf die USA stützen könne. Zweitens, dass man in der Handelspolitik eine Großmacht sei und mit China und den USA auf Augenhöhe agieren könne. Die zweite Illusion wurde durch Donald Trumps „Zolldeal“ zerstört: Die Europäer mussten einseitigen Zöllen von 15 % zustimmen, während amerikanische Waren zollfrei in die EU gelangen können. Wegen der sicherheitspolitischen Abhängigkeit von Washington konnte Brüssel seine wirtschaftlichen Druckmittel gar nicht einsetzen. So wurde deutlich, wie eng Handels- und Sicherheitspolitik verknüpft sind. Auch gegenüber China hat sich das Problembewusstsein geschärft: Exportbeschränkungen für Rohstoffe und Halbleiter zeigen, wie abhängig und verletzlich europäische Lieferketten sind. Europa muss handeln: Lieferketten diversifizieren, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stärken und Verteidigungskapazitäten ausbauen. Der Handlungsdruck ist hoch, das Bewusstsein dafür groß – wie weit der politische Atem reicht, hängt jedoch von den kommenden Wahlen in den Mitgliedstaaten ab.

 

dokdoc: Herr Gutschker, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

 

Die Fragen stellte Landry Charrier

 

Unser Gast

Copyright: Thomas Gutschker/FAZ
Copyright: Thomas Gutschker/FAZ

Thomas Gutschker ist politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Brüssel für die EU, die NATO und die Benelux-Staaten.

 

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