Zwischen Staat und Religion:
Laizität im Spiegel der Geschichte

Zwischen Staat und Religion: Laizität im Spiegel der Geschichte
  • VeröffentlichtDezember 9, 2025
Fronton der Kirche von Montlouis im Département Cher (Copyright: Gérard Foussier)
Fronton der Kirche von Montlouis im Département Cher (Copyright: Gérard Foussier)

Vor genau 120 Jahren verabschiedete Frankreich das Gesetz, das die Grundsätze der Laizität festschreibt. Damit bestätigte der Staat die bereits in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 verankerte Gewissensfreiheit sowie das Recht auf freie Religionsausübung. Ein Thema, das bis heute kontroverse Debatten auslöst – weit über die Grenzen Frankreichs hinaus.

 

In Deutschland gibt es zwar keine offiziellen Umfragen dazu, wie die Bevölkerung zur Laizität steht, doch ein Gedankenexperiment lohnt sich: Fragt man hierzulande nach einer passenden deutschen Übersetzung, stößt man häufig auf ratlose Blicke – oder hört vage Formulierungen über die Trennung von Kirche und Staat. Wer sich etwas besser auskennt, greift meist zu den Begriffen Laizität oder Laizismus, kann jedoch die feine, aber entscheidende Differenz selten erklären. Der Grund liegt nahe: Das französische Verständnis von Laizität – bei allen möglichen Auslegungen – hat in Deutschland kein wirkliches Pendant. Zwar gibt es keine Staatskirche, doch garantiert das Grundgesetz von 1949 die Neutralität des Staates und regelt zugleich eine institutionalisierte Zusammenarbeit mit Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts – einschließlich finanzieller Förderung.
Im 16. Jahrhundert versuchte Kaiser Karl V. vergeblich, die katholische Religion mit Waffengewalt durchzusetzen. Erst der Augsburger Religionsfrieden von 1555 beendete die konfessionellen Auseinandersetzungen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und führte das Prinzip cuius regio, eius religio ein: Die Religion des Herrschers galt automatisch für seine Untertanen. Diese Regelung blieb bis zum Wiener Kongress 1815 in Kraft. Als Frankreich 1905 die strikte Trennung von Kirche und Staat einführte, stieß dieses Konzept in Deutschland auf geringe Zustimmung. Stattdessen entschied man sich bewusst für ein kooperatives Modell – ohne offiziell festgelegte Staatsreligionen. An dieser Grundhaltung hat sich bis heute nichts geändert.

 

Laizität oder Laizismus? Die feinen Unterschiede

Doch wie lässt sich laïcité korrekt übersetzen – mit Laizität oder Laizismus? Ersteres bezeichnet ein juristisches und politisches Prinzip, letzteres eine ideologische Haltung. Während Laizität für die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen bei staatlicher Neutralität steht, geht Laizismus weiter: Er strebt eine konsequente Zurückdrängung religiöser Bezüge aus dem öffentlichen Leben an – bis hin zur völligen Privatisierung des Religiösen. Eine feine, aber entscheidende Unterscheidung, die im Alltag häufig übersehen wird.
Die französische Formulierung von August 1789 – „Die Menschen sind von Geburt an frei und gleich an Rechten“ – machte zugleich deutlich: „Von der Republik wird kein Kultus anerkannt, besoldet oder subventioniert.“ Damit entfielen sämtliche staatlichen Ausgaben für religiöse Aktivitäten. Das Gesetz vom 9. Dezember 1905 ergänzte dies um das Prinzip der Gewissensfreiheit und das Recht auf freie Religionsausübung. Die Verfassung von 1946, übernommen in die von 1958, definiert Frankreich als „unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik“, die alle Glaubensrichtungen respektiert. So viel zur Theorie – in der Praxis zeigt sich jedoch ein deutlich komplexeres Bild.

Geschichte und politische Debatten

Seit rund einem halben Jahrhundert sorgen gesellschaftliche Veränderungen, Forderungen von Minderheiten im Kontext des Multikulturalismus und Versuche, das Prinzip der Laizität an neue Realitäten anzupassen, für intensive Debatten. 2003 ließ der Premierminister sogar einen Bericht zur „neuen Laizität“ erstellen – den manche letztlich als Versuch einer gesellschaftlichen Säkularisierung interpretieren. Hinzu kommen regionale Ausnahmen, etwa im Elsass oder in Französisch-Guayana. Dort bestehen noch staatliche Strukturen aus der Zeit vor 1905 fort: Geistliche werden weiterhin von der öffentlichen Hand bezahlt. 2021 sorgte in Straßburg sogar die Diskussion um staatliche Mittel für den Bau von Moscheen für Aufsehen.

 

Ferdinand Buisson im Jahr 1932 (Copyright: Wikimedia Commons)
Ferdinand Buisson im Jahr 1932 (Copyright: Wikimedia Commons)

Kein Wunder, dass viele Franzosen beim Versuch, Laizität zu definieren, ins Stocken geraten. Den Begriff prägte 1871 Ferdinand Buisson, später Mitbegründer der Ligue des Droits de l’Homme. 1927 erhielt er für sein Engagement den Friedensnobelpreis – gemeinsam mit dem deutschen Pazifisten Ludwig Quidde, der in Deutschland sogar mit einer Briefmarke geehrt wurde. In Frankreich hingegen wartet Buisson bis heute auf eine vergleichbare Würdigung.
Jean-Jacques Rousseau und andere Philosophen der Aufklärung betrachteten Freiheit und Gleichheit als untrennbar. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts verband der Philosoph und Erzbischof François Fénelon auch die Brüderlichkeit mit diesen Prinzipien. Zu Beginn der Revolution brachte Maximilien de Robespierre den Slogan Liberté, Égalité, Fraternité ein, der zunächst nicht offiziell übernommen wurde. Während der Terrorherrschaft erschien er zeitweise in einer radikalisierten Form: Unité, indivisibilité de la République; Liberté, Égalité, Fraternité ou la mort.

 

Stich aus dem Jahr 1793 (Copyright: Wikimedia Commons)
Stich aus dem Jahr 1793 (Copyright: Wikimedia Commons)

Unter Napoleon geriet die Devise zunächst etwas in Vergessenheit, tauchte jedoch in der Präambel der Verfassung von 1848 wieder auf und wurde zur offiziellen Losung der Republik. Im Zweiten Kaiserreich war sie erneut verpönt. Während der Dritten Republik wurde die Devise wieder aufgegriffen und schließlich in der heutigen Verfassung von 1958 verankert. Zuvor hatte das Vichy-Regime 1940 mit Arbeit, Familie, Vaterland eine alternative Losung eingeführt, die bereits ein Jahr später von General de Gaulle kritisiert und nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 endgültig verworfen wurde.

Ein Motto geht um die Welt

Inzwischen wird das französische Motto weltweit zitiert – oft sogar unübersetzt, insbesondere in der Werbung. Gelegentlich wird dabei „Brüderlichkeit“ durch „Solidarität“ ersetzt, was Alexis de Tocqueville gefallen hätte, der die Spannung zwischen Gleichheit und Freiheit analysierte. In Deutschland sorgten die Grünen im Europawahlkampf 2019 für Diskussionen, als sie aus Gründen der Gleichstellung „Brüderlichkeit“ durch „Schwesterlichkeit“ ersetzen wollten. Die französische Übersetzung – Sororité – setzte sich jedoch nicht durch. Und das lag nicht nur daran, dass plötzlich die Brüder fehlten. Mit dem Gesetz von 1905 änderte sich die Rolle der Kirche in Frankreich grundlegend. Kirchengebäude gingen – mit Ausnahme der Kathedralen – in kommunales Eigentum über, und Geistliche verloren ihren Status als Staatsbedienstete. Einige Gemeinden nutzten die neu gewonnene Verfügungshoheit, um über den Kirchentüren das republikanische Motto anzubringen. Rund hundert solcher Beispiele sind bis heute erhalten, vor allem in Okzitanien – deutlich seltener hingegen in traditionell katholischen Regionen wie der Bretagne oder Korsika und nahezu gar nicht im Elsass, das 1905 unter deutscher Verwaltung stand.

Édouard Combes, der „Vater“ des Gesetzes vom 9. Dezember 1905 zur Trennung von Kirche und Staat (Copyright: Wikimedia Commons)
Édouard Combes, der „Vater“ des Gesetzes vom 9. Dezember 1905 zur Trennung von Kirche und Staat (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Ganz anders in Deutschland: Zwar gibt es auch hier einen prägnanten Dreiklang – Einigkeit und Recht und Freiheit –, doch handelt es sich weder um eine Staatsdevise noch um einen religiösen Spruch, sondern um die erste Zeile der dritten Strophe des „Liedes der Deutschen“. Ursprünglich komponierte Joseph Haydn das Stück 1797 als Geburtstagslied für Kaiser Franz II., unter dem Titel Gott erhalte Franz den Kaiser – vergleichbar mit dem britischen God Save the King.

Kirchen und öffentliche Räume

Heute äußern sich Katholiken und Protestanten in Deutschland meist im Rahmen gesellschaftlicher Verantwortung – etwa zu Würde, Nächstenliebe oder Solidarität.

 

Zusammenstellung patriotischer Kirchenfenster (Copyright: Gérard Foussier)
Zusammenstellung patriotischer Kirchenfenster (Copyright: Gérard Foussier)

Die französische Devise bleibt dabei weitgehend Thema außerhalb sakraler Räume. Zwar finden sich in vielen Kirchen Gedenktafeln mit demokratischen Bezügen neben Bibelzitaten oder religiösen Symbolen, doch republikanische Parolen gehören ebenso wenig an deutsche Kirchenportale wie politische Motive in Kirchenfenstern. Französische Gotteshäuser hingegen scheuen nicht davor zurück, historische Ereignisse des 19. und 20. Jahrhunderts – bis hin zu Szenen aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern – in sogenannten Kriegs- oder patriotischen Fenstern darzustellen. In deutschen Kirchen verzichtet man weitgehend darauf; wo doch Anklänge vorkommen, etwa in Bochum, werden sie rein symbolisch umgesetzt – durch Licht, Formen oder Abstraktion.

 

Der Autor

Gérard Foussier (Copyright: privat)

Gérard Foussier schloss 1969 sein Germanistikstudium an der Universität seiner Heimatstadt Orléans ab, und entdeckte durch die Städtepartnerschaft mit Münster in Westfalen seine Leidenschaft für die deutsch-französischen Beziehungen. Nach seiner Journalistenausbildung bei den Westfälischen Nachrichten arbeitete er drei Jahrzehnte lang für den deutschen Auslandssender Deutsche Welle – zunächst in Köln, später in Bonn. 2005 wurde er zum Präsidenten des Bureau International de Liaison et de Documentation (B.I.L.D.) gewählt. Dreizehn Jahre lang leitete er die zweisprachige Zeitschrift Dokumente/Documents als Chefredakteur und ist Autor mehrerer Bücher. Sein jüngstes Werk, „Allemanderies“, erschien im Januar 2023. Gérard Foussier besitzt die doppelte Staatsbürgerschaft und wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

 

 

 

 

 

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