M…rde alors!
Ein kleines Wort mit großer Wirkung

Schimpfwörter lernt man in einer Fremdsprache meist erstaunlich schnell. Cokoriki hat sich das wohl berühmteste französische Schimpfwörter einmal genauer angesehen: merde!
Als ich 1989 nach Frankreich kam, war merde, neben tu es fou? das einzige Schimpfwort, das ich kannte. Doch wer braucht schon Schimpfwörter und Fäkalsprache, wenn man im Land der schönen Künste lebt, einem Land, in dem Politiker Bücher schreiben (ganz zu schweigen von einem Präsidenten, der über seinen dreiwöchigen Gefängnisaufenthalt ein Buch geschrieben hat – Le journal d’un prisonnier von Nicolas Sarkozy erscheint am 10. Dezember pünktlich zu Weihnachten) und die hohe Kunst der Sprache pflegen? So dachte ich zumindest ganz naiv. Ich hätte nicht vermutet, dass mir ausgerechnet dieses Fäkalwort immer wieder begegnen würde, in den unterschiedlichsten Variationen und Bedeutungen – und ausgerechnet aus dem Mund von Menschen, von denen ich es nicht erwartet hätte.
Die Frau, die niemals merde sagte
Während meines Au-Pair-Jahres besuchte ich Französischkurse am Institut Catholique de Paris, wo meine Lehrerin, Madame Marie-Hélène Rolland-Gosselin, einer bunt gemischten Gruppe aus Kanadiern, Italienern, Holländern, Schweden und zahlreichen Deutschen solche Besonderheiten wie das passé simple oder den subjonctif beizubringen versuchte. Besonderen Wert legte sie auf die korrekte Aussprache, was schon mit ihrem Namen anfing, der eine echte Herausforderung für uns alle war: das stumme h bei Hélène, die Nasallaute an und in im Nachnamen – Mundakrobatik pur! In ihrem Unterricht war es streng verboten, verneinte Sätze ohne ne zu bilden, und niemand wagte, ein umgangssprachliches ouais statt des spitzen, korrekten oui zu verwenden. Wenn sie sich ärgerte, sagte sie flûte – niemals merde! Und natürlich ahmten wir das sofort nach.
Pferdeäpfel bringen Glück
Auch in meiner Gastfamilie waren Schimpfwörter tabu. Wann immer ein Erwachsener eines benutzte und die beiden Jungs es hörten, kamen sie mit der Spardose angerannt: Ein Schimpfwort kostete einen Franc. Umso erstaunter war ich, als mir die gesamte Familie eines Morgens, kurz bevor ich zu einer Prüfung aufbrach, hinterherrief: Merde! Alle lachten dazu und sahen mich ermunternd an. Ich war verwirrt. Wünschten sie mir ernsthaft „Scheiße“ für mein Examen? Die Frage ließ mich nicht los, und so ging ich nach der Prüfung zu Madame Rolland-Gosselin:
– „Oui, Franck“ (ja, ja – immer mit „ck“ für die Franzosen), „vous avez une question?“
– „Ouai… pardon, oui Madame. C’est un peu compliqué… Ma famille d’accueil m’a dit quelque chose ce matin que je ne comprends pas…“
– „Et donc?“
– „Quand je suis parti de la maison pour passer mon examen de français, ils ont tous dit un gros mot… il commence par ‚m‘ et se termine par ‚erde‘“.

Sie lachte herzhaft und erklärte mir die Bedeutung: Man sagt das, wenn man jemandem Glück wünschen will. Ursprünglich kommt der Ausdruck aus dem Theatermilieu, denn wünscht man einem Schauspieler merde, dann hofft man für ihn, dass viele Kutschen vor dem Theater anhalten, um Zuschauer abzusetzen. Viele Kutschen bedeuten viele Pferde, und viele Pferde bedeuten zwangsläufig viele Pferdehaufen – also merde. Je mehr davon, desto größer das Publikum und somit umso größer der Erfolg.
Ein Präsident und ein umstrittenes Verb
Viele Jahre später, am 5. Januar 2022 hatten sich die Rollen geändert, denn diesmal war ich der Lehrer und meine Schüler des französischen Außenministeriums kamen mit folgender Frage zu mir: Wie übersetzt man „emmerder quelqu’un?“ In einem Interview mit Le Parisien hatte der französische Staatspräsident nämlich gesagt: „Les non-vaccinés, j’ai très envie de les emmerder.“ Er wolle Ungeimpfte bis zum Schluss „emmerder“. Ganz Paris, nein, ganz Frankreich – Madame Marie-Hélène Rolland-Gosselin drehte sich vor lauter Empörtheit sicher im Grabe herum – stritt darüber, ob sich ein Präsident eines solchen Ausdrucks bedienen dürfe.

Die internationale Presse stand übrigens vor dem gleichen Problem wie ich: Wie sollte man das wohl übersetzen? Meine Recherchen ergaben Folgendes: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung entschied sich für „den Ungeimpften auf den Wecker gehen“, die Süddeutsche Zeitung für „auf den Sack gehen“, die Bild für „wirklich schikanieren“. Die SZ hat es wohl am genausten getroffen. Auch die ausländischen Korrespondenten, nicht nur die deutschen, sahen sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, den Sinn zu übertragen, ohne den doch recht vulgären Charakter zu verlieren. Die englischsprachige Presse schwankte zwischen to annoy, to bug, to hassle oder to piss off, während die italienische Repubblica auf far arrabbiare (jemanden nerven) und das spanische El País auf fastidiar (jemanden ärgern) setzte.
Waterloo und „das Wort von Cambronne“
Wird Emmanuel Macron mit diesem Ausdruck in die Geschichte eingehen? Wohl kaum. Anders jedoch ein General von Napoleon: Als der Empereur erkannte, dass sich die Schlacht von Waterloo zu seinen Ungunsten entwickelte, setzte er seinen letzten Trumpf ein, die Kaiserliche Garde unter General Pierre Cambronne. Sie stellte sich den Truppen Wellingtons entgegen – doch der Feind war übermächtig. Der englische General Colville forderte die letzten französischen Soldaten zur Kapitulation auf, für Cambronne eine unerträgliche Schmach. Und so habe er geantwortet: „La garde meurt mais ne se rend pas“ („Die Garde stirbt, ergibt sich aber nicht“). Auf eine weitere Aufforderung soll er nur ein einziges Wort erwidert haben: „Merde!“ Ob Cambronne das wirklich gesagt hat, ist ungewiss – selbst wenn Victor Hugo es in Les Misérables so überlieferte. Die Legende war aber geboren und wurde Teil der Geschichte. In besonders vornehmen Kreisen nennt man das Wort bis heute übrigens le mot de Cambronne, um es nicht auszusprechen

Übrigens: Will man so richtig schimpfen, dann bietet die französische Sprache zahlreiche Ausdrücke, die das Wort merde enthalten, man zählt bis zu 70. Sie alle hier aufzulisten, das ginge dann doch zu weit, denn Cokoriki möchte ja nicht, dass sich die Leser s’emmerdent. Emmerder als reflexives Verb bedeutet nämlich: sich zu Tode langweilen.
Der Autor

Der in Hessen geborene Frank Gröninger wohnt seit 1993 in Paris, wo er als Lehrer für Deutsch und interkulturelle Beziehungen unter anderem für das französische Außenministerium und Sciences Po, dem Institut für politische Wissenschaften arbeitet. 2021 erschien sein Buch „Douce Frankreich: die Abenteuer eines Deutschen in Paris“, sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, 2022 sein zweites Buch, „Dessine-moi un(e) Allemand(e)“.
