Stolpersteine in Frankreich
„Nichts wirkt stärker, als Schüler zu Akteuren ihrer eigenen Erinnerung zu machen.“
21. Mai 2024
Man findet sie in vielen deutschen und europäischen Städten: Stolpersteine – Messingtafeln am Boden mit den Namen von NS-Opfern. Heute liegen über 105 000 davon in über 30 Staaten, darunter Frankreich. Darüber haben wir mit Christophe Woehrle, dem Initiator des Projekts Stolpersteine in Frankreich gesprochen.
dokdoc: Wer ist Christophe Woehrle und was hat ihn dazu bewogen, den Verein Stolpersteine in Frankreich zu gründen?
Christophe Woehrle: Christophe Woehrle ist ein Mann, der mit 40 Jahren nach einem gesundheitlichen Vorfall sein Studium wieder aufgenommen und dann in Bamberg sein gesamtes Geschichtsstudium bis zur Promotion absolviert hat. Bamberg spielte eine zentrale Rolle für mein Vorgehen: Von dort stammt mein Interesse an den Stolpersteinen und dort hat alles begonnen. Der erste Stolperstein, den ich verlegen ließ, ehrte das Andenken eines französischen Kriegsgefangenen, das war 2012. Am Tag der Verlegung fragte ich Gunter Demnig, der zu diesem Anlass gekommen war: Aber warum wird dieser Stolperstein nicht in Frankreich verlegt? Daraufhin erzählte er mir von seinen Schwierigkeiten, das Projekt in Frankreich umzusetzen. Darauf folgte der zweite Stolperstein, der zugleich in Bamberg und in Coux bei Bordeaux verlegt wurde. Bordeaux war für mich strategisch wichtig, denn die Stadt hat eine Städtepartnerschaft mit München, wo man sich heute noch gegen solche Aktionen stemmt. Von 2013 bis 2020 habe ich das ehrenamtlich gemacht. Aber dann nahm das Projekt so große Dimensionen an, dass ich letztendlich den Verein Stolpersteine in Frankreich gründete. Da bin ich immer noch ehrenamtlich tätig, aber zumindest gebe ich nicht mehr mein eigenes Geld für Reisen aus.
dokdoc: Sie sprachen über den Widerstand der Stadt München. Haben sich die Dinge zwischenzeitlich geändert?
Woehrle: Nein, leider nicht. Offensichtlich liegt das am Widerstand einer einzigen Person, einer Stadträtin. Ihr Argument ist hinlänglich bekannt: Man könnte auf die Steine treten. Ich nehme das zur Kenntnis, ich respektiere es, aber ich muss zugeben, dass ich es nur schwer verstehen kann. Warum können Menschen, die dagegen sind, Menschen, die dafür sind, daran hindern, es zu tun? In München wurden die vielen Stolpersteine, die man in der Stadt sehen kann, auf Privatgrundstücken verlegt.
dokdoc: In Frankreich wurden die ersten Stolpersteine 2013 im Département Vienne verlegt. Von wem ging die Initiative aus?
Woehrle: Das Projekt im Departement Vienne ging ursprünglich zurück auf die Privatinitiative eines ehemaligen Mitglieds des Pflichtarbeitsdienstes des Vichy-Regimes (Service du travail obligatoire, STO). Dieser Herr Louis Deslandes hatte während eines Bombenangriffs viele Freunde verloren. Das Ganze blieb sehr diskret. Niemand nahm das seinerzeit in Frankreich zur Kenntnis. Die Absicht, überall in Frankreich Stolpersteine zu verlegen, hatte ich erst 2015. Heute haben wir es geschafft.
dokdoc: Warum hat es dann so lange gedauert?
Woehrle: Sie fragen mich letztlich, warum es stockte. Weil Frankreich eine andere Erinnerungskultur hat als Deutschland. Hier in Frankreich hängt man sehr an den Gefallenendenkmälern an zentralen Orten. Die Erinnerung „dezentralisieren“ zu wollen, stört wohl eher. Es stört auch, Dinge in den öffentlichen Raum einzubringen, die man vielleicht nicht sehen möchte. Man hat uns den Laizismus entgegengehalten und uns gesagt: Stolpersteine sind für Juden, also kann man sie in Frankreich nicht verlegen. Deshalb begann ich mit den Kriegsgefangenen, gerade um der französischen Bevölkerung zu zeigen, dass unser Projekt allen Opfern des Nationalsozialismus gewidmet ist, nicht nur den Juden; denn es darf keine Hierarchie unter den Opfern geben, Opfer ist Opfer, Punkt. Geografisch gesehen ist das Elsass heute vorherrschend. Natürlich gibt es immer noch Orte, wo wir nicht vorankommen, und andere, an denen die Verlegung schließlich gelingt. Trotz der Vorbehalte im Südosten haben sich Gemeinden wie Vendargues oder auch Saint-Raphaël für das Projekt engagiert. Auch in der Umgebung von Paris beginnt man mit der Verlegung. In Paris selbst geschieht dies auf privatem Grund und Boden.
dokdoc: Sie führen auch selbst biografische und historische Recherchen durch, und zwar für jedes Opfer. Wie gehen Sie dabei vor? Warten Sie ab, bis Sie von den Familien angesprochen werden, oder gehen Sie dies proaktiv an?
Woehrle: Am Anfang war ich es, der die Initiative ergriff, zu den Rathäusern ging und sagte: Ich habe einen Parcours entdeckt, wir müssen bei euch Stolpersteine verlegen, wir arbeiten mit den Schulen zusammen. So konnte ich die Rathäuser für das Projekt gewinnen. Und so ist es auch geblieben: Für mich gibt es kein Verlegen von Stolpersteinen ohne pädagogische Arbeit. Heute führen andere Vereine ähnliche Aktionen durch, die Pavés de la mémoire in Rouen zum Beispiel, Lille-Fives und andere, und das ist auch gut so. Wir beanspruchen kein Monopol für uns.
dokdoc: Und wie gehen Sie bei den Recherchen vor?
Woehrle: In Frankreich haben wir das Glück, dass wir in Caen in der Division des archives des victimes des conflits contemporains, der Abteilung für Opfer zeitgenössischer Konflikte, einen wahren Fundus haben. Alle Archive über die Opfer des Zweiten Weltkriegs sind dort zentralisiert: So brauchen wir nicht in allen Himmelsrichtungen zu suchen. Ich gehe regelmäßig dorthin, um mir die Akten der Opfer anzusehen, mit denen ich dann pädagogische Dossiers erstelle. Ich rekonstruiere ihren Lebensweg, entwerfe Texte für Stolpersteine, ermittele ihre Adressen und versuche, Verbindungen zu den Familien aufzunehmen.
dokdoc: Wie reagieren Städte und Gemeinden auf die Anfragen des Vereins? Welche Rolle spielt die politische Couleur der Rathäuser?
Woehrle: Ehrlich gesagt, seit 2015 ignoriere ich das völlig. Die schlimmste Antwort ist, wenn es keine Antwort gibt; aber keine Antwort ist auch eine Antwort. Oft werden diejenigen, die blockieren, Ihnen nicht sagen: Ich bin Antisemit, ich will Ihre Stolpersteine nicht. Und wenn es mal nicht funktioniert, dann sagt man sich: Das wird schon noch. Das ist übrigens das, was Gunter Demnig immer wieder sagt. Eines Tages gibt es Wahlen, die Gemeinderatsmehrheiten wechseln und dann ändert sich die Lage. Und wir müssen einfach nur geduldig sein und warten, bis sich die Situation entspannt. Dann gibt es Rathäuser, die aufgrund von Vorurteilen dagegen sind, die wir aber schließlich überzeugen können. Und dann gibt es noch diejenigen, die definitiv dagegen sind, aber aus anderen Gründen: Paris zum Beispiel. Wir haben Paris 2017 um Unterstützung gebeten. Vier Jahre später erhielten wir die Antwort: „Wir wollen die Stolpersteine nicht, weil sie schlecht für das Image der Stadt wären“.
dokdoc: Auch der Mémorial de la Shoah ist dagegen, aus welchen Gründen?
Woehrle: Aus denselben Gründen, aus Angst, dass man darauf tritt und Hunde ihre Hinterlassenschaften darauf machen. Das ist im Übrigen das, was der Direktor des Mémorial gesagt hat. Ich höre das Argument: Jüdische Familien wollen es nicht, aber was ist dann mit den anderen? Mit den aus politischen Gründen Deportierten, den Kommunisten, den Homosexuellen? Die Pariser Stadtverwaltung hat sich nie dazu bereit erklärt, uns zu empfangen, uns anzuhören, sich mit uns auszutauschen, das ist das Problem. In Paris wurden Stolpersteine auf Privatgrundstücken verlegt, auf ausdrücklichen Wunsch von Familien, die diese Form des Gedenkens an ihre Eltern oder Großeltern haben wollten. Und oft sind es jüdische Familien, die um Stolpersteine für ihre Angehörigen bitten, und man verbietet es ihnen, weil andere Juden sie nicht wollen. Worin liegt da die Logik?
dokdoc: Sie haben die ganze pädagogische Arbeit erwähnt, die die Vorbereitung und Verlegung von Stolpersteinen begleitet. Wie geht es danach weiter?
Woehrle: Die Schulklasse, die die Aktion durchführt, übernimmt anschließend die Patenschaft für einen der Stolpersteine und verpflichtet sich, jedes Jahr zu kommen und ihn zu polieren. Außerdem erhält der Lehrer pädagogisches Material an die Hand. Das Polieren verankert lokal und macht die Schüler zu Akteuren der Erinnerung. Nichts wirkt stärker, als Schüler zu Akteuren ihrer eigenen Erinnerung zu machen. Darin liegt die Stärke der Stolpersteine. Die Idee ist in der Tat, dass die Erinnerung alljährlich zu einem Ritual wird. Es gibt Gemeinden, wie zum Beispiel die, in der ich wohne, Obernai, wo der Kinderstadtrat beschlossen hat, jedes Jahr einen Tag der Erinnerung zu begehen. Es waren die Kinder, die das entschieden haben; so sind sie zu Akteuren der Erinnerung geworden.
dokdoc: Wir kennen die Schwierigkeiten, die Vichy mit seiner Vergangenheit hat. Haben Sie dort Stolpersteine verlegt?
Woehrle: Die jüdisch-christliche Freundschaftsgesellschaft in Vichy hat sich sehr stark um Stolpersteine bemüht. Es war schwierig für uns, mit dem Rathaus ins Gespräch zu kommen, aber schließlich kam es dann doch zu einem sehr fruchtbaren Austausch. Natürlich ist die Position Vichys in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg sehr kompliziert, aber die Stadt hat verstanden, dass die Stolpersteine einen anderen Blick auf ihre Kriegsgeschichte bedeuten könnten. Man vergisst oft, dass dort auch viele Juden versteckt wurden, wovon die Zahl der Gerechten unter den Völkern in Vichy zeugt; das ist beeindruckend! Man sieht immer nur die eine Seite des Vichy-Regimes und übersieht dabei die Menschen, die von Franzosen gerettet wurden. Wir haben jetzt eine Grundsatzvereinbarung und arbeiten mit der Stadtverwaltung an der Verlegung von Stolpersteinen, hoffentlich 2025.
dokdoc: Wie wirkt sich die Zunahme antisemitischer Handlungen auf Ihre Arbeit aus? Sind Ihnen beschädigte oder attackierte Stolpersteine bekannt, wie es kürzlich in Ostdeutschland zu beobachten war?
Woehrle: Der Verein hat seit Anfang des Jahres 70 Stolpersteine verlegt. Kein einziger davon wurde bisher mutwillig beschädigt. Sodann zu den Verlegungen selbst: Persönlich bitte ich die Stadtverwaltung immer, die Präfekturen zu informieren, damit es einen verstärkten Sicherheitskordon gibt. Ich sage nicht, dass es keinen Antisemitismus gibt, natürlich ist er sehr stark, aber bis jetzt kann ich nicht sagen, dass wir damit ein Problem hätten.
dokdoc: Haben Sie zum Schluss noch eine Botschaft an unsere Leser?
Woehrle: Die Stolpersteine stehen nicht in Konkurrenz zu anderen Formen der Erinnerungskultur. Sie integrieren sich in den öffentlichen Raum und in den Alltag. Nicht die Menschen gehen auf die Geschichte und die Erinnerung zu, sondern die Geschichte ereilt sie in ihrem Alltag. Wer sie nicht sehen will, wird weitergehen, aber viele sind von dem Objekt fasziniert, verbeugen sich und sprechen den Namen auf dem Stolperstein laut aus, und so wird dieser Name nie vergessen werden.
Übersetzung: Norbert Heikamp
Unser Gast
Christophe Woehrle, geboren 1969, studierte Neueste Geschichte an den Universitäten Straßburg, Basel und Bamberg. Er wurde als PhD. an der Universität Bamberg promoviert und ist Spezialist für die Gefangenschaft im Zweiten Weltkrieg und französische Kriegsgefangene der Zeitgenössischen Konflikte. Derzeit arbeitet er als zweisprachiger Geschichts- und Geografielehrer an der Akademie von Straßburg und ist der Initiator der Stolperstein-Initiative in Frankreich.
Weiterführende Informationen
Verein Stolpersteine en France: https://stolpersteine.fr
Geographie der Stolpersteine in Frankreich, https://mapstr.com/user/stolpersteinefrance