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Banlieues

Durch die amerikanische Brille

Michaela Wiegel

(© Stéphane Barnoin)

20. Juli 2023

Frankreichs singuläres Verständnis der „Citoyenneté“ wird immer weniger verstanden – besonders vom engsten Partner Deutschland. Die Banlieue-Krise wird als Folge mangelnder Toleranz in einer multikulturellen Gesellschaft verstanden. Warum das ein großes Missverständnis ist.

Was haben lederne Soldatenstiefel mit den Unruhen in den Vorstädten zu tun? Das abgenutzte Paar Schnürstiefel aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs hat Lazare Ponticelli dem französischen Staat vermacht. Der gebürtige Italiener zog 1914 freiwillig in französischer Uniform in den Krieg, bis er nach dem Kriegseintritt Italiens von seinem Heimatland zwangsverpflichtet wurde. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg nahm Ponticelli die französische Staatsbürgerschaft an, kämpfte in der französischen Armee und blieb bis zu seinem Tod im Alter von 110 Jahren (2008) ein Wahlfranzose. Als letzter Kriegsveteran, aber auch als vorbildlicher Einwanderer, wurde er im Invalidendom in einer nationalen Trauerfeier gewürdigt. „Dank Ihnen, dank aller poilus (Soldaten des Ersten Weltkriegs) leben wir in einem freien Land“, sagte Guillaume, ein Siebtklässler, der auch ein Gedicht vortrug. Max Gallo von der Académie Francaise zitierte in der Trauerrede den Verstorbenen: „Ich wollte Frankreich verteidigen, weil es mir zu essen gegeben hat. Das war meine Weise, danke zu sagen.“ Die Soldatenstiefel Ponticellis sind heute eines der Ausstellungsstücke im Nationalen Museum für die Geschichte der Immigration in Paris. Sie stehen symbolisch für die gewisse Idee, die mit der französischen Staatsbürgerschaft verknüpft ist.

Parallelen zu Black Lives Matter

In Europa bleibt Frankreichs Vorstellung einer Staatsbürgerschaft als persönliche Willensentscheidung die Ausnahme. In Deutschland wird das französische Gesellschaftsmodell immer weniger verstanden. Das wurde bei der Analyse der Ausschreitungen in den Vorstädten besonders augenfällig. Selbst wohlmeinende Kommentatoren setzten die multikulturelle Gesellschaft der USA oder Großbritanniens als Referenzmodell voraus. In diesem Zusammenhang wurden die gewalttätigen Proteste als Folge diskriminierender Praktiken eines die Minderheiten unterdrückenden Staatswesens (und insbesondere der Polizei) analysiert. Oftmals wurden Parallelen zur amerikanischen Black Lives Matter-Bewegung gezogen, als habe Frankreich wie die USA bis in die sechziger Jahre Rassentrennung praktiziert. Auch wenn Schwarze in der französischen Politik bis heute unterrepräsentiert sind, wird viel zu oft vergessen, dass schon in den Anfängen der V. Republik mit Gaston Monnerville ein Enkel eines Sklaven als Senatspräsident das zweithöchste Staatsamt bekleidete.

Pflicht zur republikanischen Abstraktion

Sklaverei gab es im Mutterland Frankreich nicht, nur in den Kolonien. Eine Segregation von Schwarzen und Weißen in Schulen oder öffentlichen Verkehrsmitteln wie in Amerika ist in der France métropolitaine nie praktiziert worden. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass es keine diskriminierenden Praktiken in den Reihen der Polizei gäbe.

(© Adobe Stock)

Dennoch ist auffällig, wie sehr die französische Situation in Deutschland durch die amerikanische Brille betrachtet wird. Dabei gibt es keine homogene schwarze oder arabische Community, wie oft der Eindruck erweckt wird. „Wir sind alle Bürger in einer Form der republikanischen Abstraktion – die jede physische und individuelle Besonderheit zu ignorieren hat“, beobachtete Bildungsminister Pap Ndiaye in einem Zeitungsgespräch.

Die exzessive Bewertung durch rechtsextreme Politiker der Alternative für Deutschland (AfD) enthüllte ebenfalls das nicht vorhandene Verständnis für das französische Modell des „vivre ensemble“ („Zusammenleben“). So twitterte etwa die stellvertretende AfD-Vorsitzende Beatrix von Storch: „Multikulti ist gescheitert. Frankreich brennt und zwar lichterloh“. Über die Frage, ob Deutschland „französische Verhältnisse“ drohen, wurde in den Medien diskutiert, als könne man die Einwanderer, die während der Flüchtlingskrise 2015 nach Deutschland kamen, mit Franzosen der zweiten oder dritten Einwanderungsgeneration gleichsetzen. Die Diskussionen drehten sich darum, wie harmonisch es in einer multikulturellen Gesellschaft zugehen könne. Als Maßstab für den Vergleich wurde dabei die kulturell größtenteils homogene Gesellschaft der früheren Bundesrepublik genommen.

Das blendete aus, dass Frankreich den „Kommunitarismus“, wie er Einwanderungsgesellschaften in den Vereinigten Staaten von Amerika oder im Vereinigten Königreich prägt, stets abgelehnt hat.

Von Leitkultur und Laizität

Genauso wenig orientiert sich Frankreich am Bild einer kulturell-religiös dominanten Mehrheitsgesellschaft, die in Deutschland unter dem Begriff Leitkultur diskutiert wird. Stattdessen bietet die Republik seinen Bürgern die Laizität an, das heißt, die Möglichkeit, die Religion als Privatangelegenheit zu betrachten und im öffentlichen Raum „Bürger ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion“ zu sein. So steht es im ersten Verfassungsartikel. Frankreich bekennt sich darin, eine laizistische Republik zu sein.

(© Adobe Stock)

Das Grundgesetz von 1949 hat hingegen einen Artikel der Weimarer Verfassung von 1919 übernommen, der Staat und Kirche nicht eindeutig trennt. Er besagt lediglich: „Es besteht keine Staatskirche“. In der Präambel heißt es hingegen: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das deutsche Volk dieses Grundgesetz“ gegeben. Minister haben die Wahl, ihren Amtseid „So wahr mir Gott helfe“ auf die Bibel abzugeben. In staatlichen Schulen unterrichten Priester und in Klassenräumen hängen Kruzifixe. Der Staat zieht die Kirchensteuer ein. In Frankreich ist die Trennung wesentlich eindeutiger. Deshalb wurden 2004 deutlich sichtbare religiöse Zeichen in den staatlichen Klassenräumen verboten. In Deutschland wurde das „Kopftuchverbot“ vielfach als mangelnde Toleranz gegenüber Muslimen interpretiert.

Ernest Renan und die Idee des „vivre ensemble“

Portrait von Ernest Renan (1823-92) (© Wikimedia)

Die Idee des „vivre ensemble“ geht auf den berühmten Vortrag Ernest Renans zurück, den dieser 1882 an der Sorbonne hielt. Unter der Überschrift „Was ist eine Nation?“ erörterte er, warum Sprache, Religion, Ethnie oder Gemeinschaft („communauté“) nicht als Kriterien taugten. Für ihn gründete die Zugehörigkeit zu einer Nation auf „dem Wunsch zusammenzuleben“. Dazu zählte auch, „das Erbe hochzuhalten, das man ungeteilt empfangen hat“. Man ist also nicht automatisch dank Abstammung oder Geburt Teil Frankreichs, sondern muss die Zugehörigkeit bewusst annehmen, wie in einem „täglichen Plebiszit“. Auch gehören eine geteilte Erinnerungskultur sowie gemeinsames Vergessen dazu. „Kein Franzose weiß, ob er Burgunder, Alane, Wisigote ist, und jeder Franzose muss die Bartholomäusnacht und die Massaker des dreizehnten Jahrhunderts im Süden vergessen haben.“

Rebellion gegen Ausgrenzung

Renans Nationenbegriff bestimmt das Denken und die Politik Präsident Macrons. Wenn man die Eruption der Gewalt in den Vorstädten als Krise des „vivre ensemble“ versteht, dann wird die Analyse wesentlich komplexer. Zum einen hat Frankreich eine Bringschuld gegenüber den Randalierern, die gegen ihre gefühlte oder tatsächliche Ausgrenzung rebellieren. Sie vereint die Vorstellung, dass sich für sie die Verheißung der Emanzipation nicht erfüllt hat. „Es geht auch darum, die Menschen für die Republik zu begeistern, indem man zeigt, dass sie es jedem ermöglichen kann, sein Leben zu gestalten“, sagte Präsident Macron in seiner Grundsatzrede in Les Mureaux im Oktober 2020. Zugleich aber haben auch diejenigen, die staatliche Symbole wie Polizeireviere, Schulen, Bibliotheken oder Rathäuser angriffen, ihren Part des Zusammenlebens nicht erfüllt. Vor allem haben sie nicht die Verbrechen vergessen, die Frankreich während der Kolonisierung begangen hat. Der daraus entstandene Hass und die Bitterkeit müssen aber im Sinne Renans überwunden werden, wenn die französische Nation in ihrer Singularität fortbestehen soll.

Zur Autorin

(© Faz.net)

Michaela Wiegel ist seit Februar 1998 als politische Korrespondentin für Frankreich für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) in Paris tätig. Nach einem Studium der Politischen Wissenschaften, der Geschichte und Philosophie und einem Diplomabschluss am Institut d’Etudes Politiques de Paris ging sie an die Harvard University und erwarb an der Kennedy School of Government einen Master in Public Administration. 1995 trat sie als Redakteurin in die politische Nachrichtenredaktion der F.A.Z. ein.

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