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Erinnerungsarbeit

Die Stille in Auschwitz

Nils Franke

© Landry Charrier

11. August 2023

Oswiecim heißt heute die Stadt, die für das Symbol des Holocaust steht. Der deutsche Begriff Auschwitz fällt nur dann, wenn die Bewohner die Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz I, Auschwitz II-Birkenau und Auschwitz III-Monowitz meinen, deren Reste sich am Fuße der Altstadt befinden. In diesen spannungsreichen Raum reiste vom 29. Juli bis zum 2. August 2023 eine internationale Studierendengruppe aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Russland und China.

Anlage, Bauten, Logistik und Organisation der Konzentrationslager in Auschwitz waren Ausdruck von Rassismus und damit verbundener Menschenverachtung als Kern der NS-Ideologie. Dies haptisch zu erfahren, Wissen hierüber zu erwerben und auch emotional zu reflektieren, war Ziel dieser Gedenkstättenfahrt – eine gute Grundlage für die Abwehr von Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, der aktuell in mehreren europäischen Mitgliedsländern um sich greift. Mangelndes Wissen über die radikal-völkische und nationalistische Ideenwelt bietet hierfür eine Basis. Auschwitz war einer der Endpunkte dieses Denkens. Gedenkstätten können helfen, das ritualisierte „Nie wieder!“ wieder plastisch zu machen und Anstoß zu demokratischem Engagement zu geben, das nationale Grenzen überschreitet.

Die Reaktionen der Teilnehmenden waren oft emotional. In auffällig vielen Gesprächen wurde das Thema „Stille“ angesprochen.

Gedanken zur Stille in Auschwitz

Joost Haddinga

„Nur kleine Schilder. Als wäre es nichts Außergewöhnliches. Erst beim Einbiegen auf den Parkplatz bemerkt man die Tragweite und das Ausmaß von Auschwitz. Der Ort und die Landschaft schweigen zu dieser Vergangenheit. Diese äußere Stille versprüht eine unerwartet komische Normalität. Für mich war Auschwitz vor meinem Besuch dort schwarz-weiß. Das Lager, die Baracken, die Menschen, alles war immer schwarz-weiß. Diesen Ort in Farbe zu sehen und zu erleben, damit seine Wirklichkeit zu spüren, wirkte fasst wieder unwirklich, überkoloriert. Diese Stille bedrückt und regt zum Nachdenken an, macht uns plastisch unsere Verantwortung zur Erinnerung bewusst, ohne jedoch zu bedrängen oder aggressiv zu sein.“

Leah Mönkemöller

„Stille habe ich empfunden, als nach vielen Zeichen der Entmenschlichung zuvor in einem dunklen Raum Szenen jüdischen Lebens vor der Shoah gezeigt wurden. Die Gemeinschaft, die Freude und der Alltag untermalt von fröhlicher Musik standen in so einem starken Kontrast zu allem, was wir davor gesehen hatten.“

Malte Wenk

„Ich habe mich mit der Stille auseinandergesetzt, als ich die Bäume bei den Krematorien im Wald gesehen habe. Traumhafte Ruhe und nur das Rauschen der Bäume im Hintergrund. Ein krasser Kontrast zu dem unbeschreiblichen Grauen, das sich dort abgespielt hat. Haben die Opfer das ebenso wahrgenommen? Sie standen teils tagelang in Waggons, wurden von herrischen SS-Männern an der Rampe erwartet, von ihren Angehörigen getrennt und traten ihre Reise ins Unbekannte an. Vor ihrem Tod gab es aber bei den Bäumen, während des Wartens, einen kurzen Moment der Ruhe, nur das Rauschen der Bäume im Hintergrund. Waren sie deshalb so ruhig, wie es die Bilder aus dem Auschwitz-Album suggerieren? Weil sie nach all dem Schrecken hier kurz durchatmen konnten? Die Täter jedenfalls haben das eiskalt genutzt.“

Linus Seikat

„Ich habe die Stille am meisten an einem der wenigen eigentlich gar nicht stillen Orten gespürt. In einer Baracke, im Stammlager Auschwitz I, an deren Wänden das jüdische Leben vor den schrecklichen Verbrechen der Nazis gezeigt wurde. Videos von singenden, lachenden und tanzenden Familien, Kindern und Menschen, die pure Lebensfreude ausstrahlten. All das zu sehen, in einem Gebäude, in einem Lager, in einer Stadt, in der Juden nicht nur die Lebensfreude, sondern das Leben selbst genommen wurde, war für mich das eindrücklichste Gefühl der Stille.“

Dounia Boissaye

„Die Stille in Auschwitz ergriff mich und ich empfand sie als sehr bedrückend. Unsere Pflicht als Nachkommen dieser Zeit ist es, uns vom vollen Ausmaß des Grauens, das an diesem Ort stattfand, durchdringen zu lassen und stets vor Augen zu halten, dass solche Gräueltaten wieder vorkommen können. Letztendlich waren es Menschen wie wir, die in dieses rassistische System eingebunden waren. 

Die Stille an diesem Ort, die einen nicht mehr loslässt, sorgt dafür, dass man in sich selbst geht und nachdenklich wird.“

Max Molden

„An den Gleisen entlang gehend, auf denen Hunderttausende in ihre Vernichtung fuhren, und über den Boden schreitend, auf dem Millionen Füße ihre letzten Schritte gingen, war es die direkte, physische Berührung mit dem Stahl, den Steinen und der Erde, die mich innehalten ließ und die mir die Bedeutung dieses Ortes verdeutlichte. Das Unmenschliche, das doch von Menschen verübt wurde, wurde spürbar, und seine erdrückende Unvorstellbarkeit legte sich sogleich wie ein Mantel der Stille über mich.“

Stille als architektonisches Mittel

Stille wird auch seit wenigen Wochen im neu gestalteten Eingangsbereich des ehemaligen Lagers Auschwitz I gezielt pädagogisch eingesetzt. Dem Eingang in das historische Stammlager mit dem zynischen Schild „Arbeit macht frei“ war seit Öffnung der Gedenkstätte ein Empfangsbereich für die Besuchergruppen vorgeschaltet. Hier erfolgten die Sicherheitskontrolle und die Eintrittskarten wurden kontrolliert. Danach machten sich die Besucher auf den Weg zum oben genannten Tor.

© Landry Charrier

Seit etwa zwei Wochen hat sich das verändert. Nach den Kontrollen gehen die Besucher nun durch einen langen, engen Gang. Er ähnelt einer oben geöffneten Betonröhre, die aber unter der Grasnarbe des Erdbodens liegt. Alle zwei Meter werden von Lautsprechern Namen von Opfern eingespielt. Der Weg bedrückt durch die Enge, die Kälte des Betons, die Neutralität der Namensnennungen wirft jeden Besucher auf sich selbst zurück. Gespräche verstummen, der Klang der eigenen Schritte wird hörbar. Unwillkürlich stellt sich der Eindruck ein, dass die eigene Gruppe sich fortbewegt wie damals die Häftlinge. Stille kehrt ein. Der Gang hebt sich nur langsam und nur Schritt für Schritt wird der Blick über den Rand der Betonröhre möglich. Die Blocks des ehemaligen Lagers Auschwitz I erscheinen.

Die Lager Auschwitz und Theresienstadt mit Kinderaugen gesehen

Besondere Stille herrscht in einem Ausstellungssaal, dessen Wände weiß getüncht sind. Er zeigt keine Gegenstände, er ist leer. Doch auf der Höhe der Hand eines vielleicht sechsjährigen Kindes sind an den Wänden nebeneinander, doch in deutlichem Abstand, feine Zeichnungen abgebildet. Es handelt sich um die Wiedergabe von Kinderzeichnungen, die in Auschwitz und im Konzentrationslager Theresienstadt gefunden wurden. Motive sind oft Landschaftseindrücke wie eine kleine Stadt, zusammengewürfelt wie auf den Bildern von Chagall. Eine Allee kahler Bäume, durch die eine Frau alleine wandert, aber auch Flugzeuge, geballt im Luftkampf am Himmel. Die Striche an den Wänden sind zart, verbleicht, ihre Urheber? Verschwunden! Niemand kann sich diesem Raum entziehen, die Stille bedrückt hier.

Der Himmel über Auschwitz

© Landry Charrier

Der erste Eindruck, den die meisten Besucher des ehemaligen Lager Auschwitz II -Birkenau haben, ist das Erschrecken über seine Ausdehnung. Einigen Teilnehmenden stand die Überraschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Und lang sind dort die Wege. Eine Begleitung durch einen Guide von drei Stunden erreicht nur einige wichtige Orte. Das Tor, durch das die Gleise führen, die „Rampe“, an der die „Selektionen“ stattfanden, die Komplexe der Gaskammern und Krematorien, die sogenannte „Sauna“, in der die Menschen z.B. an allen Körperteilen enthaart wurden.

Viele Wege innerhalb der Anlage sind sehr still. Dort stehen nur die Stacheldrahtzäune. Darüber wölbt sich ein hoher Himmel, an dem an unserem Besuchstag weiße Haufenwolken zogen – in völliger Stille.

Die Reise wurde gefördert vom Erich-Zeigner-Haus e. V., dem Förderverein der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oswiecim e. V., der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, dem Land Sachsen, der Universität Amsterdam und der Holger Koppe Stiftung. Begleitet wurde sie von Eva Stanczyk, Landry Charrier und Nils M. Franke

Zum Autor

© Nils Franke

Nils Franke ist Historiker und Leiter des Wissenschaftlichen Büros Leipzig. Seine Schwerpunkte sind die Geschichte des Nationalsozialismus, die Natur- und Umweltschutzgeschichte und die Extremismusprävention. Er ist ehrenamtlich im Vorstand der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oswiecim/ehemals Auschwitz tätig.

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