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Deutsch-französische Missverständnisse

Frankreich entschlüsseln

Isabelle Bourgeois

© Adobe Stock

11. September 2023

Eine jahrzehntelange deutsch-französische Freundschaft, immer wieder zelebriert, zahlreiche gemeinsame Erfolge beim Aufbau Europas: Das nährt die Illusion, dass wir uns gut kennen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Sprachkenntnisse schwinden rasant, somit auch das tiefere Verständnis der anderen Kultur. Das fördert nicht nur Klischees, sondern auch hartnäckige Missverständnisse.

Doch stehen heute wichtige europapolitische Entscheidungen an. Es ist notwendiger denn je, sich intensiver mit dem Partner auseinanderzusetzen und eine neue Herangehensweise zu entwickeln, um das vermeintlich Bekannte zu hinterfragen und sich auf diese Weise einer intimeren Kenntnis des Partners anzunähern. Das Lesen von Frankreich-Literatur ist zwar unumgänglich, liefert jedoch nur Teilwissen, da diese sich meistens auf die Beschreibung von politischen Institutionen, Wirtschaft oder Gesellschaft beschränkt. Was sie nicht gibt, sind Schlüssel, um die dargestellten Sachverhalte zu interpretieren, d.h. zu verstehen, wie diese miteinander zusammenhängen. Dafür braucht es einen neuen Werkzeugkasten.

Gefährliche Unkenntnis der kulturellen Unterschiede

Weitreichende kulturelle Gegensätze, zahlreiche „falsche Freunde“, also Begriffe, die nur anscheinend dasselbe bedeuten und daher zu Trugschlüssen führen, bilden den Nährboden für Fehlinterpretationen. Auch die Tatsache, dass wir eine uns fremde Kultur mit der „Brille“ der eigenen Sozialisation angehen.

Der größte kulturelle Gegensatz liegt in der Dialektik „l’esprit et la lettre“ –Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit. In der Wirtschaft sorgt bei gemeinsamen Verhandlungen meist das Sitzungsprotokoll für Verstimmung. Den deutschen Partnern ist das französische nicht „sachlich“ genug: Es geht kaum auf konkrete Einzelheiten ein. Die französischen Partner enttäuscht das deutsche: Die Auflistung der einzelnen Tagesordnungspunkte kommt „à la lettre“. Was fehlt, ist der Blick auf das Ganze („l’esprit“). Sie wissen nicht: Wenn ihre deutschen Partner das Ziel nicht teilen würden, würden sie sich nicht die Mühe geben, „en détail“ zu eruieren, wie man es erreichen kann. Die Deutschen wissen nicht, dass für ihre französischen Partner die Zielrichtung das Entscheidende ist, irgendwie wird man sich dahin schon „durchwursteln“.

In der Politik kann dieser Unterschied gravierende Folgen haben. In seiner Europarede im Herbst 2017 in der Sorbonne stellte Macron unmittelbar nach der Bundestagswahl seine „Vision“ des zukünftigen Europas vor – eine Idealvorstellung. Die deutsche Antwort kam spät, nach sehr langen Koalitionsverhandlungen, und wurde als enttäuschend empfunden. Sie kam „à la lettre“ im Koalitionsvertrag – in Form einer Auflistung konkreter Ziele und Wege, diese zu erreichen. Solche Enttäuschungen sorgen für tiefes Misstrauen – allein aus Unkenntnis der eher statisch (universalistischen) Vorgehensweisen in Frankreich, eher dynamisch (pragmatischen) in Deutschland. Wer beide Länder und Kulturen kennt, weiß: Frankreich muss man erst entschlüsseln. Ebenso wie Deutschland übrigens, das in Frankreich immer noch ein unbekanntes Wesen bleibt.

Wörter können trügen

© Halem Verlag

Entgegen einem weitverbreiteten Glauben bedeuten Begriffspaare (Übersetzungen) fast nie dasselbe. Begriffe sind immer kontextgebunden, und führen so zu Fehlinterpretationen. Man nennt sie „falsche Freunde“.

Nehmen wir Staat/État – als Gesamtheit der Institutionen. In Deutschland ist das Volk eine dynamische Gemeinschaft, in der gestaltende (ordnungspolitische) Entscheidungen in einem komplexen Zusammenspiel diverser Kräfte und Institutionen gemeinsam getroffen werden, u.a. mit den Vertretern der organisierten Gesellschaft (Verbände, Tarifpartner). Der deutsche Begriff Staat bezieht die Bürger in den Gestaltungsprozess mit ein. Der französische État hingegen meint allein die Staatsorgane, und die stehen hierarchisch über dem Volk. Die Citoyens und ihre Partikularinteressen sind vom politischen Entscheidungs- und Gestaltungsprozess institutionell ausgeschlossen. Partikularinteressen gelten als für das Gemeinwesen gefährlich, denn allein staatliche Institutionen können über das Gemeinwohl befinden.

Entsprechend bezeichnet „Société civile“ die Masse derjenigen, die weder dem Staatsapparat noch dem Militär angehören. In der heutigen Bundesrepublik meint Zivilgesellschaft schlicht Gesellschaft im Sinne von Selbstorganisation der Bürger (organisierte Gesellschaft). Kreuzt man dies mit weiteren Informationen, wird plötzlich deutlich, was die Gelbwesten ureigentlich forderten: mehr Teilhabe.

Zahlen muss man hinterfragen

Zahlenvergleiche sind besonders trügerisch. Statistiken – und noch mehr vergleichende Umfragen – sind kontextgebunden. Sie können ohne das Hinzuziehen weiterer Informationsquellen nicht interpretiert werden. Die Leitfragen sind: Wie, Wieso, Warum oder Wozu? Ein kontrastiver Ansatz, der den Kontext einbezieht, bringt weit mehr Aufschluss als ein rein vergleichender.

Auf dem Portal Statista steht, das deutsche Autobahnnetz (13 155 Km) sei größer als das französische (11 664 Km). Nun, Frankreich ist in der Fläche größer, also scheint das deutsche Netz dichter zu sein. Ja, und? Wie ist das Netz über das Land verteilt? Will ich etwas über Mobilität erfahren? Über Lebensumstände? Ich brauche Informationen aus anderen Fachgebieten. Mit der Frage, wo das Autobahnnetz am dichtesten ist, beginnen sich einige Strukturmerkmale abzuzeichnen. Ein Blick auf Karten lehrt: Der Ballungsraum Paris ist vergleichbar mit dem Ruhrgebiet. Nur um Paris herum ist das Autobahnnetz dicht – engmaschig ist es nicht. Es gilt weiterzusuchen: Bevölkerungsdichte, Gewerbeansiedlungen, Wirtschaftsstruktur, Erwerbstätigkeit, Löhne, Qualifizierungsprofile, bis hin zum Wahlverhalten. Den Zentralismus nicht vergessen. Um Paris leben 20 % der Bevölkerung. In Paris ballen sich alle Ministerien, Zentralverwaltung, oberste Gerichte, Unternehmenssitze, führende Bildungs- oder Forschungseinrichtungen, die gesamte Kreativwirtschaft sowie alle Informationsmedien. Auch die deutschen Korrespondenten sitzen alle in Paris.

Paris ist nicht Frankreich

© Adobe Stock

Doch Paris ist nicht Frankreich. Wer nicht über die Stadtmauern kommt, kann das Land nicht verstehen – jenes, in dem 80 % der Bevölkerung leben. Geografen nennen es „Le désert français“ („das verödende Frankreich“), neuerdings auch: „La diagonale du vide“ („die Diagonale der Leere“). Das Leben dort gestaltet sich ganz anders als in der Hauptstadt. Dort wird mittags noch zu Hause gegessen – en famille. Vor den Hauptnachrichten von TF1 (Einschaltquoten: gut 20 %). Dort sitzt das Gros der Zuschauer von Arte, das so den Eindruck hat, am kulturellen Leben der Hauptstadt teilzunehmen. Dort gibt es kaum hochqualifizierte Arbeitsstellen, geschweige denn Industrie, entsprechend niedrig sind die Löhne. Dort ist „Système D“ gefragt: die Fähigkeit, sich mit Hilfe von Familie, Freunden, Nachbarschaft „durchzuwursteln“. Dort ist man auf das Auto angewiesen, denn öffentliche Verkehrsmittel gibt es (fast) keine. Deshalb ist das Thema Spritsteuern so heikel. Es war der Auslöser, der die Gelbwesten auf die Straße trieb. Dieses Frankreich heißt politisch korrekt „en régions“, um das Wort „Province“ zu umgehen. Könnte es sein, dass die fehlende Erdung, die viele Bürger ihren Politikern vorwerfen, daran liegt, dass sie in der Hauptstadt unter sich bleiben? Und dass Paris eine eigene Welt ist, mit der sich die Mehrheit der Wähler kaum identifizieren kann und deshalb Le Pen wählt?

Allmählich beginne ich zu verstehen, dass die Nichtbeteiligung der Citoyens an der Bestimmung des Gemeinwesens einer der Hauptgründe ist, weshalb in Frankreich so oft und lauthals auf die Straße gezogen wird, um Forderungen zu stellen oder Protest auszudrücken. Die übliche Fehlinterpretation aus deutscher Sicht lautet: Den Franzosen – „aufmüpfige Gallier“ – liege die Protestkultur in den Genen. In Wirklichkeit liegen sie in historisch gewachsenen Strukturen, die im Gegensatz zu den deutschen stehen – besonders, was die Teilhabe der Bürger/Citoyens angeht. Wissen ergibt sich allein aus dem dynamischen miteinander Kreuzen vielfältiger Informationen.

Wie lässt sich Frankreich entschlüsseln?

Es gibt kein Universalrezept. Nur eine Grundhaltung. Da jeder die fremde Wirklichkeit mit der Brille des landesspezifischen Selbstverständnisses liest, muss man, will man sich dem vermeintlich bekannten Land annähern, ständig die eigenen Gewissheiten bzw. Understatements hinterfragen. Die Leitfrage sollte stets lauten: Wie funktioniert das und wie passt das zusammen? Dieses Vorgehen setzt voraus, dass der Leser die Medienberichterstattung sowie die ihm vertraute Fachliteratur heranzieht und alles mit der eigenen Erfahrung bzw. Beobachtung kreuzt, sodass immer wieder neue Fragestellungen entstehen, die Stück für Stück zu einem tieferen Wissen führen. Der hier beschriebene Ansatz baut auf langjähriger Erfahrung mit dem Entschlüsseln Deutschlands in Frankreich auf. Er ist ein Aufruf, sich das Wissen neu anzueignen und es zu teilen. Im Interesse der deutsch-französischen Freundschaft wie der Zukunft Europas.

Die Autorin

© Isabelle Bourgeois

Isabelle Bourgeois ist Mitgründerin und Moderatorin der Dialogplattform www.tandem-europe.eu. Von 1980 bis 1988 war sie Lektorin an der Universität Hannover (Romanistik) und Kulturattaché an der französischen Botschaft in Bonn (zuständig für Rundfunk). Von 1988 bis 2017 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre d’Information et de Recherche sur l‘Allemagne Contemporaine – CIRAC. Von 2001 bis 2015 war sie Chefredakteurin der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Regards sur l’économie allemande (CIRAC), von 1989 bis 2001 Dozentin am Institut d’études politiques Paris, von 2002 bis 2017 Dozentin an der Université de Cergy-Pontoise und von 1990 bis 2005 freie Autorin für epd-medien, diverse deutsche Tageszeitungen und den Deutschlandfunk.

Mehr zum Thema

Isabelle Bourgeois: Frankreich entschlüsseln. Missverständnisse und Widersprüche im medialen Diskurs. Herbert von Halem Verlag, Köln 2023.

„Unser Frankreich-Bild: Klischees und Missverständnisse“. Mit Isabelle Bourgeois und Andreas Noll. Franko-viel 50 (20. September 2023): Folge 50 – Unser Frankreich-Bild: Klischees und Missverständnisse – Franko-viel – Der Frankreich-Podcast (podigee.io)

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