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Französische Überseegebiete

Die französischen Überseegebiete. Ein verwirrender Begriff einer lebendigen Realität

Stephan Martens

1. November 2023

Frankreich erstreckt sich über den europäischen Kontinent hinaus. Fünf seiner Überseegebieten, Départements et Régions d’Outre-mer (DROM) genannt, die mit besonderen sozioökonomischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, sind vollständig in die Europäische Union (EU) integriert. Außerhalb des Tourismussektors gibt es jedoch kaum eine Kooperation zwischen den DROMs und anderen EU-Regionen, während im Rahmen der so oft zum Vorbild erhobenen deutsch-französischen Beziehungen durchaus eine gezielte Zusammenarbeit denkbar wäre.

Frankreich ist mehr als das französische Festland – Hexagone, wie das europäische Kontinentalfrankreich genannt wird. Zum französischen Staatsgebiet gehören darüber hinaus Überseegebiete (Pays et territoires d’Outre-mer), die über den Atlantik, den Pazifik und den Indischen Ozean verstreut sind – sie gehen auf die Kolonialgeschichte Frankreichs zurück und erinnern noch heute an die Gröβe des einstigen Einflussgebietes Frankreichs. Das wirtschaftliche Gewicht der französischen Überseegebiete, wo die Einwohnerzahl bei 2,5 Millionen Menschen liegt, ist so gering, dass die Farbe des zugehörigen Kuchenstücks in keinem Tortendiagramm erkennbar wäre. Doch hinter diesen Tatsachen verbirgt sich eine beeindruckende Wirklichkeit, denn durch die 200 Seemeilen breite Wirtschaftszone um jeder der Inseln entsteht ein nutzbarer Meeresraum von insgesamt 12 Millionen Quadratkilometern, dem größten nach dem der Vereinigten Staaten.

Vielfalt im administrativen Status

Seit der französischen Verfassungsreform von 2003 wird zwischen den Départements et Régions d‘Outre-mer – DROM (Überseedepartements) – Guadeloupe, Martinique, Französisch-Guayana, Réunion, Mayotte –, den Collectivités d‘Outre-mer – COM (Überseegebietskörperschaften) – Französisch-Polynesien, Neukaledonien, Wallis und Futuna, Saint-Pierre-et-Miquelon, Saint-Martin, Saint-Barthélémy) – und letzteres Territoires d’Outre-mer (Überseeterritorium) unterschieden. Faktisch sind die Terres australes et antarctiques françaises – TAAF (Französische Süd- und Antarktisgebiete) das einzig verbliebene Überseeterritorium, das einen eigenen rechtlichen Status hat.

Bei den COMs bestehen unterschiedliche Rechtsstellungen nebeneinander: Saint-Martin ist Teil der EU, während Saint-Barthélemy nur assoziertes Mitglied ist; Wallis und Futuna sowie Französisch-Polynesien sind nicht Teil der EU, und haben den CFP-Franc als Währung, dennoch entsenden sie Vertreter in das französische Parlament; Neukaledonien kann auch noch einen bestimmten Status als Pays d’Outre-mer (Übserseeisches Land) beanspruchen.

Die fünf der 27 französischen Regionen, die nicht auf dem europäischen Festland liegen, haben die gleiche rechtliche Stellung wie die Regionen im französischen Kernland. Die DROMs haben den Euro als Währung und sind – wie auch die spanische Autonome Gemeinschaft der Kanaren, sowie die portugiesischen Autonomen Regionen der Azoren und von Madeira – als „Gebiete in äuβerster Randlage“ (GÄR) Teil der EU. Der Status eines GÄR wird Regionen zuerkannt, die mit Entwicklungsrückständen und -problemen zu kämpfen haben und somit einen leichteren Zugang zu EU-Beihilfen haben.

Die DROMs, Trümpfe und Hemmnisse

Konzentriert man sich auf die DROMs, so dienen sie als logistische Stützpunkte für die französische Militärpräsenz und haben strategische Funktionen wie z.B. im Französisch-Guayana, wo in Kourou die Startrampe für die europäische Ariane-Rakete lokalisiert ist.

In Kourou © Wikimedia Commons

Mit seinen DROMs La Réunion und Mayotte ist Frankreich eine vollwertige Nation im Indopazifik. Im Bereich der deutsch-französisichen Beziehungen ist die hervorragende Dynamik von La Réunion hervorzuheben: im Jahr 2022 lernen 12 % aller Schüler Deutsch, im ganzen Hexagone sind es knapp 14 %! Dieses auβergewöhnliche Interesse an Deutsch auf La Réunion, das in keinem anderen DROM zu finden ist, ist hauptsächlich auf das Engagement einiger Deutschlehrer seit den 1960er Jahren zurückzuführen, die es geschafft haben, Deutsch von der Grundschule bis zur Universität als eigenständiges Fach im Bildungssystem von La Réunion zu etablieren.

Die kreolische Identität, vor allem in Guadeloupe, Martinique und La Réunion, ist ebenso stark wie die Zugehörigkeit zur französischen Kultur, was aber auch die Beziehungen zu Frankreich etwas schizophren macht: „Liebe-Hass“, die untrennbar mit der Last der Geschichte verbunden ist. Das Zusammenleben ist befriedet, auch wenn punktuelle Krisen schmerzhafte Erinnerungen an die Sklaverei wiederaufleben lassen, die durch die Gesten der Erinnerung noch nicht bereinigt werden konnten. Doch die DROMs sind heute vorwiegend von schwierigen sozioökonomischen Bedingungen betroffen. Die traditionellen Postkartenbilder mit weiβen Sandstränden und Kokospalmen, die man mit den DROMs assoziiert, spiegeln nur einen winzigen Teil der Wirklichkeit wider. Die geographischen Besonderheiten dieser Gebiete (Insellage, extreme natürliche Risiken oder sogar Wiederauftauchen von Tropenkrankheiten) bringen eine Reihe von Anforderungen mit sich. Die DROMs befinden sich vor allem in einem ständigen „wirtschaftlichen Sturm“: zunehmende Arbeitslosigkeit und steigende Lebenshaltungskosten.

Guadeloupe 2022 © Stephan Martens

Die Ausgabe 2023 des Berichts über die Ungleichheiten in Frankreich, veröffentlicht vom Observatoire des inégalités in Paris, erinnert daran, wie erschreckend hoch die Zahlen zur groβen Armut in den DROMs im Vergleich zu denen im Hexagone sind: Die Menschen sind fünf- bis zehnmal ärmer als im französischen Mutterland.

Die Französischen Antillen: immer mehr „karibisch“?

Eine bessere Einbindung dieser Gebiete in ihre nähere Umgebung wäre von Vorteil, denn sie würde die Umsetzung von Projekten in zahlreichen Bereichen ermöglichen. Guadeloupe und Martinique bewerben sich nun um die Mitgliedschaft in der Caribbean Community (CARICOM), nachdem sie, wie auch Guyana, bereits seit 2014 in eigenem Namen assoziierte Mitglieder der Association of Caribbean States (ACS), und seit 2019 der Organisation of Eastern Caribbean States (OECS) sind.

Dies ist eine besondere Dynamik, denn für die DROMs des Indischen Ozeans sieht die Situation ganz anders aus, da die regionalen Organisationen, seien es die Southern African Development Community (SADC) oder die Indian Ocean Rim Association (IORA), nur für die Teilnahme von Staaten offen sind. Nur die von Madagaskar, Mauritius und den Seychellen gegründete Commission de l’Océan Indien (COI) sieht die Möglichkeit vor, dass auch regionale Einheiten beitreten können – aber selbst innerhalb der COI ist es Frankreich, das „im Namen“ von La Réunion und Mayotte Mitglied ist.

Trotz der geografischen Nähe sind die Verbindungen zwischen den DROMs und ihren Nachbarn in der Karibik begrenzt, aufgrund verschiedener Hindernisse im ökonomischen und politischen Bereich. Es stellt sich die Frage nach einem „euro-karibischen“ Schicksal, da die Präsenz der DROMs in regionalen Organisationen zu einer beginnenden Neudefinition des karibischen Regionalismus beiträgt, während die Beteiligung derselben DROMs an der EU als GÄR eine Tatsache ist.

Welcher Platz für Deutschland?

Wenn Deutschland in den DROMs Interesse findet, wie die Exzellenz des Made in Germany, so ist dies derzeit in erster Linie auf seine institutionellen Merkmale zurückzuführen: die Funktionsweise der deutschen Bundesländer ist von Interesse, da die europäische Politik auf starke Groβregionen ausgerichtet ist. Die deutsch-französischen Beziehungen werden jedoch kaum auf regionaler Ebene mit den Überseeregionen verfolgt, obwohl es gerade diese Ebene ist, die die DROMs im Rahmen der europäischen Politik interessiert. Sie werden jedoch mit der Feindseligkeit einer Reihe von Mitgliedstaaten gegenüber der Sonderregelung für die GÄR konfrontiert – und befinden sich in einer defensiven Position, um ihren Status und ihre Interessen gegenüber den mitteleuropäischen Hauptstädten und Berlin zu wahren, wo eher eine oberflächliche Vision von Exotik vorherrscht, die die GÄR, die in erster Linie als Touristenattraktionen abgestempelt werden, schminkt.

Guadeloupe 2023 © Stephan Martens

Ansonsten sind die Beziehungen zwischen den DROMs und Deutschland von zweitrangiger Bedeutung, sie gehen eher auf vereinzelte Geschäftsideen als auf Unternehmensstrategien zurück, und beschränken sich fast ausschlieβlich auf den Tourismussektor. Auch einige kulturelle Vereine, lediglich in Guadeloupe, Martinique und La Réunion, tragen zum besseren wechselseitigen Kennerlernen bei. Aber nur das Fremdenverkehrsamt von La Réunion unterhält neben Vertretungen in Paris und Johannesburg auch ein Büro in Frankfurt am Main. Die Tatsache, dass es weder direkte Flugverbindungen zwischen Deutschland und La Réunion noch zu den anderen DROMs gibt, erschwert allerdings einen systematischen Aufschwung des Tourismus aus dem deutschsprachigen Raum.

Um trotz der geographischen Distanz und der sozioökonomischen Hindernisse den Austausch zwischen den DROMs und Deutschland zu entwickeln, warum nicht Partnerschaften und eine gezielte Zusammenarbeit mit Überseestädten und -départements ins Auge fassen, um gemeinsame Interessen zu verfolgen, in Bereichen wie Energie, Ökologie und Tourismus ? Eine solche Zusammenarbeit würde zwar nicht die Unruhe in den deutsch-französischen Beziehungen beeinflussen, hätte aber den Vorteil, dass sie auf eine originelle Dynamik einwirken würde, die diese Beziehung mittlerweile so dringend benötigt.

© Stephan Martens

Der Autor

Stephan Martens ist Professor für Deutschlandstudien und European Studies an der CY Cergy Paris Université und wissenschaflicher Mitarbeiter bei AGORA (CY Cergy Paris Université) und beim Conseil québécois d’études géopolitiques (Université de Laval). Außerdem ist er Mitglied des Lenkungsgremiums des Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA) in Paris. Von 2011 bis 2014 war er Recteur d’académie in Guadeloupe, und von 2018 bis 2019 in Mayotte. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen deutsche Auβenpolitik, deutsch-französische Beziehungen, geopolitische Herausforderungen in Europa und Erinnerungsfragen (Deutschland, Namibia, Französische Antillen).

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