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Französische Literatur in Deutschland

Unterschichtsscham: Wie Frankreichs „Klassenüberläufer“ deutsche Autoren inspirierten

Martina Meister

© Adobe Stock

18. September 2023

Schreiben Franzosen die besseren Bücher? Vor einigen Monaten ging eine große deutsche Tageszeitung der Frage nach, warum französische Autoren in Deutschland erfolgreicher sind als umgekehrt die deutschen Schriftsteller in Frankreich. Die Rede war unter anderem von Patrick Modiano, Michel Houellebecq und Yasmina Reza, die man längst zu den Klassikern der französischen Gegenwartsliteratur zählen darf. Aber vor allem ging es um das Erfolgstrio Annie Ernaux, Didier Eribon und Edouard Louis.

Die Antwort fiel mager aus. Zwischen dem kolonialen Erbe Frankreichs, das der frankophonen Literatur einen kosmopolitischen Klangraum gibt, den großen französischen Literaturpreisen, die eine Werbewirkung haben, und der traditionellen Faszination der Deutschen für Frankreich blieb man nach der Lektüre eher ratlos zurück.

Der deutsche Hang zur Sozialromantik

Bei allen drei handelt es sich um „sozio-biographische“ Bücher, eine Neuauslegung der alten französischen Tradition autobiographischen Schreibens, nach dem Vorbild Michel de Montaignes und Jean-Jacques Rousseaus. „Es ist tatsächlich ein sehr französisches Modell des Schreibens, das in Deutschland fehlt“, urteilt Jürgen Ritte, Germanistikprofessor an der Pariser Sorbonne, der den Hype um die drei Autoren ansonsten nicht nachvollziehen kann. Abgesehen vom Rückzug auf das eigene Ich, wittert er in ihrem Erfolg „Relikte von einer etwas arroganten Sicht auf Frankreich“, wo man bei jeder sozialen Krise mit einer gewissen Schadenfreude von oben herab auf das Nachbarland blickt, in dem die Klassengesellschaft brutaler erscheint. Womöglich bedienen diese Bücher auch einen deutschen Hang zur Sozialromantik, vermutet Ritte, ähnlich wie die Gelbwestenproteste oder die Demonstrationen gegen die Rentenreform, die den alten französischen Mythos der Revolution wiederbeleben.

Soziale Überläufer

Aber Frankreichsehnsucht oder Sozialromantik allein können kaum eine Erklärung dafür sein, dass Eribon und Louis in Deutschland wie Rockstars ganze Hallen füllen und im Zuge ihres Erfolgs Ernaux erst richtig entdeckt wurde. Die Bücher der „sozialen Überläufer“, transfuges de classe, wie es die französische Autorin bereits seit Mitte der 80er Jahre nennt, treffen ganz offensichtlich den Nerv der deutschen Leserschaft, zur Überraschung der Verlage.

Édouard Louis, 2019 © Wikimedia Commons

Frankreich als Sehnsuchtsort? Gilt das fortan nicht nur für eine romantisches Frankreich von Boule-Partien unter Platanen, in dem man selbst gerne zuhause wäre, sondern auch für die ärmlichen Verhältnisse, in denen Ernaux, Eribon und Louis aufgewachsen sind? Als „En finir avec Eddy Bellegueule“ 2014 im Nachbarland erschien, das erste Buch des damals 22-jährigen Edouard Louis, mussten sich deutsche Verleger die Frage stellen, ob sich diese Art der Literatur auch hierzulande verkauft. Interessiert sich eine deutsche Leserschaft für das Leiden und die Diskriminierung eines jungen Schwulen aus einem verarmten Kaff im deindustrialisierten Norden Frankreichs? Ist Armut wirklich sexy und alltägliche Gewalt etwas, das sich mit der eigenen Lebensrealität entfernt deckt? Anders als die Eiffelturm- und Lavendelbücher bedient „Das Ende von Eddy“ ganz offensichtlich nicht die üblichen Klischees von Frankreich. Im Gegenteil. Die Handlung ist nicht in der Provence angesiedelt, sondern im tristen Norden, und auch Essen spielt nur eine Rolle, weil nicht immer genug auf den Tisch kommt.

Blinder Fleck in der deutschen Literaturlandschaft

„Ich erinnere mich noch sehr genau, als ich das Manuskript zum ersten Mal las und an die Sogwirkung, die es entfaltete“, erzählt Friederike Schilbach, damals bei Fischer, heute leitende Lektorin beim Aufbauverlag. Sie saß im ICE von Frankfurt nach Berlin und war fasziniert von einer Welt, die „sonst auf der literarischen Landkarte nicht oft vorkommt“. Sie hatte das Gefühl, dass in Louis‘ Buch Themen zur Sprache kamen, die in der deutschen Gegenwartsliteratur schlicht ausgeblendet wurden. Homophobie, die Existenz der Klassengesellschaft und Scham über die eigene Herkunft schienen ein „blinder Fleck“ zu sein. Schilbach erhielt den Zuschlag und erlebte die Erfolgsgeschichte von „Das Ende von Eddy“ hautnah mit. Über 20.000-mal hat sich das Buch allein in der Hardcover-Ausgabe verkauft.

Wie erklärt man diesen blinden Fleck der deutschen Gegenwartsliteratur für die soziale Frage? Gut möglich, dass das Bewusstsein für eine Klassengesellschaft in der jungen BRD schlicht nicht so ausgeprägt war wie in Frankreich, mutmaßt Literaturkritiker Helmut Böttiger. „Die BRD war eine reiche Gesellschaft, der Wohlstand streifte sogar die untere Mittelschicht. Aber im Zeichen einer allgemeinen Krise scheint das plötzlich auch hier aktuell zu sein“, so Böttiger. Die literarische Abbildung des Abstiegs hat den Umweg über Frankreich genommen. Das Nachdenken über die Scham der Herkunft hat in Deutschland inzwischen zahlreiche Kollegen inspiriert. Dazu gehören Daniela Dröscher („Zeige Deine Klasse“), Katja Oskamp („Marzahn mon amour), Deniz Ohde („Streulicht“) und natürlich Christian Baron, dessen autobiographisches Buch „Ein Mann seiner Klasse“ gerade verfilmt wird. Baron bezeichnet die Lektüre von Eribon und Ernaux als „Erweckungserlebnis“: „Ohne die Lektüre ihrer Bücher hätte ich mich nicht getraut, mein Buch zu schreiben“, sagt er im Interview mit Maike Albath, die in einem Radioessay den „Wegen nach unten“ nachgeht. 

Front National als Matrix für die AfD

Didier Erbon © Imago

Als der Suhrkamp Verlag die Rechte für „Die Rückkehr nach Reims“ erwirbt, fand Frank Wegner, Programmleiter für internationale Literatur bei Suhrkamp, den Ansatz „ehrenwert“, ja er war überzeugt, „ein Meisterwerk der Erinnerungsliteratur“ in den Händen zu halten, konnte sich aber nicht vorstellen, dass dieses Buch in Deutschland mehr als eine Nischenpublikum erreichen würde. Schließlich geht es in dem autobiographischen Essay um die scheinbar sehr französische Frage, wie aus Eribons Vater, einem überzeugten Kommunisten, ein Wähler des rechtspopulistischen „Front National“ werden konnte.
Inzwischen hat das Buch eine Auflage von 150.000 Exemplaren erreicht. Abgehängte Klassen, die sich Populisten zuwenden, sind längst kein französisches Phänomen mehr. Frankreich war schlicht Vorreiter. Für Wegner steht Eribons Erfolg in einem direkten Zusammenhang mit dem Aufstieg der AfD. „Rückkehr nach Reims“ sei eine Art „Matrix“, so Wegner.  In Deutschland habe das Bewusstsein für die Relevanz dieses Themas schlicht mehr Zeit gebraucht. „Heute steht Eribon für ein anderes Nachdenken und eine neue Schreibwiese mit Klassenbewusstsein“, sagt Wegner. Insofern bedient Eribon auch die alte deutsche Sehnsucht nach einer intellektuellen Gallionsfigur.

Die feinen Unterschiede

Zentral für alle drei Autoren war die Arbeit des Soziologen Pierre Bourdieu, der in seinem Buch „Die feinen Unterschiede“ die Wirkung wirtschaftlicher Macht auf das kulturelle und symbolische Kapital und die subtilen Unterdrückungs- und Ausschlussmechanismen analysiert hatte. Eribon, Ernaux und Louis sind allerdings der Beweis dafür, dass aller Widerstände zum Trotz die Meritokratie des französischen Bildungssystems funktioniert. Schule und Universität waren nicht nur Befreier, sondern zum Teil auch Ernährer.

Annie Ernaux, Stockholm 2022 © Wikimedia Commons

Ernaux hat bis zu ihrer Pensionierung als Französischlehrerin gearbeitet, Eribon ist Akademiker, Soziologieprofessor in Amiens. Alle drei haben aus ihrer Unterschichtsherkunft kulturelles Kapital geschlagen. Ihre Bücher sind Bestseller. Ernaux‘ wurde für ihr Lebenswerk mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Entfremdung von der Familie, Befreiung aus beengenden Verhältnisse mag schmerzhaft sein, aber mitunter zahlt es sich aus.

Die Autorin

© Martina Meister

Martina Meister arbeitet seit über zwanzig Jahren als Korrespondentin aus Frankreich, anfangs schrieb sie vorwiegend über kulturelle, kulturpolitische und gesellschaftliche Themen, seit 2015 ist sie politische Korrespondentin von WELT & WELT AM SONNTAG. Sie hat François Duby aus dem Französischen übersetzt, das Onlinemagazin „Mad about Paris“ gegründet und ist Autorin des Buches „Filou oder glücklich mit Hund“.

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