Macron in Deutschland
Ein Staatsbesuch kann helfen
5. Juli 2023
Die Absage schwebte seit ein paar Tagen in der Luft. Am 1. Juli war es dann offiziell: Der Staatsbesuch des französischen Präsidenten musste wegen der anhaltenden Unruhen in den Banlieues verschoben werden. Nachholtermin noch offen.
Der Staatsbesuch Emmanuel Macrons wäre der sechste eines französischen Präsidenten in Deutschland gewesen. Charles de Gaulle hatte im September 1962 den Anfang gemacht, drei Monate nachdem er zusammen mit Konrad Adenauer in der Kathedrale von Reims die deutsch-französische Versöhnung gefeiert hatte. Es folgten Valérie Giscard d’Estaing (Juli 1980), Francois Mitterrand (Oktober 1987) und Jacques Chirac (Juni 2000). Eingeklemmt zwischen zwei letztgenannten, der umstrittene DDR-Besuch Francois Mitterrands im Dezember 1989. Man könnte meinen: insgesamt nicht viel angesichts des einzigartigen Charakters der deutsch-französischen Beziehungen. Man könnte sich im Umkehrschluss fragen, wozu beide Länder heute noch Staatsbesuche brauchen. Der deutsch-französische Austausch sei mittlerweile so rege, dass solche pompösen Empfänge sich erübrigen. Überhaupt: In Zeiten schwindender Ressourcen könne man nur noch selten auf dieses Instrument zurückgreifen.
Gesucht: eine positive Wellenbewegung
Dass der Bundespräsident nun doch eine Einladung aussprach, weckte viele Spekulationen über die Fortschritte, die der Staatsbesuch mit sich bringen würde. Die Voraussetzungen für neue deutsch-französische Initiativen sind sicherlich besser als vor ein paar Monaten. Die Divergenzen, die beide Länder an den Rand der Nervenkrise gebracht haben, sind allerdings nicht vom Tisch. Ob in der Verteidigungs-, Energie- oder Wirtschaftspolitik: Deutschland und Frankreich sind sich über vieles uneinig. Dass ihnen die Kompromissfindung schwerfällt, hat aber auch einen positiven Hintergrund: „Die low hanging fruits der Beziehung zu Frankreich sind weitgehend abgeerntet“ (Jacob Ross). Will sagen: Die deutsch-französischen Beziehungen sind nicht in einem schlechten Zustand, nur weil es Meinungsverschiedenheiten gibt. Sie sind besser als ihr Ruf. Darüber gilt es auch zu kommunizieren. Den Finger insistierend auf die Divergenzen zu legen, vertieft die negativen Schwingungen. Erst wenn wir uns auf die positiven Punkte konzentrieren, ergibt sich eine positive Wellenbewegung, von der am Ende alle profitieren. Und hier kann ein Staatsbesuch Abhilfe leisten – jenseits der Meistererzählung der deutsch-französischen Freundschaft.
Eine demonstrative Einigkeit
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine Konvergenz zwischen beiden Ländern herbeigeführt. Chirac und Schröder hatten im Irak-Krieg (2003) zusammengefunden, Macron und Scholz näherten sich im Zuge des Krieges in der Ukraine an. Der Präsident erkannte, dass der Traum von europäischer Souveränität sich ohne Deutschland nicht realisieren lässt; der Bundeskanzler, dass „leading from behind“ keine tragfähige Option ist.
Während beide Länder vor wenigen Monaten noch bevorzugt auf Alleingänge setzten, üben sie sich nunmehr in demonstrativer Einigkeit. Sie treten auf dem internationalen Parkett verstärkt zusammen auf. Jüngstes Beispiel: der Besuch, den Nancy Faeser und Gérald Darmanin Tunisien, dem Hotspot der Migration nach Europa, abstatteten.
Paris und Berlin haben zudem im Frühling eine Serie gegenseitiger Begegnungen gestartet, die in der Geschichte der bilateralen Beziehungen einmalig ist. Vom Besuch Annalena Baerbocks bei ihrer „Freundin“ Catherine Colonna am 9. und 10. Mai bis hin zum Austausch zwischen Generalstabschef Burkard und seinem deutschen Counterpart in Berlin am 21. Juni: Kaum eine Woche, ohne dass sich hochrangige Entscheidungsträger*innen treffen. Und hier ist klar: Der geplante Staatsbesuch hat den Impuls gegeben. „Aber ein Staatsbesuch ist ein Plus, das es ermöglicht, über Freundschaft oder Geselligkeit hinaus zu zeigen, dass es einen echten Willen zu einer tiefen Übereinkunft gibt“, erklärte Jacques Chirac am 27. Juni 2000 vor dem Bundestag. 23 Jahre später hat den Satz nichts an Relevanz verloren.
Es geht letztendlich um Emotionen
Ein Staatsbesuch erfüllt aber auch einen anderen Zweck. Er transportiert Emotionen in die Gesellschaft, fördert Empathie und schafft somit die Voraussetzungen für neue gemeinsame Initiativen bzw. die Lösung wichtiger Fragen. Und hier kommt es vor allem auf den Gast an. 1962 hatte de Gaulle den Wunsch geäußert, „unmittelbar zu dem deutschen Volk in allen seinen Schichten und Ständen zu sprechen“ (Archiv der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus). Das Programm des Staatsbesuchs Emmanuel Macrons sah genau dies vor. Macron hat sicherlich nicht das Talent eines Jacques Chiracs. Hände schütteln, Kinderwangen küssen, Menschenmengen durch seine Gegenwart begeistern: Das konnte der 2019 verstorbene Staatspräsident besser als alle anderen. Macron weiß aber ganz genau, wie er Menschen in seinen Bann ziehen und sie für seine Sache gewinnen kann. Auf einer Bühne zu stehen und sich auf ein Gespräch einzulassen. Das kann er am besten!
Einen Gegenbesuch planen
Es bleibt nun zu hoffen, dass der verschobene Staatsbesuch zügig nachgeholt wird. Dabei sollte es allerdings nicht bleiben. Bei der Gestaltung des Programms sollte von Anfang an ein Gegenbesuch mitgedacht werden. Der spröde Bundeskanzler wird sich sicherlich schwer damit tun. Frankreich muss aber dringend einen direkten Kontakt zu ihm herstellen: „Ein gewisses Maß an Verbundenheit ist schon nötig, denn sonst wird aus der Partnerschaft schnell eine Rivalität“, bemerkte zuletzt Michaela Wiegel. In der Pandemie hat sich, vor allem in den Grenzregionen, gezeigt wie schnell der enge Partner zum Fremden, ja zum Feind, werden kann. Das darf nicht unterschätzt werden.
Zur Realität gehört auch, dass in Frankreich – wie überall in Europa – Extremisten und Populisten auf dem Vormarsch sind. Ob Le Pen oder Mélenchon: Beide werden nicht müde, Deutschland unter Beschuss zu nehmen. Jüngstes Beispiel: die Rentenreform – vom Vorsitzenden des Rassemblement National, Jordan Bardella, als das Ergebnis eines von Brüssel bzw. Berlin geschmiedeten „Komplotts“ dargestellt. Wenn die Extremisten und Populisten auf dieser Klaviatur spielen, dann, weil sie wissen, dass sie mit solchen Argumenten punkten können. Ein Teil Frankreichs hat ein „Deutschlandproblem“: Auch dies gehört zur Realität.
Dennoch: Umfragen zeigen, dass eine große Mehrheit der Deutschen und Franzosen nach wie vor davon überzeugt ist, dass eine enge Zusammenarbeit beider Länder zukunftsentscheidend ist: 76% auf deutscher Seite, 63% auf französischer, wie die im Kontext des 75. Jubiläums des Deutsch-französischen Instituts durchgeführte Allensbach-Umfrage gezeigt hat. Der Abschiedsbesuch Angela Merkels im Weinort Beaune (3. November 2021) hat auch deutlich gemacht, dass die Franzosen sich dem Nachbarn nach wie vor tief verbunden fühlen und es wissen lassen können. Dieses Potential gilt es auszunutzen: in Paris aber auch in der „Province“.
Die Sympathie zwischen Deutschland und Frankreich ist alles andere als spontan. Sie ergibt sich aus der Geschichte und aus der Erkenntnis heraus, dass sie eine Schicksalsgemeinschaft teilen. Nun verstehen sich beide Länder als Willensgemeinschaft. Doch das bedeutet längst nicht, dass sie zukunftsfähig sind. Daran muss jetzt gearbeitet werden. Ein Staatsbesuch kann dabei helfen.
Zum Autor
Landry Charrier ist Mitglied der CNRS-Forschungseinheit SIRICE (Sorbonne, Paris), Associate Fellow am Global Governance Institute (Brüssel) sowie am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn). Er ist zudem Ko-Produzent des Frankreich-Podcasts Franko-viel und Redaktionsleiter der Zeitschrift Dokumente. Seine Schwerpunkte sind die deutsch-französischen Beziehungen im globalen Kontext sowie Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik.
Weiter zum Thema
– Jacob Ross: „Macrons Besuch als Chance nutzen“, DGAP Memo (28. Juni 2023), https://dgap.org/de/forschung/publikationen/macrons-besuch-als-chance-nutzen.
– Michaela Wiegel: „Evidence of Affection“, Internationale Politik Quartely (28. Juni 2023), https://ip-quarterly.com/en/evidence-affection.