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Verteidigung

„Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, der europäische Dreh- und Angelpunkt der NATO zu werden.“

Interview mit Élie Tenenbaum

Ein Leopard 2 im „Einsatz“ © Wikimedia Commons

25. September 2023

Die deutsch-französische militärische Zusammenarbeit war in den letzten Wochen Gegenstand zahlreicher Debatten. Im Mittelpunkt der Diskussionen: das deutsch-französische Projekt für den Kampfpanzer der Zukunft, kurz MGCS. dokdoc sprach darüber mit Élie Tenenbaum, Direktor des Zentrums für Sicherheitsstudien des IFRI.

dokdoc: Élie Tenenbaum, Sie bereiten zusammen mit Léo Peria-Peigné eine detaillierte Studie über die Zeitenwende und ihre Auswirkungen auf die deutsch-französische militärische Zusammenarbeit vor. Können Sie uns ein paar Worte dazu sagen?

Élie Tenenbaum: Die Idee war zunächst, zu schauen, was Deutschland seit dem 27. Februar 2022 zu tun versucht, mit welchen Mitteln und wie sich das in einen komplexeren Rahmen einfügt. Aber auch über die Auswirkungen auf Frankreich nachzudenken, da die Studie ursprünglich für eine französische Leserschaft gedacht war und Empfehlungen für unsere Armeen enthalten sollte.

dokdoc: Wie beurteilen Sie heute die Rede vom 27. Februar 2022 und die von Bundeskanzler Scholz angekündigte Bereitstellung von 100 Milliarden zur Modernisierung der Bundeswehr?

Élie Tenenbaum: Sowohl aus französischer als auch deutscher Sicht erscheint es auf den ersten Blick so, als ob die Rede von Bundeskanzler Scholz mit seinem Konzept der Zeitenwende die Messlatte sehr hochgelegt und Erwartungen geweckt hat, die das Sondervermögen als solches nicht erfüllen kann. Deutschland wird bis zum NATO-Gipfel in Washington anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Bündnisses im Juli 2024 die 2% Verteidigungsausgaben vom Bruttoinlandsprodukt zwar erreichen können und so dem amerikanischen Druck nach „Lastenteilung“ (burden sharing) gerecht werden. Aber bis 2026 wird es wahrscheinlich wieder unter die 2 % fallen, wenn das Sondervermögen erst einmal ausgeschöpft sein wird. Mit dem regulären Verteidigungshaushalt von dann vielleicht 56 Milliarden Euro werden demnach 20 Milliarden an den 2 % fehlen. Da sehen wir also einen Taschenspielertrick, auf den man nicht hereinfallen sollte.

dokdoc: Geld scheint nicht das einzige Problem zu sein, mit dem die Bundeswehr derzeit zu kämpfen hat.

Élie Tenenbaum © IFRI

Élie Tenenbaum: Völlig richtig. Zu dieser haushaltspolitischen Dimension kommen strukturelle Herausforderungen hinzu, die im Übrigen auch von Frankreich aus deutlich sichtbar sind. Zunächst sind da die Schwierigkeiten bei der Wartung und der Verfügbarkeit von Material, die die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr ganz generell beeinträchtigen. Noch gravierender ist das Defizit im Bereich der Humanressourcen – aktuell kann die Bundeswehr rund 23.000 Stellen nicht besetzen. Und schließlich das aus Pariser Sicht vielleicht Wichtigste: eine gegenüber offensiven letalen Maßnahmen zögerliche, wenn nicht gar zurückhaltende militärische und operative Kultur. Die Kombination all dessen lässt viele Beobachter in Frankreich zu dem Schluss kommen, dass man die Zeitenwende nicht allzu ernst nehmen sollte.

dokdoc: Schließen Sie sich dieser Analyse an?

Élie Tenenbaum: Ich persönlich möchte diese Sichtweise stark nuancieren. Sicherlich ist die Bundeswehr nicht dabei, eine „Einsatzarmee“ im Sinne Frankreichs zu werden, d.h. eine auf Auslandseinsätze ausgerichtete Armee, die notfalls zu töten und zu sterben bereit sein muss, mit all dem kriegerischen Ethos, das dies mit sich bringt. Im Gegensatz dazu scheint mir, dass Deutschland dabei ist, etwas anderes aufzubauen, das in der DNA der Bundeswehr selbst verankert ist, die 1955 ja als „deutsche NATO-Armee“ gegründet wurde. Und an diese Kernbestimmung knüpft sie nicht erst seit dem 27. Februar 2022, sondern mindestens seit dem Gipfeltreffen in Wales im Jahr 2014 wieder an. Das war kurz nach der Annexion der Krim: Die USA wandten den Blick nach Asien; Frankreich war in Antiterroroperationen im Nahen Osten und in Afrika verwickelt. Was das Vereinigte Königreich betraf, so schien sein Kurs nach Afghanistan und dem Krieg in Libyen noch unklar zu sein. Deutschland beschloss daraufhin, als Nation den Rahmen für die konventionelle Verteidigung in Kontinentaleuropa zu bilden, und zwar im Rahmen eines Projekts, das als Framework Nation Concept bezeichnet wird.

dokdoc: Ein Projekt, das, wenn ich Sie richtig verstanden habe, den Beginn einer neuen Ära markierte. Könnten Sie das bitte erläutern?

Élie Tenenbaum: Das FNC hat zwei Aspekte: eine operative Dimension mit deutschen Kommandostrukturen, an die sich kleinere Armeen „andocken“ können, und eine kapazitätsbezogene und industrielle Dimension, bei der die deutsche Industrie wiederum als Integrator europäischer oder sogar transatlantischer Projekte fungieren kann, mit einem großen Kundenkreis, der sich um eine Nutzergemeinschaft gruppiert. Alle nachfolgenden Kooperationen, ob es sich nun um von Deutschland getragene Projekte im Rahmen der ständigen strukturieren Zusammenarbeit PESCO oder um bilaterale bzw. Ad-hoc-Projekte handelt, beziehen sich in der Tat auf den vom FNC gegebenen Rahmen.

Die Idee ist einfach: Aufgrund der doppelten Anstrengungen haben die Europäer nicht mehr die Mittel, als einzelne Länder vollständige Armeen zu unterhalten. Wenn wir hingegen alle kleinen Akteure in einem von einigen großen Staaten integrierten Ganzen zusammenlegen und spezialisieren, können wir wieder Kohärenz herstellen. Und gerade, weil Deutschland seine politischen, wirtschaftlichen, militärischen sowie demografischen Grenzen sieht, hat es sich zum Ziel gesetzt, die Bundeswehr eher zu einem militärischen Integrator als zu einer echten Armee zu machen.

dokdoc: Was bedeutet das konkret? Das Gipfeltreffen in Wales fand vor neun Jahren statt. Wo stehen wir heute?

Élie Tenenbaum: Deutschland hat seit 2014 einen weiten Weg zurückgelegt. Heute ist es dabei, der europäische Dreh- und Angelpunkt der NATO zu werden, der „europäische Pfeiler“ der NATO, der, ohne es allzu deutlich zu sagen, die Züge einer Art europäischer Armee annimmt. Das auffälligste Beispiel ist die Integration mit dem niederländischen Heer, das seine drei Brigaden nunmehr unter das Kommando der drei deutschen Divisionen gestellt hat. Auch bei den Kapazitäten gibt es ein sehr hohes Maß an Integration mit den Norwegern, zum Beispiel im Rahmen der Marine mit dem TKMS-Projekt Common Design U-Boot Typ 212CD. Auf operativer Ebene betreibt Berlin das Projekt Baltic Maritime Component Command, das eine einzigartige Architektur für ein deutsches Kommando in der Ostsee mit Komponen-ten der Küstenmarinen der Länder in der Region bieten würde. Wir haben ein Äquivalent für die Luftwaffe, mit einer Art Joint Force Air Component Command, das auf Mitteleuropa rund um die Multinational Air Group spezialisiert ist. Diese spielte eine wichtige Rolle bei der letzten Übung Air Defender Ende Juni 2023. Und schließlich das extrem wichtige Logistikkommando mit der Einrichtung eines Joint Support and Enabling Command (JSEC) der NATO in Ulm, das von der Bundeswehr um ihre eigene Logistik, die Streitkräftebasis, herum aufgebaut wurde. Das JSEC ist nun eines der großen operativen NATO-Kommandos, das als Drehscheibe in Verbindung mit den beiden operativen Kommandos Nord und Süd, Brunssum und Neapel, für die „innere Flanke“ fungieren soll.

dokdoc: Das scheint ziemlich weit von der französischen Militärkultur entfernt zu sein.

Élie Tenenbaum: Das zeigt, dass Deutschland sich viel mehr als multilateraler und NATO-Integrator denkt denn als nationale Armee. Das Ziel ist es, für transatlantische Solidarität zu sorgen und eine hochintensive konventionelle Armee aufzubauen, die in der Lage ist, konventionell abzuschrecken. Dieser Begriff der konventionellen Abschreckung wurde in Frankreich nie akzeptiert, wo die Abschreckung zwangsläufig nuklear ist und die Armeen in erster Linie Einsatzarmeen sind.

Letztendlich verweist der aktuelle Kurs der Bundeswehr zu einem guten Teil auf ihre Mission in den 60er und 70er Jahren auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Der große Unterschied besteht darin, dass sich das Schlachtfeld heute nicht mehr auf deutschem Boden befindet, der vor allem zu einer rückwärtigen Basis geworden ist. Die Einsätze finden eher im Osten statt. Das beste Beispiel dafür ist die Bildung einer Brigade der Enhanced Forward Presence Battlegroup unter deutschem Kommando in Litauen.

dokdoc: In den letzten Wochen wurde viel über „Ausrüstung“ gesprochen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Treffen der Verteidigungsminister Lecornu und Pistorius in Évreux. Welchen Platz nimmt die amerikanische Rüstungsindustrie in Ihrer Analyse ein? Das ist bekanntlich ein Thema, das in Paris zu heftigem Zähneknirschen führt.

Sébastien Lecornu und Boris Pistorius in Berlin, 10.07.2023 © Imago

Élie Tenenbaum: Seien wir ehrlich, die großen deutschen Ausrüstungsentscheidungen sind letztlich ziemlich logisch. Wenn Sie der große Integrator sein wollen, sowohl in Europa als auch in einer Logik der Stärkung der transatlantischen Verbindung, dann liegt die Wahl der F-35 auf der Hand. Denn man weiß ja, dass dieses Flugzeug nicht nur ein Kampfflugzeug ist, sondern auch eine Plattform für die Systemintegration und die Datenfusion der großen Netzwerke, und zweifellos die Voraussetzung für die Interoperabilität mit der US Air Force in den kommenden Jahren. Es ist das Integrationsflugzeug par excellence für alle, die so eng wie möglich mit den Amerikanern verzahnt sein wollen und nicht besonders daran interessiert sind, strategisch autonom handeln zu können, wie Frankreich es gerne hätte.

dokdoc: Und auf den Kampfpanzer zurückgeführt? Wie sollen wir das verstehen?

Élie Tenenbaum: Der Fall des Main Ground Combat System (MGCS) ist etwas komplexer. Hier geht es nicht mehr um transatlantische Solidarität, da es ohnehin kein großes Projekt für den Export von US-Panzern nach Europa gibt. Das Projekt überschneidet sich indes insbesondere mit den Interessen des deutschen Rüstungsunternehmens Rheinmetall mit seiner Stammkundschaft rund um den Leopard 2 – diese Kundschaft entspricht zum Teil der vom FNC skizzierten „geopolitischen Kundschaft“. Die Rüstungsunternehmen für die Verteidigung zu Lande verbinden diese Nutzergemeinschaft mit der Aufstellung ihrer Produktionsstandorte mit Fabriken in der Tschechischen Republik, Rumänien und anderen Ländern.

In diesem Ansatz kommt die deutsch-französische Dimension letztlich recht spät und vor allem von sehr hoher politischer Ebene. Gerade der französische Staatspräsident fordert nachdrücklich gemeinsame Strukturvorhaben. Dies rührt von der sehr französischen Vorstellung her, dass Europa um das Binom – das „Paar“, wie es auf Französisch heißt – Deutschland und Frankreich herum konstruiert ist. Zumindest im Verteidigungsbereich scheint dies jedoch schon lange nicht mehr der Fall zu sein: Deutschland versucht, Europa aufzubauen, indem es die eher östlichen und nördlichen Länder um sich herum gruppiert. Aus deutscher Sicht scheint Frankreich einen anderen Weg zu gehen, sowohl was seine Ambitionen in Bezug auf Atomwaffen, strategische Autonomie und Militäreinsätze angeht, als auch mit einer Weltsicht, die sich von der der „Kontinentalen“ unterscheidet.

dokdoc: Schließlich hat man, wenn man Ihnen zuhört, das Gefühl, dass man die Dinge entgegen den Ankündigungen in Évreux von einer Einigung noch weit entfernt ist.

Élie Tenenbaum: Ein Kampfpanzer und ein Kampfflugzeug sind nicht nur Waffensysteme, sondern auch strukturierende Projekte, von denen viele Dinge abhängen und die ihrerseits aus einer Übereinstimmung der Ansichten, der Doktrin und der Einsatzszenarien hervorgehen müssen. Wenn diese Projekte jedoch, wie es bisher oft der Fall war, im Namen eines verzerrten Bildes der deutsch-französischen Beziehungen von oben oktroyiert werden, bleiben sie ohne Bodenhaftung und kollidieren mit den (industriellen, operativen oder strategischen) Vorgehensweisen, die in Deutschland viel strukturierender sind als in Frankreich. Aus diesem Grund sieht man bei Gesprächen mit Offizieren der Luftwaffe und der Armée de l’Air, dass das zukünftige Luftkampfsystem FCAS auf große Skepsis stößt; das ist ganz klar. Ebenso lehnt Rheinmetall das Panzerprojekt MGCS klar ab, und nur wenige in den Armeen beider Länder unterstützen das Projekt – auch wenn es für sie heikel ist, sich zu einem so politischen Thema zu äußern.

dokdoc: Élie Tenenbaum, ich danke Ihnen für dieses Interview.

Das Gespräch führte Landry Charrier

Übersetzung: Norbert Heikamp

Unser Gast

Élie Tenenbaum ist Direktor des Zentrums für Sicherheitsstudien am Institut Français des Relations Internationales (Ifri). Er ist Absolvent von Sciences Po und war Visiting Fellow an der Columbia University. Er unterrichtete zudem internationale Sicherheit an Sciences Po und Geschichte der internationalen Beziehungen an der Université de Lorraine. Er beschäftigt sich insbesondere mit der Problematik der irregulären Kriegsführung, der Terrorismusbekämpfung und der hybriden Bedrohungen sowie mit der französischen Verteidigungspolitik und den militärischen Operationen.

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