Wirtschaft & Finanzen
„Im Vergleich zu Deutschland kann Frankreich ziemlich breitbrüstig auftreten“
In Deutschland und Frankreich wurde in den vergangenen Wochen intensiv über den Haushaltsplan 2024 diskutiert. Während die Aufregung in Deutschland sich mittlerweile gelegt hat, nimmt sie in Frankreich weiterhin an Fahrt auf. Vieles ist noch offen aber eins ist schon sicher: Frankreich wird 2024 Europas Schuldenkönig bleiben. dokdoc hat mit Armin Steinbach darüber gesprochen.
dokdoc: Herr Steinbach, wie ist es aktuell um die deutsch-französischen Beziehungen bestellt?
Armin Steinbach: Die deutsch-französischen Beziehungen müssten eigentlich im Lichte des Krieges in der Ukraine und der damit einhergehenden Krise besser sein als je zuvor – vor allem, wenn man bedenkt, dass vor dem Krieg die wirtschaftliche Verflechtung beider Länder eher abgenommen hatte. Die Krise hat deutlich gemacht, dass beide Länder aufeinander angewiesen sind. Doch sie hat auch gezeigt, dass Deutschland und Frankreich ganz unterschiedliche Interessen verfolgen. Das sehen wir mindestens in drei Feldern. Erstens bei der Energieversorgung. Zweitens beim Schutz der Industrie von Verteidigungsgütern: Da geht es um ganz harte und protektionistische Eigeninteressen. Und drittens im Wettbewerb um industrielle Marktanteile. Das sehen wir ja aktuell in Deutschland, wo über die Strompreise und einen Industriestrompreis diskutiert wird, um ein Abwandern der energieintensiven Industrien zu vermeiden. Und da blickt Deutschland ganz misstrauisch auf Frankreich, das in erheblichem Umfang seine Unternehmen mit billigem Strom versorgt.
dokdoc: In beiden Ländern wurde und wird intensiv – teilweise kontrovers – über den Haushalt 2024 diskutiert. Am 5.09 sagte Finanzminister Lindner: „Der Haushalt 2024 ist ein Haushalt mit Geld und Verstand, ein Haushalt mit Mut statt Leichtsinn, ein Haushalt mit weniger Schulden und mehr Chancen. Kurzum: ein kluger Haushalt der Veränderung“. Fährt Deutschland den richtigen Kurs angesichts des Investitionsbedarfs in zahlreichen Bereichen?
Armin Steinbach: Deutschland befindet sich in einer schwierigen Situation. Einerseits ist der Investitionsbedarf immens. Er betrifft viele Bereiche wie Infrastruktur, Straßen, Schulen, Schienen, Brücken und insbesondere die Dekarbonisierung der Volkswirtschaft. Andererseits ist das aktuelle Umfeld kein günstiges für expansive Staatsausgaben. Die Inflation ist hoch, es fehlen Fachkräfte: Ein groß angelegtes Investitionsprogramm würde da nur die Inflation weiter anheizen. Außerdem steigen die Anleihezinsen der Staaten, und die Märkte reagieren zunehmend nervös. In einer solchen Situation ist es wichtig, dass Deutschland ein haushaltspolitischer Stabilisator in der EU ist.
dokdoc: Der Haushalt 2024 soll auch die Rückkehr der Schuldenbremse markieren.
Armin Steinbach: Ja und nein. Wenn man genauer hinschaut, ist es von großem Vorteil, dass Deutschland nur scheinbar eine Schuldenbremse hat. In Wahrheit hat Deutschland durch Buchungstricks die Schuldenbremse ausgehebelt. Ein erheblicher Teil des Haushalts wird über Sondervermögen außerhalb des Haushalts abgewickelt, und diese Sondervermögen fließen nicht formal in den Haushalt ein. So wird sichergestellt, dass zwischen 2024 und 2027 für Investitionen in Klimaschutz 211 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Formal hält man aber an der Schuldenbremse fest.
dokdoc: Im Frühjahr hatte Bruno Le Maire angekündigt, die „Entschuldung“ beschleunigen zu wollen. Nun plant die Regierung – nach 4,9% in diesem Jahr – für 2024 mit einem Defizit von 4,4%, was einer Neuverschuldung von rund 130 Milliarden entspricht. Wie blicken Sie darauf?
Armin Steinbach: Mit einiger Sorge. Frankreich hat in den letzten Jahren viel gemacht. Es hat aber eben auch in den beiden Krisen, erst Corona-Krise und dann Ukraine-Krise, in erheblichem Umfang den Konsum und die Investitionen im Land gestützt, was auch konjunkturell eine kluge Entscheidung gewesen ist. Aber das hat viel Geld gekostet. Es ist nicht nur das Schuldenniveau der Franzosen, das auf Rekordniveau steht, sondern eben auch das jährliche Haushaltsdefizit. Und wenn man bedenkt, dass die europäischen Schulden und Defizite zurückgeführt werden sollten, um eine Nachhaltigkeit in den Staatsfinanzen zu gewährleisten, ist es problematisch, dass der Abbau des Defizits in Frankreich nur sehr langsam geplant ist. Erst 2027 ist die Einhaltung der aktuellen Maastrichtkriterien wieder vorgesehen.
dokdoc: Wie erklärt sich ein solches Defizit und wo sehen Sie Handlungsspielraum?
Armin Steinbach: Das Defizit ist dadurch verursacht, dass Frankreich in den beiden Krisen Stützungsmaßnahmen etabliert hat, die auch richtig waren: Strompreisbremse, Gaspreisbremse, Konsumstützung bei den Verbrauchern oder eben die Finanzhilfen für Unternehmen. Ich sehe keinen Handlungsspielraum bezüglich neuer Maßnahmen, die Frankreich avisieren könnte. Man muss viel mehr darauf achtgeben, dass die Stützungsmaßnahmen der letzten Jahre jetzt auslaufen, damit das Defizit mittelfristig oder relativ zügig auch abgebaut wird.
dokdoc: Wer wird am Ende für Frankreichs Schuldenberg zahlen müssen? Hat Frankreich trotz wirtschaftlicher und sozialer Strukturreformen seine Hausaufgaben noch nicht zu Ende gemacht?
Armin Steinbach: Im Vergleich zu Deutschland kann Frankreich ziemlich breitbrüstig auftreten. Beim Wirtschaftswachstum liegt es vor Deutschland und hat eine niedrigere Inflation. Frankreich ist besser durch die Krisen gekommen. Macron hat schneller und proaktiver gehandelt. Bei den ausländischen Direktinvestitionen ist Frankreich schon seit mehreren Jahren europäischer Spitzenreiter. Also wirtschaftlich hat der französische Präsident seine Hausaufgaben in den beiden Amtszeiten gemacht, zumindest was die Strukturreformen angeht, Arbeitsmarktreform, Pensionsreform, Steuerreform. Das war ambitioniert, und das zahlt sich jetzt aus. Eine Idee dahinter ist, dass Wirtschaftswachstum der beste Weg ist, um Schulden tragfähiger zu machen. Aber am Ende müssen die Franzosen ihren Schuldenberg selbst abtragen. Da können sie sich nicht auf europäische Programme verlassen.
dokdoc: Wie könnte eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumpaktes unter solchen Voraussetzungen aussehen? Was beabsichtigt Deutschland? Was will Frankreich? Die Wirtschaftskrise 2009, die Krise der Wirtschafts- und Währungsunion 2012–15 und die Corona-Krise 2020 zeigen: Annäherungen sind oft mühsam, Fortschritte sind aber immer möglich.
Armin Steinbach: Die Diskussion um den Stabilitäts- und Wachstumspakt ist spannungsgeladen. Sie findet in einem Umfeld statt, in dem die Zinsen steigen und die Schuldenstände in manchen Ländern Rekordniveau erreicht haben. Aber auf der anderen Seite ist der Investitionsbedarf überall groß. Traditionell ist das bei den Fiskalregeln so, dass Deutschland auf klaren Regeln und eindeutigen Grenzwerten, wie sie im Vertrag von Maastricht niedergelegt sind, fixiert ist. Gleichzeitig ist es so, und der Gedanke ist auch in Deutschland angekommen, dass es kein One-Size-Fits-All bei den Fiskalregeln geben kann, weil jedes Land in einer anderen Situation ist. Genau deshalb hat die Kommission vorgeschlagen, dass die Schuldenabbaupfade der Mitgliedsstaaten individuell ausgehandelt werden. Hier wittert Deutschland, dass damit die Regeln verwässert und unterlaufen werden.
dokdoc: Steuern wir auf einen Machtkampf zwischen Deutschland und Frankreich zu?
Armin Steinbach: Ich glaube, dass die beiden Seiten sich jetzt strategisch verhalten, um in der Verhandlung möglichst viel herauszuholen. Aber man ist in den Verhandlungen schon relativ weit gekommen. Die Kommission hat vor kurzem einen Vorschlag vorgelegt. Es geht jetzt um die Feinjustierung, um die richtige Mischung aus Flexibilität, einerseits, und der verlässlichen Rückführung der Schulden, andererseits.
dokdoc: Und wann könnte diese Reform kommen?
Armin Steinbach: Ich glaube, dass sie auf jeden Fall in dieser Amtszeit der europäischen Kommission kommen wird.
dokdoc: Wie blicken Sie auf die Zukunft? Wo sehen Sie die nächste Baustelle?
Armin Steinbach: Eine große weitere Baustelle wird die Reform des europäischen Strombinnenmarktes sein. Das ist eine der Lehren aus der jetzigen Krise, dass die einzelnen Strommärkte innerhalb Europas und Energiemärkte besser miteinander verkoppelt werden müssen. Und da prallen Interessen aufeinander, nicht zuletzt zwischen Deutschland und Frankreich. Von großer Bedeutung ist hier, dass beide Länder sich auf ein Beihilferegime einigen, d.h. auf Regeln, die ganz klar bestimmen, in welchem Umfang Unternehmen mit Subventionen gestützt und unterstützt werden können. Für Deutschland mit seinen hohen Energiepreisen steht viel auf dem Spiel. Ein Wettlauf bei Energiesubventionen für die Industrie innerhalb Europas wäre schädlich.
dokdoc: Herr Steinbach, ich danke Ihnen für das Interview.
Der Autor
Armin Steinbach ist Jean Monnet Professor für Recht und Ökonomik an der École des Hautes Études Commerciales (HEC) in Paris. Er ist auch Fellow am Max-Planck Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn und beim wirtschaftspolitischen Think-Tank Bruegel in Brüssel. Zuvor war er über zehn Jahre Ministerialbeamter. In dieser Funktion leitete er die Grundsatzreferate im Bundesministerium der Finanzen und im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie in Berlin und war wirtschaftspolitischer Berater von Frank-Walter Steinmeier im Deutschen Bundestag. Seine Forschung bewegt sich an der Schnittstelle von Politik, Recht und Ökonomie und führte ihn an die Oxford University, das Europäische Hochschulinstitut in Florenz und an die Harvard University.
Weiter zum Thema
„Vorbild Macron? Frankreichs Erfahrungen mit dem Gas- und Strompreisdeckel“. Mit Armin Steinbach und Andreas Noll. Franko-viel 22 (29. September 2022), https://franko-viel.podigee.io/22-inflation-rezession.