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Deutsch-französische Beziehungen

„Wenn wir uns immer einig wären, gäbe es keinen Mehrwert.“

Interview mit Philippe Étienne

Philippe Étienne auf der Botschafterkonferenz 2019 © MEAE/Jonathan Sarago

31. Oktober 2023

Philippe Étienne war einer der großen Architekten der Europapolitik von Emmanuel Macron und eine Schlüsselfigur der internationalen Diplomatie. dokdoc sprach mit ihm über die deutsch-französischen Beziehungen und den fünften Jahrestag des Vertrags von Aachen.

dokdoc: Herr Botschafter, wie beurteilen Sie die deutsch-französischen Beziehungen? In welchen Bereichen funktioniert die Zusammenarbeit gut und wo ist es eher kompliziert?

Philippe Étienne: Zunächst einmal vielen Dank für die Einladung, einen Beitrag zu dieser Zeitschrift zu leisten, die für mich einen großen historischen Wert hat. Wie Sie wissen, bin ich nicht mehr im politischen Tagesgeschäft tätig und auch nicht länger Funktionsträger der französischen Diplomatie. Meine Sicht der deutsch-französischen Beziehungen beruht hauptsächlich auf meinen beiden Posten in Bonn in den 80er Jahren und in Berlin, wo ich Botschafter war.

Man wundert sich, dass Deutsche und Franzosen zu Beginn einer Diskussion sehr oft nicht einer Meinung sind. Im Grunde war das aber schon immer der Fall. Und, wie man erst kürzlich in Hamburg sehen konnte, kommt man nur durch den politischen Willen, insbesondere der Staats- und Regierungschefs, voran. Das zeigte sich auch bei einem der zwischen den beiden Ländern strittigen Punkte, nämlich der Reform des europäischen Strommarktes, und der vom Rat der EU-Energieminister in Brüssel erzielten Einigung. Schließlich sind die Themen, die uns heute beschäftigen, nicht neu: die Industriepolitik, die Bereiche nationaler Souveränität wie Rüstungspolitik und Raumfahrt, und nicht zuletzt die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Das sind sehr komplexe, schwierige Themen. Was sich geändert hat, das ist die Welt um uns herum, die diese Themen noch komplizierter macht: der Krieg in der Ukraine und der chinesisch-amerikanische Wettstreit im Besonderen.

dokdoc: Sie bleiben also optimistisch?

Philippe Étienne: Ehrlich gesagt habe ich das ja öfter erlebt: vor dem Fall der Mauer, nach dem Fall der Mauer. Ich habe die europäischen Krisen erlebt, die Staatsschuldenkrise, die Migrationskrise. Tatsache ist, dass es in diesen großen europäischen und globalen Krisen am Ende immer eine deutsch-französische Einigung gab, die es der EU ermöglichte, voranzukommen, und ich bin mir sicher, dass uns dies trotz des neuen Kontextes auch weiterhin gelingen wird.

dokdoc: Die deutsch-französische Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich wird zusammen mit der Energiepolitik oft als Gradmesser der bilateralen Beziehungen gesehen. Wie können zwei Länder mit so unterschiedlichen Kulturen erfolgreich miteinander auskommen?

Philippe Étienne: Aber das ist der Wert des europäischen Motors, der aus der deutsch-französischen Verständigung erwächst. Wenn wir uns immer einig wären, gäbe es keinen Mehrwert. Wir gehen ja von sehr unterschiedlichen Positionen aus: Im Bereich der Verteidigung aufgrund unserer Geschichte; im Bereich der Energie vor allem wegen der Entscheidung Deutschlands, aus der Kernenergie auszusteigen; aber auch angesichts des unterschiedlichen Energiemixes in unseren beiden Ländern. Trotz allem gelang uns aber in der sehr komplexen Strompreisdebatte ein Kompromiss, obwohl das weder in wirtschaftlicher noch in technischer Hinsicht einfach war.

dokdoc: Sie waren einer der großen Architekten der deutsch-französischen Politik des Präsidenten. Können Sie uns erklären, wie die ersten Gespräche mit Bundeskanzlerin Angela Merkel gelaufen sind?   

Auf dem Gipfel EU-Afrika, 29. November 2017 © Présidence de la République/Soazig de la Moissonnière

Philippe Étienne: Ich erinnere mich noch sehr gut an die allerersten Treffen mit Angela Merkel. Sie waren äußerst positiv und von dem Willen geprägt, Fortschritte zu machen. Ich erinnere mich auch an die ersten deutsch-französischen Ministerräte, die uns äußerst gut voranbrachten, z. B. in puncto gemeinsamer Kapazitätsplanung im Verteidigungsbereich; etwas später im Bereich der europäischen Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik; und auch während der Pandemie.

dokdoc: Welche Rolle hat das Schäuble-Lamers-Papier bei der Entwicklung der Europapolitik von Emmanuel Macron gespielt? Der Kandidat Macron bezieht sich in seiner Rede vom 10. Januar 2017 an der Humboldt-Universität in Berlin ausführlich darauf.

Philippe Étienne: Ich hatte das Glück, Wolfgang Schäuble zu treffen und auch Karl Lamers zu treffen, bevor er uns verließ (Anm. d. Red.: 2022). Ihr Papier bleibt in der Tat eine sehr starke Inspiration, auch wenn die Bedingungen heute anders sind als zu der Zeit, als sie ihre Vorschläge unterbreiteten (Anm. d. Red.: 1994). Ich denke auch an andere Deutsche, die ebenfalls wichtige intellektuelle Beiträge zu den Beziehungen zu Frankreich geleistet haben, insbesondere Henrik Enderlein, der ein sehr guter Freund war und viel zu früh von uns gegangen ist. Beim damaligen Kandidaten und späteren Präsidenten finden sich sicherlich starke Bezüge und Inspirationen, die von solchen Persönlichkeiten stammen und seine eigenen Überzeugungen im Hinblick auf neue deutsch-französische Impulse genährt haben.

dokdoc: Emmanuel Macron hat von Anfang an auf Deutschland gesetzt, und das schon vor seinem Einzug in den Élysée-Palast.

Philippe Étienne: Es gab in der Tat schon starke Zeichen des Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron, insbesondere mit seiner Rede am 10. Januar 2017 an der Humboldt-Universität, gefolgt von einem zweiten Besuch in Deutschland und seiner ersten Deutschlandreise als Staatspräsident, die er traditionsgemäß sehr schnell nach seinem Amtsantritt unternahm.

dokdoc: Das Konzept der europäischen Souveränität ist einer der Schlüssel zu seinem Projekt für Europa und gleichzeitig ein Punkt, der hie und da zu Reibungen mit dem deutschen Partner führte. Wo stehen wir heute?

Philippe Étienne: Der Begriff der europäischen Souveränität wird immer besser verstanden und immer mehr geteilt, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland: Er findet sich nicht zuletzt auch in der Prager Rede von Olaf Scholz (Anm. d. Red.: 29. August 2022). Bis er sich in den verschiedenen Bereichen, auch im Bereich der Verteidigung, tatsächlich auswirken wird, mag es noch dauern, aber mir scheint, unsere beiden Länder sehen immer deutlicher, wie notwendig diese europäische Souveränität ist.

dokdoc: Am 22. Januar 2024 werden wir den fünften Jahrestag des Vertrags von Aachen feiern. Die Bilanz sieht eher bescheiden aus, vor allem in den großen strategischen Bereichen. Wie blicken Sie auf diesen Vertrag? 

Philippe Étienne: Ich war einer der Unterhändler des Vertrags von Aachen, mit dem ein wirksames Instrumentarium der Kooperation geschaffen wurde. Jetzt gilt es, diese Instrumente auch zu nutzen und umzusetzen. Ich nehme als Beispiel die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die sehr wichtig ist und zeigt, wie ehrgeizig wir sind. Sie ermöglicht den Regionen auf beiden Seiten der Grenze die Kooperation, mit der sie gemeinsam die Herausforderungen ihrer Bürgerinnen und Bürger angehen können. Ich bin mir sicher, dass die Behörden der Grenzregionen sehr daran interessiert sind. Verkehr, Katastrophenschutz, Gesundheitswesen, Sicherheit und Ordnung – all diese Aufgaben können gemeinsam auf dieser Ebene viel besser angegangen werden.

dokdoc: Welche Beziehungen unterhält Frankreich heute zu den Vereinigten Staaten? Welchen Stellenwert haben diese in dem Projekt der europäischen Souveränität?

Philippe Étienne: Es gab oft Missverständnisse hinsichtlich der Vorstellungen von europäischer Souveränität und strategischer Autonomie. Diese Konzepte stehen keineswegs im Gegensatz zur Atlantischen Allianz, dem Bündnis zwischen den europäischen und nordamerikanischen Demokratien, insbesondere den USA. Im Gegenteil: In den USA richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf China. Und immer mehr Menschen sagen: Angesichts dieser neuen Priorität müssen die Europäer ihrerseits mehr tun. Das wird sich nicht nur in mehr Ausgaben niederschlagen, die schon Präsident Trump ziemlich lautstark forderte. Für die Europäer ist es auch eine Frage der Verantwortung, eine Frage des Willens in Bezug auf unsere kollektive Verteidigung. Die NATO kann insgesamt nur stärker werden, wenn ihr europäischer Pfeiler gestärkt wird.

dokdoc: Emmanuel Macron und Olaf Scholz sind zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Es ist bekannt, wie sehr die deutsch-französischen Beziehungen von den Persönlichkeiten im Élysée-Palast und im Bundeskanzleramt abhängen. Was fällt Ihnen hierzu ein?

Philippe Étienne: Bei der Beschreibung von Persönlichkeiten gerät man schnell ins Subjektive; aber in der Tat wurde das oft behauptet. Und wenn es stimmte, wäre es nicht das erste Mal, dass in Paris und Berlin Persönlichkeiten mit unterschiedlichem Profil die Regierung führen. Aber das hat noch nie verhindert, im jeweiligen historischen Kontext etwaige Meinungsverschiedenheiten zu überwinden und Kompromisse zu erzielen, wenn es auf die deutsch-französische Verständigung ankam.

dokdoc: Herr Botschafter, ich danke Ihnen für dieses Interview.

Die Fragen stellte Landry Charrier

Übersetzung: Norbert Heikamp

Unser Gast

© Wikimedia Commons

Philippe Étienne: Von 2019 bis 2023 war er französischer Botschafter in den USA (2019-2023), nach seiner Zeit als diplomatischer Berater von Präsident Emmanuel Macron (2017-2019) und als Botschafter in Deutschland (2014 -2017).

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