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EU-Erweiterung

„Deutschland und Frankreich sollten sich gemeinsam dafür einsetzen, die Union bis 2030 erweiterungsbereit zu machen.“

Daniela Schwarzer

Treffen der deutsch-französischen Expertengruppe am 10.07.2023 im Quai d’Orsay (Copyright MEAE / Jonathan Sarago)

12. Dezember 2023

Der Europäische Rat tagt am 14. und 15. Dezember in Brüssel, um über Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau zu entscheiden. Wir haben mit Daniela Schwarzer, Ko-Rapporteurin der deutsch-französischen Arbeitsgruppe zur Reform der EU, darüber gesprochen und sie nach der Beziehung zwischen Reformen und Erweiterung der EU gefragt.

dokdoc: Frau Schwarzer, wo stehen Deutschland und Frankreich knapp fünf Jahre nach Unterzeichnung des Aachener Vertrags?  

Daniela Schwarzer: Deutschland und Frankreich verbindet eine komplexe, nicht immer einfache, aber für Europa zentrale Beziehung. Auf große Integrationserfolge folgen auch immer wieder Vertrauenskrisen. Der Vertrag von Aachen hat die Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen fortgeschrieben. Dazu zählen neben politischen Maßnahmen, wie etwa der verstärkten Zusammenarbeit bei Sicherheit und Verteidigung, auch Wirtschaftskooperation, Kulturzusammenarbeit und die Förderung des Jugendaustauschs. Besonders wichtig ist auch die Vertiefung der parlamentarischen Zusammenarbeit durch das Parlamentsabkommen von 2019 und die anschließende Gründung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung. Diese Fortschritte können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in vielen Bereichen eher komplizierter als einfacher geworden ist im deutsch-französischen Verhältnis. So stimmten sich Deutschland und Frankreich trotz der engen bilateralen Beziehungen in wichtigen Punkten nicht ab, was europäische Partner irritiert und Moskau und Peking erfreut haben dürfte. Da war zum einen der deutsche „Doppelwumms“, das 200 Milliarden Euro schwere Stabilisierungsprogramm der Ampel-Regierung in der Energiekrise, vor dessen Verkündung Bundeskanzler Scholz die französische Regierung weder konsultiert noch informiert hatte. Anfang 2023 versprach wiederum Präsident Macron unabgestimmt die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine, obwohl Deutschland vorher betont hatte, dass derartige Zusagen nur nach Abstimmung unter den Alliierten erfolgen würden.

Noch grundlegender sind unterschiedliche Auffassungen über die künftige Architektur der EU. Während sich Olaf Scholz und Emmanuel Macron beide für eine Erweiterung der EU ausgesprochen haben, stimmen sie noch nicht darin überein, wie die EU sich im Zuge der Erweiterung weiterentwickeln sollte. Die Bundesregierung will die EU linear vertiefen und tritt etwa für die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen ein, während der französische Staatspräsident eine maßgebliche Flexibilisierung der Integration befürwortet und aus dem Élysée immer wieder der Wunsch nach mehr intergouvernementaler Zusammenarbeit zu hören ist. Es ist für die weitere Entwicklung der EU nicht nur entscheidend, dass Berlin und Paris die EU gemeinsam auf die Erweiterung vorbereiten, sondern auch, dass sie sehr aktiv auf andere Partner in der EU zugehen und mit ihnen die EU gemeinsam voranbringen.

dokdoc: Offiziell heißt der Vertrag „Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und die Integration“. Wie weit sind beide Länder in Sachen Integration gekommen?

Daniela Schwarzer: Unmittelbar nach dem Aachener Vertrag sah es gut aus mit der Zusammenarbeit: Im Frühjahr 2019 teilten sich Frankreich und Deutschland den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat und entwickelten ein gemeinsames Programm. Zuletzt hingegen war es angesichts der angespannten Situation im deutsch-französischen Verhältnis nicht einfach, eine Grundlage für eine verstärkte Zusammenarbeit zu finden. Statt mehr Integration sehen wir vielmehr ein zähes Ringen um Rüstungsprojekte oder europäische Energiefragen. Eine verpasste Chance war sicherlich auch das 60-jährige Jubiläum des Élysée-Vertrages im Januar, das ohne einen bedeutenden deutsch-französischen Impuls vorbeizog. Erfreulich ist allerdings, dass die Kabinette von Macron und Scholz im Oktober für eine zweitägige Klausur in Hamburg zusammenkamen, um über gemeinsame Herausforderungen zu sprechen. Solche Treffen sind wichtig, um das schwierige Verhältnis wieder hin zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zu entwickeln. Mehr deutsch-französische Zusammenarbeit gibt es trotz der bereits erwähnten unterschiedlichen Zukunftsvisionen für die EU in Fragen der EU-Erweiterung. Frankreich und Deutschland stimmen darin überein, dass die Aufnahme neuer Mitglieder an interne Reformen geknüpft werden sollte, um die Funktions- und Handlungsfähigkeit einer vergrößerten Union zu gewährleisten.

dokdoc: Die Europa-Staatsministerinnen der beiden Länder, Laurence Boone und Anna Lührmann, haben im Januar eine unabhängige deutsch-französische Expertengruppe mit der Erarbeitung institutioneller Reformvorschläge beauftragt. Sie gehören diese Gruppe an, zusammen mit elf Kollegen aus Deutschland und Frankreich. Vor kurzem haben Sie Ihren Bericht vorgelegt hat. Warum braucht die EU dringend Reformen?

Treffen von W. Selenskyj mit U. Von der Leyen und J. Borrell, 8.04.2022 (Copyright Wikimedia Commons)

Daniela Schwarzer: Die Erweiterung der EU steht wieder weit oben auf der europäischen Agenda und ist vor dem Hintergrund von Russlands Angriff auf die Ukraine aus Sicht vieler zu einer geopolitischen Notwendigkeit geworden. Acht Staaten haben derzeit den offiziellen Status als EU-Beitrittskandidaten, zuletzt hat der Europäische Rat den Kandidatenstatus der Ukraine und der Republik Moldau anerkannt. Während die geopolitische Lage starke Argumente für eine Erweiterung liefert, ist die EU selbst allerdings nicht bereit, neue Mitglieder willkommen zu heißen. Ihre Institutionen und Entscheidungsmechanismen wurden nicht für eine Gruppe von mehr als 30 Ländern konzipiert. Wir sehen schon heute, dass sich die Entscheidungsfindung unter 27 Staaten, insbesondere dort, wo sie einstimmig entscheiden, oft schwierig gestaltet und die EU daran hindert, Krisen effektiv zu bewältigen und strategische Entscheidungen zu treffen. Ein weiteres großes Problem ist, dass es der EU nicht gelingt, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit konsequent unter ihren Mitgliedern durchzusetzen. Mit Ungarn und Polen gibt es offene Rechtskonflikte bezüglich der Einhaltung von in der EU geltenden Grundnormen.

dokdoc: Wie ist die Zusammenarbeit insgesamt gelaufen? Gab es Themen, bei welchen der Kompromiss Ihnen besonders schwergefallen ist? Inwiefern spielten noch nationale Interessen eine Rolle bei der Formulierung Ihrer Empfehlungen?

Daniela Schwarzer: Wir haben als Gruppe sehr gut und vertrauensvoll zusammengearbeitet. Es war uns wichtig, die verschiedenen Themenfelder des Berichts immer durch ein Team aus mindestens einem französischen und einem deutschen Mitglied zu bearbeiten. Wir haben kontrovers diskutiert, es gab aber keine inhaltlichen Meinungsverschiedenheiten, die mit einer nationalen Trennlinie zu begründen gewesen wären. Uneinigkeiten, die, wenn überhaupt, auf Grundlage unterschiedlicher fachlicher Argumente entstanden, konnten wir glücklicherweise erfolgreich durch intensive Diskussionen auflösen. Ich möchte außerdem betonen, dass wir als Gruppe unabhängig gearbeitet haben. Weder die deutsche noch die französische Regierung haben Einfluss auf unsere Empfehlungen genommen. Beiden gefallen sicherlich nicht all unsere Empfehlungen, da wir zum Beispiel auch die Interessen kleinerer Mitgliedstaaten berücksichtigt haben.

dokdoc: Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen? Wie kann eine EU mit über 30 Mitgliedstaaten funktionieren und was muss sich jetzt ändern, damit die nächste Erweiterung zu einem Erfolg wird?  

Copyright Auswärtiges Amt

Daniela Schwarzer: Wir argumentieren, dass eine Erweiterung der EU nur im Zuge ihrer Vertiefung erfolgen sollte und warnen davor, die EU ohne genaue Überprüfung ihrer inneren Funktionsweise zu erweitern. Denn wenn die EU aus geopolitischen Gründen erweitert werden soll, ist dies nur sinnvoll, wenn sie dadurch auch wirklich stärker und entscheidungsfähiger wird. Unsere Vorschläge zielen auf mindestens eines von drei Zielen ab: die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Legitimation sowie die Steigerung der Handlungsfähigkeit der EU und die Vorbereitung auf eine nächste Erweiterungsrunde. Mit Blick auf die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU empfehlen wir, dass die Einhaltung dieser Norm, zu der sich jeder Staat mit seinem Beitritt verpflichtet, auf keinen Fall verhandelbar ist und dass die in der EU vorhandenen Mechanismen zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit verstärkt werden. Unser Bericht geht außerdem auf die Frage ein, wie die EU-Institutionen und ihre Entscheidungsverfahren erweiterungsbereit gemacht werden können. Um die Handlungsfähigkeit des Europäischen Parlaments bei einer Erweiterung um bis zu zehn Mitgliedstaaten aufrechtzuerhalten, empfehlen wir beispielsweise bei der jetzigen Zahl von 751 Abgeordneten zu bleiben und das Parlament nicht weiter zu vergrößern. Im Hinblick auf die Beschlussfassung im Ministerrat sollte vor der nächsten Erweiterung die qualifizierte Mehrheit die Einstimmigkeit ablösen.

dokdoc: Die Reformdebatte wird im Kontext der Europawahl an Fahrt aufnehmen. Erst danach wird man allerdings handeln können. Das Möglichkeitsfenster wird aber nicht lange offenbleiben, denn bereits ein Jahr später findet die Bundestagswahl statt. In welchen Bereichen könnte die EU schnell vorankommen und welche Rolle sollten Deutschland und Frankreich dabei spielen?

Daniela Schwarzer: Unser Bericht unterstreicht, dass die Funktionsfähigkeit der EU auch schon unmittelbar verbessert werden sollte. Bei unseren Vorschlägen differenzieren wir deshalb zwischen kurzfristigen und mittelfristigen Maßnahmen. Mit den kurzfristigen Maßnahmen schlagen wir erste Schritte vor, die tatsächlich noch vor der Europawahl im Rahmen der aktuellen Verträge umgesetzt werden können. Sie sollen die Weichen für den nächsten institutionellen Zyklus stellen. Zu den Bereichen, in denen die EU schnell vorankommen könnte, zählen zum Beispiel der Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in einigen Politikbereichen, für die die notwendige Rechtsgrundlage schon heute vorliegt, oder die Stärkung und konsequentere Anwendung von bestehenden Instrumenten zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Substanziellere Reformen, inklusive solcher, die eine Änderung der EU-Verträge verlangen, sollten während der neuen Legislatur von 2024 bis 2029 umgesetzt werden. Dies betrifft beispielsweise die Einschränkung des Einstimmigkeitsprinzips oder die Annahme eines neuen Mechanismus zur Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament. Fakt ist, dass Reformen nach einer Erweiterung schwieriger und geradezu unwahrscheinlich werden. Deshalb ist es wichtig, die aktuelle Erweiterungsdynamik zu nutzen und mit der Vertiefung der EU zu verbinden. Deutschland und Frankreich haben mit der Einsetzung der Expertengruppe einen wichtigen Beitrag geleistet und sollten sich jetzt gemeinsam dafür einsetzen, dass sich die Staats- und Regierungschefs beim Europäischen Rat im Dezember dazu verpflichten, die Union bis 2030 erweiterungsbereit zu machen.

Daniela Schwarzer (Copyright Bertelsmann Stiftung)

dokdoc: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für unsere beiden Länder?

Daniela Schwarzer: Die unmittelbarste Gefahr für Deutschland und Frankreich, für ganz Europa, geht von Putins brutalem Krieg in der Ukraine aus. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum nicht in diesem Maße bedroht. Die NATO schließt einen Angriff Russlands auf das Bündnis inzwischen nicht mehr aus. Umso besorgter schauen Deutschland und Frankreich in die USA, die infolge der Präsidentschaftswahl im Herbst 2024 ihre Unterstützung für die Ukraine drastisch reduzieren oder sogar ganz einstellen könnten. Die EU steht deshalb unter enormem Druck, sich stärker um ihre eigene Sicherheit zu kümmern. Deutschland und Frankreich haben es bisher versäumt, in der Zeitenwende eine gemeinsame EU-Führungsrolle zu übernehmen. Das hängt auch damit zusammen, dass viele mittel- und osteuropäische Regierungen skeptisch auf das deutsch-französische Tandem schauen, dem sie vorwerfen, im Normandie-Format nach der Annexion der Krim nicht genügend getan zu haben, um Putin abzuschrecken und überhaupt eine zu große Nähe zu Russland gepflegt zu haben.

dokdoc: Vor wenigen Tagen haben die rechtspopulistische PVV, eine Partei, die einen Austritt der Niederlande aus der EU explizit fordert, die Parlamentswahlen gewonnen. Rechtspopulisten aus ganz Europa, Le Pen, Orban, Salvini, Weidel, bejubelten Wilders‘ Triumph. Bleiben Sie trotzdem optimistisch?

Daniela Schwarzer: Nationalisten und Populisten prägen die Diskurse über unsere Zukunft in Europa immer erfolgreicher mit. Sie nutzen Ängste geschickt aus, um Konsenskultur zu zerstören und gesellschaftliche Spannungen zu vertiefen. Sie verwischen die Grenzen zwischen liberaler und illiberaler Demokratie und verschieben immer spürbarer die Parameter unserer gesellschaftlichen und politischen Debatten. Das besorgt uns zurecht sehr – auch weil mit der Europawahl und mindestens sieben nationalen Wahlen ein entscheidendes europäisches Wahljahr vor uns liegt. Ein starkes Zeichen der Hoffnung haben im Oktober allerdings die polnischen Wählerinnen und Wähler gesetzt, die in Rekordzahl zur Wahl gingen, um den Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in ihrem Land zurückzudrehen. Entgegen allem Pessimismus und nach einem toxischen Wahlkampf der Rechtspopulisten haben sie Europa in Wahlen, die nicht mehr als fair zu bewerten waren, bewiesen, dass der Siegeszug rechtspopulistischer und anti-europäischer Kräfte gestoppt werden kann und dass es sich lohnt, für Demokratie zu kämpfen.

dokdoc: Daniela Schwarzer, vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Landry Charrier

Die Autorin

Prof. Dr. Daniela Schwarzer ist seit Mai 2023 Vorständin der Bertelsmann Stiftung und Honorarprofessorin für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zuvor leitete sie als Executive Director die Open Society Foundations in Europa und Zentralasien und war von 2016 bis 2021 Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Sie lehrte an der Harvard University als Gastprofessorin, war Leiterin der Forschungsgruppe Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik und Vorstandsmitglied des German Marshall Funds of the United States. 2020-2022 war sie Sonderberaterin des Hohen Vertreters der Europäischen Kommission Josep Borrell und 2023 Ko-Rapporteurin der deutsch-französischen Arbeitsgruppe zur Reform der EU. Ihr neuestes Buch „Krisenzeit – Sicherheit, Wirtschaft, Zusammenhalt“ erschien im September 2023 im Piper Verlag.

Weiter zum Thema

Bericht der deutsch-französischen Arbeitsgruppe zur Reform der EU: https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2627316/386102116ff34689169fb8df7ef63ec5/230919-deu-fra-bericht-data.pdf

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