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Krieg gegen die Ukraine

Krieg gegen die Ukraine: Die Verblendeten. Wie Berlin und Paris Russland freie Bahn gelassen haben

Hans-Dieter Heumann

Außerordentlicher Europäischer Rat über die Situation in Georgien mit Nicolas Sarkozy, Angela Merkel und Gordon Brown, 1.09.2008 (Copyright: Rat der EU)

19. Dezember 2023

Sylvie Kauffmann, eine der bekanntesten französischen Journalistinnen, hat gerade ein grundlegendes Buch veröffentlicht, in dem sie erklärt, wie die Invasion der Ukraine im Februar 2022 durch eine Form der Blindheit und des Gewährenlassens seitens des Westens ermöglicht wurde. Hans-Dieter Heumann, der als Diplomat in Moskau, Washington, Paris und Straßburg tätig war, berichtet für dokdoc

Das französische Wort „aveuglé“ besitzt eine doppelte Bedeutung: blind und verblendet. Deutschland und Frankreich waren beides, blind für die wahren Absichten Wladimir Putins und verblendet darin, dass sie glaubten, es besser als andere zu wissen, wie man mit Russland umgeht. Dabei hätte man den russischen Präsidenten nur beim Wort nehmen müssen. Hatte er nicht bereits 2005 den Zusammenbruch der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet und schließlich den Ukrainern das Existenzrecht abgesprochen?

Russland nicht demütigen?

Wie Berlin und Paris Putins Russland eine „freie Bahn“ bereitet haben, führt Sylvie Kauffmann vor allem mit Hilfe der Interviews mit Akteuren dem Leser eindringlich vor Augen. Warum aber Deutschland und Frankreich? Weil sie in der europäischen Russlandpolitik die Führung übernommen und dabei eng zusammengearbeitet haben, sagt Kauffmann. Sie begründet damit auch die Verantwortung beider Staaten für das künftige Verhältnis zu Russland.

In Deutschland und Frankreich gestaltete sich das Verhältnis zu Putin zuerst durchaus unterschiedlich. Während der Bundestag dem russischen Präsidenten bei seinem Auftritt vor dem Parlament in Bonn 2001 Ovationen bereitete, begründete in Frankreich der mit äußerster Brutalität geführte Krieg in Tschetschenien das Misstrauen führender Intellektueller und großer Teile der Öffentlichkeit. Präsident Jacques Chirac hatte dies zwar in Rechnung zu stellen, aber er folgte der Russland-Diplomatie französischer Präsidenten bis zu Emmanuel Macron, die sich in dem Satz zusammenfassen lässt: Russland ist eine geografische Tatsache, man dürfe es nicht demütigen.

Wladimir Putin auf der MSC, Februar 2007 (Copyright Wikimedia Commons)

Schließlich hat auch der provokante Auftritt Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, auf der er die internationalen Gäste mit seiner harten Kritik an der NATO-Erweiterung nach Osten schockierte, keine Änderung der europäischen Strategie bewirkt. Kauffmanns Urteil: Vor allem die drei großen Staaten Europas waren Russland zu verbunden, Deutschland durch die Abhängigkeit vom russischen Gas, Frankreich durch seine außenpolitischen Ambitionen und sein falsches Verständnis von Diplomatie und schließlich auch Großbritannien durch das Geld der russischen Oligarchen in London.

Die Ukraine in der NATO?

Dies war die Situation vor der angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine wohl heute umstrittensten Entscheidung der NATO, nämlich eine grundsätzliche Entscheidung für eine Mitgliedschaft der Ukraine nicht umzusetzen. Im Kommuniqué des NATO-Gipfels in Bukarest 2008 steht, dass die Ukraine Mitglied der NATO werden wird. Dieser an sich klare Satz ist in doppelter Hinsicht ein Fehler der Diplomatie: Aus Sicht Putins ist er eine Bedrohung, für die Ukraine eine Täuschung, weil keine konkrete zeitliche Perspektive gegeben wird. Dieser Entscheidung ging eine Konfrontation vor allem der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy auf der einen Seite und George W. Bush auf der anderen voraus, die das transatlantische Verhältnis damals stark belastete. Putin muss dies als Schwäche der westlichen Allianz wahrgenommen und ihn in seinem weiteren Vorgehen bestätigt haben. Heute hat der Krieg gegen die Ukraine eine neue Konstellation geschaffen. Deutschland und Frankreich sind in dieser Kernfrage der europäischen Sicherheit nicht einig. Die strategische „Zeitenwende“ in Frankreich kommt vor allem in der Befürwortung einer schnellen Mitgliedschaft der Ukraine nicht nur zur NATO, sondern auch zur Europäischen Union zum Ausdruck. Frankreich befindet sich hiermit auch erstmals näher an den mittel- und osteuropäischen Positionen als Deutschland.

Der vergessene Krieg in Georgien

Copyright Éditions Stock

Hätte eine klare Entscheidung der NATO für eine Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens die russische Besetzung der georgischen Provinzen Abchasien und Süd-Ossetien im August 2008, nur vier Monate nach dem Gipfel in Bukarest verhindert? Nicolas Sarkozy übernahm als Ratsvorsitzender der Europäischen Union die Initiative zu Verhandlungen mit Putin, der damals zwar Dmitri Medwedew die Präsidentschaft Russlands überlassen hatte, aber weiterhin die eigentliche Macht ausübte. Die Europäer fürchteten, dass russische Truppen bis auf die Hauptstadt Tbilissi vorrücken und die Regierung stürzen wollten. Schon diese angenommene Drohung ließ die Europäer kompromissbereit werden. Der Sechs-Punkte Friedensplan Sarkozys lässt die Prinzipien der Diplomatie vermissen, die heute im Umgang mit Russland unverzichtbar sind. Das Prinzip der territorialen Integrität wird gar nicht erwähnt. Der Status von Abchasien und Süd-Ossetien wird zur Disposition gestellt. Gibt es hier schon ein Muster, in dem man auch die Schwächen der späteren Verhandlungen über den Status des Donbass in der Ukraine erkennt? Die Europäer geben sich mit einem Waffenstillstand zufrieden, der ganz im Sinne Putins ist. Der Konflikt wird eingefroren, der russische Einfluss in Georgien bleibt erhalten.

Die Fehler der Ostpolitik

Die „Zeitenwende“ fordert von Deutschland, aus den Fehlern seiner bisherigen Ostpolitik zu lernen. Die Aufarbeitung dieser Geschichte hat hierzulande begonnen. Dennoch lohnt der Blick von außen, von Sylvie Kauffmann. Sie unterscheidet die Ostpolitik Willy Brandts, die historischen und politischen Einsichten zu verdanken war, von der wirtschaftlich motivierten Ostpolitik danach. Sie zeichnet die Illusionen nach, die mit der Idee des „Wandel durch Handel“ und später der von Außenminister Frank-Walter Steinmeier erdachten. „Modernisierungspartnerschaft“ mit Putins Russland verbunden sind. Sie kann nur schwer verstehen, warum mehrere Bundesregierungen, im Einklang mit allen Parteien bis auf die Grünen sowie der Wirtschaft, bis auf zwei Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine an North Stream 2 festgehalten haben, einem Projekt, das die deutsche Abhängigkeit von russischer Energie als Waffe nutzte. Ihr Urteil ist hart. Sie spricht von der „Korruption“ Gerhard Schröders, von der „Doppelbödigkeit“ Angela Merkels, aber auch von der „Fügsamkeit“ Frankreichs gegenüber dem deutschen Partner. Ihr Unverständnis für die frühere Bundeskanzlerin ist besonders groß, gerade weil sie ihre demokratische Haltung und Erfahrung mit Russland und Putin persönlich anerkennt.

Austausch zwischen Jacques Chirac, Wladimir Putin und Gerhard Schröder, 24.09.2003 (Copyright MEAE / F. de la Mure)

Wann begann Russlands Krieg gegen die Ukraine?

In den letzten Kapiteln ihres Buches beweist Sylvie Kauffmann auf eindrucksvolle Weise, dass der Krieg Russlands nur als imperialer zu verstehen ist. Seinen Anfang habe er beim Gipfel der EU 2013 in Vilnius genommen, als der damalige Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, auf den Druck Putins hin die Unterschrift unter das jahrelang ausgehandelte Assoziationsabkommen mit der EU verweigerte. Die darauffolgende „Revolution der Würde“ auf dem Maidan in Kyiv zeigte Putin – wie schon die „orangene Revolution“ von 2004 –, dass er den Einfluss auf die Ukraine zu verlieren begann. Ohne die Ukraine aber war Russland kein Imperium mehr. Aus dieser Logik heraus konnte Russland in Verhandlungen über die Ukraine nur im taktischen Sinn kompromissbereit sein. Dies hatten Deutschland und Frankreich, die im Normandie-Format die Minsker Verhandlungen auf den Weg brachten, nicht begriffen. Im Unterschied zu Großbritannien waren sie in den Jahren nach 2013 nicht bereit, die Ukraine militärisch zu unterstützen. Die territoriale Integrität der Ukraine war aber schon 2014 verletzt. Trotzdem betrieben Deutschland und Frankreich klassische Beschwichtigungspolitik, d.h. den vergeblichen Versuch, Diplomatie ohne militärische Abschreckung zu betreiben.

Die Zeitenwende

Heute ist nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich dabei, die Zeitenwende zu vollziehen. Beide haben begriffen, dass sie europäische Sicherheit erst einmal gegen, statt mit Russland organisieren müssen. Frankreich versteht seine eigene Erfindung der europäischen Souveränität in der Sicherheitspolitik inzwischen immer mehr als Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO, EU und NATO also als komplementär. Deutschland wiederum beginnt, strategisch zu denken. Dies sind gute Voraussetzungen dafür, dass beide Staaten in Europa wieder Führung übernehmen, so wie sie dies in der Geschichte der europäischen Integration immer wieder getan haben. Das vielleicht größte Verdienst Sylvie Kauffmanns besteht darin, die deutsch-französische und europäische Dimensionen der Zeitenwende zu analysieren, sowie klare und richtige politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Deshalb ist ihr Buch ein Standardwerk, das Europäer lesen müssen.  

Unser Autor

Copyright Hans-Dieter Heumann

Der ehemalige Botschafter Dr. Hans-Dieter Heumann war Diplomat unter anderem in Washington, Moskau und Paris, arbeitete in Leitungsfunktionen im Auswärtigen Amt und im Verteidigungsministerium. Bis 2015 leitete er die Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Heute ist er Associate Fellow am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn)

Zum Thema

Sylvie Kauffmann: Les aveuglés. Comment Berlin et Paris ont laissé la voie libre à la Russie, Stock, Paris 2023.

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