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Schäuble-Lamers-Papier

Kerneuropa – stets erträumt aber nie erreicht

Hans Stark

Wolfgang Schäuble und Karl Lamers, Berlin, 3. Juli 2001 (Copyright: Imago)

28. Februar 2024

Seitdem es die Europäische Union gibt, funktioniert sie im Krisenmodus. Aus Krisen mag sie gestärkt und konsolidiert hervorgehen, aber Krisen sind auch Ausdruck fundamentaler Interessengegensätze. Ein fester Kern innerhalb Europas könnte die immer wieder aufkommenden Zentrifugalkräfte in der EU eindämmen – vorausgesetzt ein Kerneuropa ist erwünscht und umsetzbar.

« Der europäische Einigungsprozess ist an einen kritischen Punkt seiner Entwicklung gelangt. Die wesentlichen Ursachen sind: Überdehnung der Institutionen, zunehmende Differenzierung der Interessen, unterschiedliche Wahrnehmungen in einer vom Nordkap bis Gibralter reichenden Union, ein tiefer wirtschaftsstruktureller Wandel, eine umfassende Zivilisationskrise der westlichen Gesellschaften, Zunahme eines regressiven Nationalismus in (fast) allen EU-Mitgliedsländern, sowie starke Inanspruchnahme und Schwächen nationaler Regierungen und Parlamente der EU-Mitgliedsländer angesichts der erwähnten Probleme ».

Eine schonungslose Analyse

Diese sehr kritische Bestandsaufnahme des Zustands der EU stammt nicht aus dem Jahr 2024. Sie entspringt einer Analyse aus dem Jahr 1994, die unter dem Titel « Überlegungen zur europäischen Politik » erschienen ist. Die Autoren der Studie waren der damalige CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble und der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU Fraktion im Bundestag Karl Lamers. Diese auch unter dem Begriff « Schäuble-Lamers-Papier » in die Annalen eingegangene Analyse, ist hochaktuell geblieben und könnte ohne weiteres den Zustand der heutigen EU-27 beschreiben. Fragt man sich, was von dieser Studie 30 Jahre nach Ihrem Erscheinen übriggeblieben ist, muss man sich eingestehen, dass die Probleme, die sie beschreibt, in keinster Weise gelöst worden sind. Die beiden Autoren legen den Fokus auf Herausforderungen, die ihrer Meinung nach ein Europa mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten notwendig machen, in dem nicht alle Mitgliedsstaaten immer an den gleichen Integrationsstufen teilnehmen. Das « Schäuble-Lamers-Papier » ist somit ein konkreter Beitrag zweier führender Politiker zu einer im Grunde politikwissenschaftlichen Debatte über die Problematik « abgestufter Integrationsmethoden ».

Karl Lamers, Helsinki, November 2018 (Copyright: Wikimedia Commons)

Schäuble und Lamers plädieren « für eine institutionelle Weiterentwicklung der EU, mit dem Ziel dessen Handlungsfähigkeit zu stärken und dem Willen sich am Modell eines föderativen Staatsaufbaus und am Subsidiaritätsprinzip zu orientieren ». Aus ihrer Sicht müssen « alle vorhandenen Institutionen, der Rat, die Kommission, die EU-Ratspräsidentschaft und das Europaparlament reformiert werden ». Dazu bedarf es eines « festen Kerns von integrationsorientierten und kooperationswilligen Ländern », eines Kerns, der sich « bereits herausgebildet hat und sich weiter festigen muss ». Dieser « feste Kern besteht aus fünf bis sechs Ländern, d h. aus Frankreich, Deutschland, Belgien, Niederlande und Luxemburg ». Schäuble und Lamers schreiben, « der feste Kern hat die Aufgabe, den zentrifugalen Kräften in der immer größer werdenden Union ein starkes Zentrum entgegen zu stellen, unter der Anführung von Frankreich und Deutschland ». Die beiden Politiker plädieren in diesem Zusammenhang dafür, « die deutsch-französischen Beziehungen auf eine qualitativ neue Stufe zu stellen, wenn der geschichtliche Fluss des europäischen Einigungsprozesses nicht versanden, sondern sein politisches Ziel erreichen soll ».

Schäuble und Lamers sind zudem der Auffassung, dass « nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die deutsch-französische Zusammenarbeit nicht an Bedeutung verloren hat, sondern im Gegenteil noch wichtiger geworden ist ». Auch diese Feststellung ist 30 Jahre später noch immer hochaktuell, da viele Beobachter der Meinung sind, dass der Ukraine-Krieg die EU auf Osteuropa ausrichtet, und dass Deutschland davon mehr profitiert als Frankreich. Dies ist jedoch ein Trugschluss. Dass die Stabilität Osteuropas für den Frieden und den Wohlstand unerlässlich ist, ändert nichts an der Schlüsselrolle des deutsch-französischen Motors. Diese Überzeugung teilen auch Schäuble und Lamers 1994. Sie gehen in ihrem Papier sogar noch einen Schritt weiter und weisen darauf hin, dass Deutschland und Frankreich « von Beginn des europäischen Einigungsprozesses an sein Motor waren » und somit « den Kern des festen Kerns bilden ».

Eine Analyse, die an der Realpolitik gescheitert ist

Diese Ideen bilden den Schwerpunkt der « Überlegungen zur europäischen Politik » von Karl Lamers und Wolfgang Schäuble und gleichzeitig auch den Grund für ihr Scheitern. Denn so strategisch und fast schon revolutionär dieses Papier auch war, angenommen und umgesetzt wurde es nie. Selbst Kanzler Helmut Kohl hat sich bedeckt gehalten, während Außenminister Klaus Kinkel es massiv kritisierte. Der erste Kritikpunkt war, dass die Autoren Italien in der Auflistung der Länder nicht erwähnten, die aus ihrer Sicht zum festen Kern gehören sollten. Vom deutschen Standpunkt aus nachvollziehbar, da es Mitte der 90er Jahre in der Bundesregierung Zweifel an der Eignung Italien für die Euro-Zone gab. Frankreich wies mit Recht darauf hin, dass Italien, als EWG-Gründungsmitglied und Wiege der europäischen Zivilisation in dem festen Kern zu verorten sei. Dass Rom mit Verärgerung auf das Schäuble-Lamers-Papier reagierte, kann somit niemanden verwundern. Alleine aus diesem Grund war es schon nicht mehrheitsfähig in der EU.

Die italienischen « Irritationen » verweisen indes auf ein noch viel größeres Problem der abgestuften Integration. Wer entscheidet darüber ob ein Mitgliedsstaat sich für den « engeren Kreis » oder den festen Kern qualifiziert, oder nicht? Würden sich Berlin und Paris anmaßen, darüber zu richten, hätten wir es mit einem deutsch-französischen Direktorium zu tun, was alle anderen EU-Mitgliedsländer zu echt ablehnen. Möglicherweise erklärt das auch, warum Emmanuel Macron in seiner Rede im Bundestag zu Ehren von Wolfgang Schäuble das Kerneuropaprojekt nur am Rande erwähnt hat. Hinzu kommt die Frage nach welchen Kriterien eine solche Entscheidung bemessen würde und wer dazu legitimiert wäre sie auszuarbeiten? Eine solch schwierige Frage konnte nur im Hinblick auf die Währungsunion geregelt werden, die mit 11 Ländern begann und heute 20 Mitgliedsstaaten umfasst. In allen anderen EU-Politikbereichen hat es in der Frage der abgestuften Integration mit Ausnahme des Schengen-Raums keinen Konsens gegeben. Das bedeutet, dass in Fragen, in denen nach dem Einstimmigkeitsprinzip abgestimmt wird (z. B. EU-Hilfen für die Ukraine), Entscheidungen nur dann zustande kommen, wenn auch ein so pro-russisch orientiertes Land wie Ungarn dem zustimmt.

Der Kern des Kerns – oder das Kernproblem?

E. Macron und A. Merkel in Brüssel, 19. Oktober 2017 (Copyright: Imago)

Dass zwei führende Politiker der CDU/CSU – darunter mit Wolfgang Schäuble immerhin der geistige Vater des deutschen Einigungsvertrages und langjähriger Bundesminister – sich für eine derartig tiefe Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich innerhalb und im Interesse der EU einsetzen, hätte Paris vor 30 Jahren eigentlich schmeicheln müssen. Dies war wohl das Momentum überhaupt in der jüngeren Geschichte, um ein Verhältnis zwischen den beiden Ländern zu schaffen, das der « Motorenrolle », die beide Akteure in Europa ja gerne übernehmen wollen, gerecht geworden wäre. Doch die Antwort aus Frankreich war negativ. Das Schäuble-Lamers Papier war aus französischer Sicht nicht einmal diskussionswürdig. Aber zu dem Zeitpunkt befand sich Frankreich mitten in der Kohabitationsphase der Jahre 1993-1995 und war politisch entsprechend gelähmt. 2017 wiederholte sich das Missverständnis unter umgekehrten Vorzeichen. Diesmal war es Frankreich, mit der Sorbonne-Rede von Emmanuel Macron, das Deutschland eine enge Zusammenarbeit in der Europapolitik anbot (ohne Bezugnahme auf ein Kerneuropaprojekt). Aber auch hier war der Zeitpunkt schlecht gewählt, denn nur drei Tage nach der Bundestagswahl 2017 war die amtierende Regierung Merkel außerstande auf Macrons Vorschläge einzugehen.

Mit dem Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration, der 2019 in Aachen unterzeichnet wurde, gab es einen dritten Versuch Wege zu finden, um die innen-, außen-, verteidigungs- und wirtschaftspolitische Konvergenz zwischen beiden Ländern zu verstärken. Der Vertrag verfolgt das Ziel, die vertiefte Konvergenz für europapolitische Impulse zu nutzen. Bisher wurde die enttäuschende Umsetzung dieses Vertrages diesem Ziel jedoch bei weitem nicht gerecht. So bleibt die eigentliche « Kernfrage » des Schäuble-Lamers-Papier unbeantwortet: Sind Deutschland und Frankreich überhaupt willens und fähig, den Kern eines festen Kerns in der EU zu bilden? Solange diese Frage offen ist, bleibt die « Kerneuropa-Idee » das, was sie seit 30 Jahren ist. Ein hochaktuelles Projekt außerhalb unserer Reichweite.

Der Autor

Copyright: Hans Stark

Hans Stark ist seit 2012 Professor für deutsche Landeskunde (civilisation allemande) an der Sorbonne Université. Er war bis 2020 Generalsekretär des Studienkomitees für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa) im Institut français des relations internationales (Ifri). Nach einem Studium der Politikwissenschaften an Sciences Po Paris hat er 2001 an der Sorbonne promoviert und wurde 2011 an der Universität Lille im Fachbereich Germanistik habilitiert.

Weiter zum Thema

Karl Lamers/Wolfgang Schäuble: „Überlegungen zu europäischen Politik“, 1. September 2014, https://web.archive.org/web/20110928064140/http://www.cducsu.de/upload/schaeublelamers94.pdf.

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