Europawahlen
„Dann ist es zu spät: Wehe Frankreich, was dann passiert!“
28. April 2024
Gut sechs Wochen vor den Europawahlen führt der Rassemblement National (RN) die landesweiten Umfragen mit großem Abstand an. Der Historiker Matthias Waechter lebt und arbeitet seit mehr als 20 Jahren in Nizza. Im Interview spricht er über die Partei-Strategie der „Ent-Diabolisierung“, die lokale Verankerung und die Frage, ob sich der RN entzaubern würde, sollte er 2027 an die Macht kommen.
Andreas Noll: Jean-Marie Le Pen, der langjährige Vorsitzende des Front National, hatte sich zum Ziel gesetzt, die politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung Frankreichs zu destabilisieren. Er sah seine Partei bewusst nicht als staatstragend an. Wann gab es erste Anzeichen dafür, dass die Partei von dieser Position abrückt?
Matthias Waechter: Das ist eine Geschichte des 21. Jahrhunderts, also des Rassemblement National. Die erste Zäsur war bereits 2002, als Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl gegen Jacques Chirac kam, weil sich das linke Lager nicht auf einen Kandidaten einigen konnte. Von nun an stellte sich die Frage nach der Positionierung der Konservativen. Sollte man die Themen des FN aufgreifen oder sich von ihnen distanzieren? Das war der Moment, in dem sich Nicolas Sarkozy mit einem harten Diskurs über Unsicherheit, Immigration, nationale Identität profilieren und schließlich die Präsidentschaftswahl gewinnen konnte. Danach fand in vielen Parteien ein Generationswechsel statt, auch im Front National. Marine Le Pen wurde zur Vorsitzenden gewählt, löste sich von ihrem Vater und verfolgte einen Kurs, der jedwede rassistische und antisemitische Ausfälle vermied. Das Thema Einwanderung stand zwar immer noch im Vordergrund, aber von Remigration war zumindest öffentlich nicht mehr die Rede.
Noll: Marine Le Pen hat sich immer dagegen gewehrt, als rechtsextrem bezeichnet zu werden. Auch der aktuelle Parteivorsitzende Jordan Bardella sagt von sich, er sei weder rechts noch links. Wie ist der Rassemblement National heute im Parteienspektrum einzuordnen?
Waechter: Die Thesen des Rassemblement National sind eindeutig im rechtsextremen Spektrum zu verorten. Der RN hat seine Positionen in einigen Punkten stark abgemildert. Noch im Präsidentschaftswahlkampf 2017 hat Marine Le Pen für einen Austritt aus der Eurozone geworben und musste dann feststellen, dass diese Forderung unpopulär ist: Die meisten Franzosen finden den Euro gut und wollen ihn nicht verlieren. Aber wenn man sich jetzt die Forderungen der Partei im Detail anschaut, kann man ohne Zweifel sagen: Das Programm des RN läuft auf eine Art Frexit hinaus.
Noll: Ist der RN aus Ihrer Sicht heute noch eine Protestpartei?
Waechter: Der RN ist eine Partei, die Menschen anspricht, die sich von den etablierten Parteien nicht vertreten fühlen. Leute, die sagen: Wir haben es mit den Sozialisten versucht, das hat nicht funktioniert. Wir haben die gemäßigte Rechte ausprobiert, wir haben Sarkozy ausprobiert. Es hat nicht funktioniert. Jetzt haben wir es mit Macron versucht, der weder rechts noch links war, und auch das hat nicht funktioniert. Es bleibt nur eine Alternative, und das ist der RN. Der RN eignet sich den Diskurs derer an, die das Gefühl haben, an den Tendenzen der Moderne, der Globalisierung, der europäischen Integration nicht teilhaben zu können. So würde ich den Protest zusammenfassen, den der RN artikuliert.
Noll: Der RN ist bis heute eine Oppositionspartei geblieben, er übernimmt keine exekutiven Aufgaben. Das ist nur in einigen Gemeinden der Fall, zum Beispiel ganz in Ihrer Nähe, in Fréjus. Dort ist David Rachline seit zehn Jahren Bürgermeister. Inwiefern unterscheidet sich seine Amtsführung von dem Kurs, den die gemäßigten Politiker in den Kommunen ringsum fahren?
Waechter: Lassen Sie mich eines vorausschicken. Wir haben in Frankreich rund 35.000 Gemeinden. Nur in 258 Gemeinden ist der RN im Gemeinderat vertreten, und nur in ganz wenigen regiert er: Fréjus gehört dazu. Rachline wurde 2020 im ersten Wahlgang wiedergewählt. Er konnte 2014 in die Bresche springen, als die alte Garde, die – um es vorsichtig zu sagen – abgewirtschaftet hatte, von der Bühne abtrat. Rachline versprach Erneuerung, und viele glaubten ihm. Seine Themen sind im Grunde die gleichen wie auf nationaler Ebene: innere Sicherheit, Subventionen, Moscheebau.
Noll: Und wie sieht es nach mehr als zehn Jahren in Fréjus aus? Kann man sagen, dass der RN ein ganz normaler Bestandteil der kommunalpolitischen Szene in Südfrankreich geworden ist, oder gibt es eine Brandmauer zu den gemäßigten Bürgermeistern anderer Städte?
Waechter: David Rachline ist nicht der erste seiner Art. Es gab und gibt andere, zum Beispiel im nicht weit entfernten Orange, mittlerweile in der zweiten Generation (Anm. d. Red.: Yann Bompard). Einer, für den die Brandmauer eisern war, war Jacques Chirac, der die extreme Rechte so sehr hasste, dass es unvorstellbar schien, mit ihr zusammenzuarbeiten. Rhetorisch hat er der extremen Rechten einige Zugeständnisse gemacht, aber eine Zusammenarbeit mit der extremen Rechten war unter Chirac einfach nicht möglich.
Noll: Können Sie einschätzen, wie wichtig das, was diese Bürgermeister in den Kommunen machen, für die nationale Ebene ist?
Waechter: Es wird nicht entscheidend sein, wie gut ein David Rachline oder ein Louis Aliot in Perpignan ihre Städte führen. Das wird für die Wähler im Rest Frankreichs eine sehr geringe Bedeutung haben. Die Tatsache, dass einige RN-Bürgermeister zwischen 2014 und 2020 ihre Kommunen schlecht geführt haben, hat der RN keine Stimmen gekostet. Ganz im Gegenteil! Ich glaube, die Wähler werden sich an der Positionierung der Partei und ihrer Führungspersönlichkeiten in den aktuellen politischen Debatten orientieren und nicht an der Politik eines Rachline oder Aliot.
Noll: Und doch scheint es auch um die Frage der Glaubwürdigkeit zu gehen. Vor einigen Monaten ist ein Buch mit dem Titel „Les Rapaces“ erschienen, geschrieben von Camille Vigogne Le Coat, einer Reporterin, die zwei Jahre lang in Fréjus recherchiert hat. Ihr Fazit: Der RN nutzt seine Position in Fréjus aus, um sich zu amüsieren und zu bereichern. Glauben Sie, dass solche Enthüllungen, die ja nicht die ersten sind, die Wähler beeinflussen?
Waechter: Nein, ganz klar nicht. Es ist schockierend, dass solche Enthüllungen an den Wahlerfolgen dieser Partei nicht viel ändern. Es gab ja auch andere Enthüllungen, wie Sie gesagt haben, zum Beispiel über Korruptionsfälle im Europäischen Parlament und auch Verurteilungen. All das hat den Erfolg der Partei nicht beeinträchtigt. Die ideologische Positionierung, auch gegenüber den Rivalen, hat am Ende alles überstrahlt, und genau das zieht die Wähler an.
Noll: Heißt das letztlich, dass sich der RN selbst entzaubern würde, wenn er an der Regierung beteiligt wäre oder Marine Le Pen zur Staatspräsidentin gewählt würde?
Waechter: Der RN würde sich entzaubern, wenn wir in einem anderen Land wären, zum Beispiel in Italien. Sollte Marine Le Pen 2027 in den Élysée-Palast einziehen, hätte sie die Macht, die die Verfassung vorsieht – und die ist größer als die des amerikanischen Präsidenten. Ich würde sogar sagen, dass kein Staatspräsident mehr Macht hat als der französische. Insofern kann man diese Logik hier nicht anwenden: Entzauberung durch Machteroberung. Wenn Le Pen an die Macht käme, stünde ihr die gesamte französische Beamtenschaft zur Verfügung. Sie könnte ohne parlamentarische Mehrheit regieren: Artikel 49.3 der Verfassung erlaubt es, Gesetze ohne parlamentarische Abstimmung zu verabschieden. Die RN könnte alle Machtmittel der Exekutive ausschöpfen und insofern auch die Chance nutzen, den Staat viel stärker umzukrempeln, als es zum Beispiel Giorgia Meloni in Italien tun kann. Insofern rufe ich zu äußerster Wachsamkeit auf. Man darf nicht diese Logik anwenden, dass sich der RN schon entzaubern wird, wenn er an der Macht ist. Denn wenn er an der Macht ist, ist es zu spät: Wehe Frankreich, was dann passiert!
Bei diesem Interview handelt es sich um eine gekürzte Fassung des Franko-viel-Podcastes Folge 61 – Extrem rechts – Die Wurzeln des Rassemblement National – Franko-viel – Der Frankreich-Podcast (podigee.io) vom 25. April 2024.
Der Autor
Matthias Waechter, geboren 1965, ist deutscher Historiker. Er leitet das Europäische Hochschulinstitut CIFE in Nizza, wo er seit 2000 mit seiner Familie lebt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die neuere Geschichte Frankreichs, die deutsch-französischen Beziehungen und die Geschichte der USA. Für sein Buch „Der Mythos des Gaullismus. Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie“ erhielt er 2007 den Deutsch-Französischen Parlamentspreis. 2019 ist von ihm die „Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert“ erschienen.
Dieses Interview ist Teil eines Projektes des Frankreich-Podcasts Franko-viel, des Institut français Aachen und des Aachener EUROPE DIRECT Informationszentrums: April bis Juni: Europawahl – Themen, Fragen, Entscheidungen-Diskussion (europedirect-aachen.de)
Mit Unterstützung der Landesinitiative Europa-Schecks des Ministers für
Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien und
Chef der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen