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Wie die „Province" tickt

Wie „la France profonde“ zu Europa steht

Isabelle Bourgeois

(Copyright: Imago)

30. April 2024

„Europa bedeutet für mich, dass wir hier vor Ort mit unseren Freunden aus Holland oder anderen Ländern glücklich zusammenleben. Alles andere ist Politik, und da kann man niemandem trauen. Die Einstellung der Franzosen zu Europa ist ambivalent: Je weiter weg von Paris, desto widersprüchlicher. Das geht aus Gesprächen hervor, die Isabelle Bourgeois vor einigen Tagen im Morvan, im Westen Burgunds, geführt hat.

Nur etwa die Hälfte der französischen Wahlberechtigten ist sich sicher, im April 2024 an den Europawahlen teilzunehmen. Wozu auch? Noch bestimmen fast ausschließlich nationale Themen den Wahlkampf. Und viele sehen die Wahl als wichtige Gelegenheit, den amtierenden Politikern die Meinung zu sagen. Glaubt man den jüngsten Umfragen, geht ein Drittel der Stimmen an die Liste des Rassemblement National (RN), 17 Prozent an Renaissance und 14 Prozent an die Sozialisten um Raphaël Glucksmann. Die konservative LR, die Grünen, La France insoumise (LFI) von Jean-Luc Mélenchon und Reconquête von Eric Zemmour würden die 2019 eingeführte Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug ins Europaparlament knapp überspringen. Die Wahlbeteiligung läge bei 45 Prozent (nach 50,1 Prozent bei den Europawahlen 2019).

Europa? Viel zu komplex!

Dass die Renaissance-Liste an Zustimmung verliert, hat mindestens drei Gründe. Die Europawahl gilt in Frankreich seit jeher als eine Art nationale Zwischenwahl, wie Emmanuel Macron am Ende seiner zweiten Europa-Rede (25. April) zu Recht betonte. Seit der Präsidentschaftswahl 2017 ist zudem das Thema Europa eng mit der Person des Präsidenten verbunden, Macron hatte es zum Herzstück seines Wahlprogramms gemacht. Das hat heute viele Wähler gegen Europa gestimmt.

Der dritte Grund ist, dass Europa von der Bevölkerung als hochkomplexes Thema empfunden wird, „das nur noch Eingeweihte verstehen können“, wie mir Bürger eines burgundischen Dorfes sagten, die ich dazu befragte. Es stimmt: Die klassischen Medien berichten kaum über Europa und wenn, dann nur am Rande. Die Mehrheit der Wähler verfügt nicht über die notwendige Hintergrundinformation, um sich eine klare Meinung zu Europa bilden zu können, Zeitungen lesen fast nur noch die Älteren. So muss man sich mit dem Halbwissen begnügen, das in den sozialen Netzwerken oder in Gesprächen mit Gleichgesinnten zu finden ist. Doch darin ist viel von den existentiellen Sorgen der Menschen enthalten: Die Angst vor einer ausufernden Einwanderung oder die Sorge, dass das Einkommen nicht ausreicht, um über die Runden zu kommen. Hier bieten Parteien wie RN oder LFI vereinfachte Erklärungen und Lösungen.

Spezifisch für Frankreich ist auch ein politisches Trauma, das fast das gesamte Meinungsspektrum prägt: dass nach dem „Nein“ beim Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag 2005 keine vier Jahre später der Vertrag von Lissabon mit fast identischen Inhalten unterzeichnet wurde. Ein „Vertrauensbruch“ und Verrat am Wählerwillen, den viele bis heute nicht verwunden haben. Das Misstrauen in die politischen Institutionen ist in Frankreich ohnehin groß – je weiter weg vom eigenen Lebensumfeld, desto größer. Dem kleinen Unternehmer vor Ort, dem Bürgermeister im Dorf vertraut man, man lebt schließlich zusammen. Aber „die da“ in Paris, Straßburg, Brüssel? Die „kümmern sich nicht um uns“, so der Tenor.

Paris ist nicht Frankreich

Die Parteipräferenzen der Wähler spiegeln heute drei grundverschiedene räumliche Gegebenheiten wider, die sich im Laufe der Jahrzehnte immer deutlicher herausgebildet haben. Dieses dreigeteilte Frankreich ist das Ergebnis der Verkehrswegeplanung, des Strukturwandels sowie diverser Reformen der Daseinsvorsorge. Die Karte unten zeigt anschaulich, wie sich das Land räumlich und wirtschaftlich gestaltet.

Der Zentralismus und seine Auswirkungen auf das Lebensumfeld der französischen Bürger prägen ihr Weltbild entscheidender als alles andere. In den Ballungsräumen entlang den Hauptverkehrsadern (den roten Kreisen auf der Karte) leben die sog. „Gewinner der Globalisierung“. Sie kennzeichnen: hoher Bildungsgrad, höheres Einkommen, Zugang zu allen Informationsmedien, Mobilität, Weltoffenheit. Sie sind überwiegend Pro-Europäer und entsprechend mehrheitlich Macron-Wähler.

Paris und die „Diagonale der Leere“ (Copyright: Wikimedia Commons)

Abseits davon, in den grau-gelb gezeichneten Flächen („Diagonale der Leere“), herrschen tiefe Zweifel an Europa und das größte Misstrauen. Hier sehen sich die Menschen als die „Verlierer“ der Globalisierung und schreiben Europa dafür die Schuld zu. In den Banlieues erkennen sie sich öfter in LFI wieder, in den ländlichen Gebieten eher in RN. Beide Parteien fordern ein „anderes“ Europa und positionieren sich gegen Macron als vermeintlichen Verfechter des Liberalismus, Quelle „allen Übels“.

Das „Übel“? In den Stadtrand-Gebieten weitab vom Zentrum, etwa in Lothringen, Le Creusot, oder Saint-Etienne (dunkelgrau gezeichnet), wo der Wohnraum anders als in den gentrifizierten Innenstädten noch finanzierbar ist: Jobverlust wegen der Desindustrialisierung, gering bezahlte Arbeit in der Logistik-Branche oder in den zahlreichen Hypermärkten auf grüner Wiese. Die Menschen dort merken ihren „sozialen Abstieg“ im Laufe des Strukturwandels deutlich. Werkschließungen oder Verlagerungen haben die etablierte Arbeiterkultur und ihre Werte vernichtet, was auch den Kommunisten, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleisteten, den Boden unter den Füßen wegzog. Einzig die Partei LFI bietet hier noch Hoffnung, zumindest in den städtischen Gebieten. Weiter draußen, wo die Logistik-Zentren stehen mit ihren vielen Arbeitskräften aus Nordafrika und Subsahara, die Partei RN. Es ist die Geburtsstätte der „Gelbwesten“.

Auch im ländlichen Raum sind die Einkommen niedrig, Aufstiegschancen gibt es kaum. Dort ist man Landwirt oder arbeitet als Pfleger, Kassiererin, Verkäufer oder im unteren öffentlichen Dienst. Dort herrscht schreiender Ärztemangel, Notaufnahmen oder Geburtsstationen schließen der Reihe nach – solche Gegenden werden „le désert médical français“ genannt. Die Zahl der Postämter ist auf ein Mindestmaß geschrumpft, auch alle Dienststellen des Sozialstaates. Die Menschen dort empfinden ihren Lebensraum als „Gottverlassen“ und schreiben dies dem Präsidenten und Europa zu. Der RN weiß das für sich zu instrumentalisieren.

Die Klage über eine schlechte Infrastruktur ist ominpräsent in der französischen Provinz (Copyright: Wikimedia Commons)

Außerhalb der wenigen Ballungsräume sind die Bewohner auf das Auto angewiesen, es gibt dort keinen ÖPNV. Die Aussicht auf ein EU-weites Verbrenner-Aus wird als Hohn empfunden, der alte Diesel fährt doch noch, und er lässt sich vor allem leicht selbst reparieren! Green Deal im Parforceritt? Wer kennt sich denn besser in Viehzucht aus? „Die da oben“ in Paris und Brüssel oder wir Landwirte? Und dann noch diese unlautere Konkurrenz aus Spanien (Erdbeeren), England (Fisch), Deutschland (Milch) oder jetzt der Ukraine (Getreide)! Die Welt steht Kopf – und als Protest nun auch die Ortseingangsschilder.

„Wir brauchen Europa“

Und doch fühlen sich die Menschen zutiefst als Europäer. Am Euro halten sie fest, er hielt ja in den Krisen die Gemeinschaft zusammen, auch die Rente ist seitdem sicher. Und heute, in einer unsicher gewordenen Welt, bietet Europa Schutz. „Beim letzten Mal habe ich für Europa gewählt. Da gibt es zwar viel Negatives, aber wir brauchen ja Europa. Da darf man nicht allzu wählerisch sein, man sollte die Profis ihren Job machen lassen“, sagte mir eine Bürgerin aus einem burgundischen Dorf, in dem der Mittelpunkt der Eurozone zur Zeit der Umstellung lag. Europa? „Sieht man von der Politik ab, dann sind das doch viele verschiedene Länder, und vor allem Menschen. Und die kennen zu lernen, darauf kommt es an“, fügte ein anderer hinzu.

Und was ist mit Deutschland? Die Antwort: Augen verdrehen, leidiges Thema! Immer wird uns das Land als Vorbild oder Feind serviert! Ob das Land sich wirklich für Europa engagiert? Etwas geizig sind die Deutschen schon. Aber wenigstens sind sie jetzt gezähmt. Na klar, Friede, Freundschaft – aber das ist Politik. Die Autos sind gut, das Angebot bei Aldi und Lidl auch. Die Sprache? Spanisch ist einfacher zu lernen, und Deutsch gibt es nur für die besten Schüler in den Großstädten. Aber – „In Europa kommt es auf die Menschen an, und Deutsche kennen wir ja noch kaum.“

Die Autorin

(Copyright: Isabelle Bourgeois)

Isabelle Bourgeois ist Mitgründerin und Moderatorin der Dialogplattform www.tandem-europe.eu. Von 1980 bis 1988 war sie Lektorin an der Universität Hannover und Kulturattachée an der französischen Botschaft in Bonn (zuständig für Rundfunk). Von 1988 bis 2017 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre d’Information et de Recherche sur l‘Allemagne Contemporaine. Von 2001 bis 2015 war sie Chefredakteurin der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Regards sur l’économie allemande, von 1989 bis 2001 Dozentin am Institut d’études politiques Paris, von 2002 bis 2017 Dozentin an der Université de Cergy-Pontoise und von 1990 bis 2005 freie Autorin für epd-medien, diverse deutsche Tageszeitungen und den Deutschlandfunk.

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