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Abtreibung in Deutschland und Frankreich

So nah und doch so weit auseinander

Pascale Hugues

Berlin, 16. September 2023 (Copyright: Imago)

16. Mai 2024

„Ich wünsche mir heute, dass wir darüber hinausgehen, indem wir (…) das Recht auf freiwilligen Schwangerschaftsabbruch in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufnehmen.“ Dieser Vorschlag, den Emmanuel Macron in seiner zweiten Rede an der Sorbonne machte, ist weitgehend unbemerkt geblieben. Dabei sagt er viel über die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich aus.

Ein grauer Morgen in der Berliner S-Bahn. Eine junge Deutsche, sichtlich in Sorge, beginnt ein Gespräch mit ihrer Nachbarin. Anna schüttet ihr Herz aus. Sie ist 24 Jahre alt. Sie ist Studentin. Sie ist gerade schwanger geworden und hat nicht den geringsten Zweifel: Sie will das Kind nicht. „Es ist absolut nicht der richtige Zeitpunkt. Ich bin noch zu jung. Ich habe meine Ausbildung noch nicht abgeschlossen. Mit diesem Freund ist es alles andere als eine stabile Beziehung. Ich weiß, dass er das Weite suchen wird, sobald ich ihm sage, dass ich schwanger bin. Natürlich bin ich ziemlich durcheinander, aber ich bin mir absolut sicher: Ich will abtreiben.“

Fast eine reine Formsache

Wenn sie Französin wäre, hätte Anna das Recht auf eine chirurgische Abtreibung bis zum Ende der 14. Schwangerschaftswoche. Dieser Eingriff wäre kostenlos. Sie würde zu ihrem Gynäkologen gehen, der ihr eine Konsultation zur medizinischen Genehmigung bescheinigen würde. Dann würde sie ihrem Arzt eine Einverständniserklärung übergeben, in der sie um eine Abtreibung bittet. Bis vor zwei Jahren musste zwischen dem ersten und dem zweiten Schritt eine Mindestbedenkzeit eingehalten werden. Heute können die Frauen jedoch beide Schritte in einer einzigen Beratung vornehmen. Die psychosoziale Beratung beim Fachpersonal des Gesundheitswesens ist freiwillig, außer bei Minderjährigen. Rein rechtlich gesehen könnte man fast sagen, dass der freiwillige Schwangerschaftsabbruch in Frankreich reine Formsache ist.

Eine „archaische“ Gesetzgebung?

Für Anna in Deutschland sind die Dinge nicht so einfach. Für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch innerhalb von zwölf Wochen muss sie sich zwingend einer Schwangerschaftskonfliktberatung in einer staatlich anerkannten Beratungsstelle unterziehen. Dort bekommt sie die für den Schwangerschaftsabbruch erforderliche Bescheinigung. Offiziell wollte der Gesetzgeber den Frauen lediglich Raum und Zeit zum Nachdenken geben, damit sie ihre Entscheidung in Kenntnis der Sachlage und ohne Überstürzung treffen können. Anna wird also schweren Herzens zu dieser Beratung gehen müssen. „Es ist ein bisschen so, als wäre ich wegen irgendetwas schuldig und müsste vor Gericht erscheinen. Das ist erniedrigend. Ich beneide Euch Französinnen darum, dass ihr frei abtreiben könnt, ohne Euch vor irgendjemandem rechtfertigen zu müssen.“ Die Schwangerschaftskonfliktberatungen werden von verschiedenen staatlich anerkannten Einrichtungen wie z.B. Pro Familia oder den Beratungsstellen kirchlicher Träger durchgeführt. Sind diese immer neutral? Geht es ihnen ausschließlich um das Wohl der Schwangeren? Anna befürchtet, man werde versuchen, sie zu beeinflussen oder ihr gar Schuldgefühle einzureden: „Die Entscheidung, eine Schwangerschaft abzubrechen, ist für sich genommen schon schwierig genug; wenn man dann auch noch gezwungen wird, sich vor völlig fremden Leuten zu rechtfertigen und die Gründe für die eigene Entscheidung zu erläutern: wie soll man sich da nicht schuldig fühlen?“, sagt sie. Anna prangert die „archaische“ Gesetzgebung in ihrem Land an. „Als wären wir Frauen kleine Kinder, unfähig, ohne Vormund eigene Entscheidungen zu treffen.“ Sie wird mit einem Kloß im Hals zu ihrem Termin gehen, und da die Krankenkasse für den Schwangerschaftsabbruch nicht aufkommt, wird sie je nach Methode zwischen 300 und 700 Euro bezahlen müssen. Nur Frauen mit sehr geringem Einkommen und solche, die aus medizinischen Gründen bzw. nach einer Vergewaltigung einen Schwangerschaftsabbruch wollen, haben Anspruch auf eine kostenlose Abtreibung.

So nah und doch so weit auseinander

Simone Veil im Gespräch mit Valéry Giscard d’Estaing, 29. November 1974 (Copyright: MEAE)

Zwei am Rhein aneinandergrenzende Länder, zwei sich ähnelnde Gesellschaften und Wertesysteme gehen in Sachen Abtreibung völlig unterschiedliche Wege. Frankreich hat eine der liberalsten Gesetzgebungen in Europa, Deutschland eine der restriktivsten. Selbst Spanien und Irland, zwei katholische Länder, haben die Abtreibung liberalisiert. Deutschland tritt da immer noch auf der Stelle. In Frankreich ist die Lage klar und dies spätestens seit dem 17. Januar 1975, dem Tag der Verkündung des Gesetzes zur Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Simone Veil, die Gesundheitsministerin unter Valéry Giscard d‘Estaing, hatte den Gesetzentwurf schon am 26. November 1974 in die Nationalversammlung eingebracht und damit eine heftige Debatte ausgelöst. Ihre Rede vor den überwiegend männlichen Abgeordneten ging in die Geschichte ein. Am Tag ihrer Überführung in das Pantheon, Anfang Juli 2018, strömten Tausende Frauen aller sozialen Schichten auf die Straßen von Paris, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Das nach ihr benannte Veil-Gesetz wurde seither nie ernsthaft in Frage gestellt, im Gegenteil eher noch weiter gelockert. Soeben erhielt das Recht auf Abtreibung im März 2024 sogar Verfassungsrang, so dass es vor jeglichen Bestrebungen andersdenkender Parlamentsmehrheiten umfassend gefeit ist. Ein allseits populäres und geschütztes Recht. Anna urteilt: „Was für ein schöner Sieg für die Französinnen, wo doch überall auf der Welt autoritäre Regime dieses Recht wieder abschaffen wollen. Denken Sie nur an Polen mitten in der EU oder an die USA. Das ist erschreckend. Die Französinnen haben wirklich großes Glück!“

4. März 2024, das Recht auf Abtreibung wird in die französische Verfassung verankert (Copyright: IMAGO)

In Deutschland hingegen ist die Abtreibung nach dem berüchtigten und heftig umstrittenen Paragraphen 218 des Strafgesetzbuchs grundsätzlich eine Straftat. Dieser Paragraph stammt aus dem Jahr 1871! Darin heißt es: „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Es gibt aber sogenannte Tatbestandsausschlüsse: Eine Frau kann unter den folgenden Voraussetzungen straffrei abtreiben, wobei die Tat gleichwohl rechtswidrig ist (Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993):

  • Medizinische Indikation: Wenn das Leben oder die körperliche oder geistige Gesundheit der schwangeren Frau in Gefahr ist.
  • Kriminologische Indikation: Wenn die Schwangerschaft nach ärztlicher Erkenntnis das Ergebnis sexueller Gewalt ist und seit der Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen vergangen sind.
  • Darüber hinaus bleibt die Schwangere – wie in Annas Fall – straflos, wenn der Schwangerschaftsabbruch nach einer Beratung bei einer anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle von einer Ärztin oder einem Arzt vorgenommen wird und seit der Empfängnis nicht mehr als 22 Wochen verstrichen sind.
Kristina Hänel, 1. März 2019 (Copyright: Wikimedia Commons)

Die Beratung muss mindestens drei Tage vor dem Schwangerschaftsabbruch erfolgen. Diese dreitägige Frist ist aber für medikamentöse Abtreibungen oft zu lang und zwingt die Frauen zu einer viel belastenderen chirurgischen Abtreibung. Diese Situation erscheint vielen deutschen Frauen unzumutbar. Seit Jahrzehnten setzen sich Frauenverbände für die Entkriminalisierung ein. Die Frage des freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs entbrennt immer wieder aufs Neue und wird kontrovers diskutiert. Bis 2019 war es Gynäkologen noch nicht einmal erlaubt, auf ihren Websites Informationen und Ratschläge zum Schwangerschaftsabbruch zu veröffentlichen. Die Gynäkologin Kristina Hänel hatte sich über dieses Verbot hinweggesetzt und war deshalb zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt worden. Seitdem gilt sie als Galionsfigur im Kampf für die Legalisierung.

Die verpasste Gelegenheit

Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung hat Deutschland möglicherweise die Gelegenheit verpasst, die Abtreibung zu entkriminalisieren. In der DDR war das Gesetz viel lockerer als in der BRD und die ostdeutschen Frauen hofften, dass ihre Gesetzgebung, die der französischen ähnelte, für ganz Deutschland übernommen würde. Daraufhin fand im Bundestag eine hitzige und sehr emotionale Debatte statt. Im überfüllten Plenarsaal hielten die Abgeordneten auf der Tribüne hitzige Reden. Ostdeutsche weibliche Abgeordnete, die erst kurz zuvor in die großen Parteien der westlichen Konservativen aufgenommen worden waren, zögerten nicht, sich mutig der Parteidisziplin zu widersetzen. Viele von ihnen verteidigten offen das Grundrecht der Frauen auf Selbstbestimmung über ihren Körper. Doch der Paragraf 218 überlebte zum Leidwesen der ostdeutschen Frauen.

Es erfolgte ein neuer Anlauf zur Entkriminalisierung der Abtreibung: Am 8. April 2024 legte die „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ ihren Abschlussbericht vor.  Ein Jahr zuvor hatte Bundeskanzler Scholz 18 Fachleute in dieses interdisziplinär zusammengesetzte Gremium berufen. Die Kommission bestand aus 18 Expertinnen und Experten unter anderem aus den Fachbereichen Medizin, Psychologie, Soziologie, Gesundheitswissenschaften, Ethik und Recht. Sie hatte den Auftrag, eine mögliche Reform des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch zu untersuchen. In ihrem Abschlussbericht veröffentlichte die Kommission eine Reihe von Empfehlungen. In ihrem umfangreichen 600 Seiten langen Bericht empfiehlt sie ganz klar die Abschaffung des Paragraphen 218 und das Recht für Frauen, in den ersten zwölf Wochen ihrer Schwangerschaft straffrei abtreiben zu können. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Expertenmeinung kurzfristig etwas ändern wird. In Deutschland bleibt die Abtreibung eine ethische Frage, die sowohl die politischen Parteien als auch die Gesellschaft spaltet. Während die Sozialdemokraten und die Grünen für die Abschaffung des Paragraphen 218 sind, lehnen die konservativen Parteien, die CDU und ihre kleine Schwester, die sehr katholische CSU in Bayern, dies strikt ab. Auch die rechtsextreme Partei AfD ist dagegen. Einige christdemokratische Abgeordnete drohten sogar schon mit dem Gang zum Bundesverfassungsgericht, sollte die Regierungskoalition (SPD/Grüne/FDP) die Abschaffung des Paragraphen 218 vorantreiben. In einem Land, in dem die Kirchen weit größeren Einfluss auf gesellschaftliche Themen ausüben als in Frankreich, sind die Vorbehalte immer noch groß. Kurz nach der Veröffentlichung des Berichts mit seiner Empfehlung für die Abschaffung des Paragraphen 218 beschuldigte der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, die Kommission, das Recht auf Leben ungeborener Kinder zu negieren und ihnen ihre Menschenwürde abzusprechen. Der Zugang zu Abtreibung ist in den einzelnen Bundesländern sehr ungleich. In Bayern zum Beispiel ist es für Frauen schwieriger, eine Abtreibung vorzunehmen als in Berlin.

Eine derart polarisierende Debatte zu eröffnen, ist vor den im Herbst 2025 stattfindenden Bundestagswahlen besonders riskant. Niemand in Deutschland möchte, dass das Thema Abtreibung den Wahlkampf beherrscht und das Land spaltet. Der sozialdemokratische Gesundheitsminister Karl Lauterbach war sehr darauf bedacht zu betonen, dass eine Gesetzesänderung nur mit einem breiten Konsens in der Gesellschaft und im Parlament möglich sei.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Die Autorin

Pascale Hugues ist Deutschlandkorrespondentin von Le Point und Autorin mehrerer Bücher, darunter „Marthe & Mathilde“, „La robe de Hannah“ und „L’école des filles“, erschienen im Verlag Les Arènes.

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