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Zeitzeugenstimme

„Es gibt hier eine sehr starke Ablehnung des Präsidenten und der belehrenden ‚Pariserischen Elite‘.“

Interview mit Christophe Arend

Emmanuel Macron, 20.12.2023 (Copyright Imago)

15. Juli 2024

Christophe Arend wurde 2017 zum Abgeordneten gewählt, nachdem er die Nummer 2 des Front National besiegt hatte: Fünf Jahre lang war er ein privilegierter Zeuge des politischen Lebens in Frankreich. Für dokdoc wirft er einen kompromisslosen Blick auf die Präsidentschaft Macrons, ordnet das Erstarken der Le Pen-Stimmen ein und spricht über sein Verhältnis zu Wolfgang Schäuble.

dokdoc: Herr Arend, Sie gehörten zu den Marschierern, die 2017 aus der Zivilgesellschaft kamen und zum Sieg von Emmanuel Macron beitrugen. Welche Gründe haben Sie damals dazu bewogen, Ihren Beruf als Zahnarzt aufzugeben und in die Politik zu gehen?

Christophe Arend: Ich habe mich bereits im April 2016 dem sogenannten großen Marsch angeschlossen, weil ich die Idee interessant fand: eine Bestandsaufnahme des Landes zu machen. Ab August kam Struktur in die Dinge. Es gab auch eine echte Zustimmung zu der von Emmanuel Macron verkörperten Grundidee: ein für allemal Schluss zu machen mit der Fundamentalopposition und von allen politischen Strömungen das jeweils Beste zu übernehmen.

dokdoc: Dachten Sie zu diesem Zeitpunkt schon daran, Abgeordneter zu werden?

Arend: Ursprünglich wollte ich nicht Abgeordneter werden. Die Dinge nahmen aber in der Zielgeraden richtig an Fahrt auf: Ich wurde als allerletzter nominiert, weil die Bewegung Macrons, La République En Marche, lange Zeit niemanden gegen Florian Philippot, die Nummer zwei des Front National, aufstellen wollte; der kandidierte nämlich in meinem Wahlkreis (Anm. d. Red.: im 6. Wahlkreis des Département Moselle).

dokdoc: Im Juni 2017 wurden Sie mit 56,96 % der Stimmen zum Abgeordneten gewählt. Worin lagen die Stärken Ihres Wahlkampfs? Und wie schafften Sie es, ein Schwergewicht der Partei von Marine Le Pen zu schlagen?

Christophe Arend (Copyright: Christophe Arend)

Arend: Zwei Dinge. Zuerst einmal gab es einen echten Wahlkampf gegen Florian Philippot. Wir veranstalteten ein Duell, das live auf France Bleu und in den sozialen Netzwerken übertragen wurde. Ich machte aktiv Wahlkampf vor Ort, er war täglich in den großen Fernsehsendern zu sehen. Ich schloss meine Praxis jeden Tag um vierzehn Uhr und schlüpfte in mein Kandidatenoutfit, um Hände schütteln zu gehen und mit den Wählerinnen und Wählern ins Gespräch zu kommen. Ich vermied es zudem stets, zur sogenannten republikanischen Front aufzurufen. Denn die Kommunalpolitiker hier lassen sich nur ungern ein bestimmtes politisches Etikett aufkleben. Wenn man sich durch den Verzicht auf eine eigene Kandidatur zur republikanischen Front gegen einen Kandidaten zusammenschließt, kann man den zwar besiegen, aber dann wissen die Bürgerinnen und Bürger immer noch nicht, welche Politik Sie als nächstes umsetzen werden.

dokdoc: War es demnach Ihre starke Präsenz vor Ort, die den Ausschlag gab?

Arend: Ja, und hier kann ich die Brücke zu 2022 schlagen. Während meiner Amtszeit kümmerte ich mich zusätzlich auch noch um die deutsch-französischen Beziehungen. Wegen dieser zusätzlichen Belastung oder gar Überlastung war ich in meinem Wahlkreis weniger präsent. Das kostete ein Drittel meiner Zeit und war meiner lokalen Verankerung eher abträglich, auch weil ich parallel dazu alle meine Lokalmandate niederlegen musste. Währenddessen war der RN bei allen lokalen Festen dabei und schüttelte Hände. 2022 war ein völlig anderer Wahlkampf. Mein Mitbewerber (Anm. d. Red.: Kévin Pfeffer) musste gar nicht erst Wahlkampf machen, er war schon fest verankert.

dokdoc: Obwohl Sie doch während der Pandemie viel unternommen haben: Man hat Sie oft an vorderster Front gesehen. Das muss doch die Bevölkerung beeindruckt haben.

Arend: Die Akademiker haben das registriert, Paris und Berlin haben das registriert, aber die Bürgerinnen und Bürger eher nicht. Sie behielten nur im Hinterkopf, dass wir die Schließung der Grenzen durch Deutschland nicht hatten verhindern können. Sie stellten die zunehmenden Spannungen zwischen Deutschen und Franzosen fest. Und sie merkten sich sehr wohl, dass es uns nicht gelang, die Doppelbesteuerung bei Kurzarbeit zu verhindern. Viele sahen zwar, dass ich kämpfte, aber viele sahen auch, dass das, was Florian Philippot in seinem Buch „Frexit“ (2018) geschrieben hatte, tatsächlich eintrat: „Sie werden sehen, dass bei der ersten ernsthaften Krise die erste Reaktion der Deutschen bestehen wird, die Grenzen zu schließen und sich auf sich selbst zurückzuziehen.“ Und genau so kam es ja auch.

Die deutsch-französische Grenze während der Pandemie (Copyright: Christophe Arend)

dokdoc: Ich denke auch an Ihr Engagement in der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung (DFPV).

Arend: Diese Versammlung, und das ist meine ganz persönliche Meinung, da sieht man, dass sie heute weniger produktiv ist: Der Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist blockiert, das Zukunftswerk dümpelt vor sich hin – im Gegensatz zum Bürgerfonds, der sehr gut funktioniert und den ich in seinem Engagement für die Zivilgesellschaften als Motor der Zukunft betrachte. Mit mir verband man viel mehr all die Schwierigkeiten als die Erfolge. Schauen Sie sich den Vertrag von Aachen und die Experimentierklausel in Kapitel 4, Artikel 13 zur regionalen und grenzüberschreitenden Zusammenarbeit an: Fünf Jahre später haben wir null Anwendung im deutschen Recht und eine im französischen, das sogenannte 3DS-Gesetz (Anm. d. Red.: Gesetz zur Differenzierung, Dezentralisierung, Dekonzentration und Vereinfachung der Verwaltung), das es ermöglicht, die medizinische Infrastruktur des Nachbarlandes im Rahmen grenzüberschreitender Kooperationsvorhaben zu nutzen. Und zudem bleibt bei den Bürgerinnen und Bürgern hängen, dass Franzosen und Deutsche sich nicht über die Verteidigung und die Außenpolitik einigen können. Für viele funktioniert die deutsch-französische Freundschaft einfach nicht.

dokdoc: Warum bekommt der RN in den Grenzregionen so viele Wählerstimmen?

Arend: Das hat mehrere Gründe. Mein Wahlkreis hat zum Beispiel aufgrund der Deindustrialisierung die höchste Arbeitslosigkeit der gesamten Region. Der Strukturwandel nach dem Niedergang des Bergbaus fand schlicht nicht statt. Auch grassiert das Gefühl, Paris interessiere sich nicht für die Menschen bei uns. Und dann sind noch die vielen kleinen Probleme („irritants“), mit welchen die Menschen an der Grenze tagtäglich konfrontiert sind. Warum kann unsere Musikschule in Petite-Rosselle nicht viel einfacher Kinder aus der gegenüberliegenden Stadt aufnehmen? Das Einzige, was wir nach jahrelangem Kampf erreicht haben, ist die MOSAR-Vereinbarung: Sie ermöglicht die Behandlung von schwerkranken Patientinnen und Patienten in Deutschland. Wenn du heute hier einen Herzinfarkt hast, bist du in 15 Minuten im Krankenhaus auf der deutschen Seite, aber wenn du in ein Krankenhaus in deiner Region gebracht werden müsstest, würde der Krankentransport 45 Minuten dauern. Wir haben 1995 angefangen, über dieses Abkommen zu diskutieren und ich habe es 2019 zur Unterschrift gebracht!

dokdoc: Was wirft man Emmanuel Macron im Département Moselle vor? Ist er wirklich so verhasst, wie die Extremisten behaupten?

Arend: Bei mir zu Hause sagt man mir: Sie waren ein hervorragender Abgeordneter, aber der Typ, der mit Ihnen auf dem Foto war, den können wir nicht mehr sehen, den können wir nicht mehr sehen. Und warum? Weil er nicht zuhört. Er hat oft gesagt: Wir werden Konsultationen durchführen, aber es ist nie etwas dabei herausgekommen. Schauen Sie sich den Bürgerkonvent zum Klimaschutz an. Emmanuel Macron sagt: Ich werde alles übernehmen, ohne etwas zu ändern, nur dass die Hälfte der Dinge nicht umgesetzt werden kann, weil sie entweder wirtschaftlich nicht vertretbar oder verfassungswidrig sind. Und das haben die Leute gemerkt. Und dann blieb noch ein Satz besonders haften, den er im Juni 2023 in Marseille gesagt hat: „Ich, ich verspreche Ihnen, ich gehe heute Abend mit Ihnen durch den Vieux-Port, ich bin mir sicher, da gibt es zehn Stellenangebote“. Er hat das Recht, das zu sagen, aber er muss es anschließend auch tun. Er ist schlecht in der Kommunikation und wir haben heute jemanden, der den Eindruck erweckt, ganz oben auf der Pyramide zu sitzen und stur geradeaus zu schauen. Und wenn man ganz oben auf der Pyramide sitzt, sieht man zwangsläufig nicht mehr, was zu seinen Füßen passiert. Hier, in der Moselle, gibt es eine sehr starke Ablehnung des Präsidenten und der „belehrenden Pariserischen Elite“.

dokdoc: Hat Deutschland nicht genug getan, um Emmanuel Macron zu unterstützen? Hat es ihn im Stich gelassen, wie man manchmal hört?

Arend: Es ist nicht Deutschland, das Emmanuel Macron verloren hat. Deutschland hat mich zum Teil verloren, indem es die Grenzen geschlossen hat.

dokdoc: Und wenn wir die Perspektive wechseln: Würden Sie sagen, dass der Präsident Deutschland mit seinen wiederholten Vorschlägen zu sehr vor den Kopf gestoßen hat?

Arend: Aus meiner Sicht gibt es zwei große Schwierigkeiten im deutsch-französischen Verhältnis. Die erste ist das, was man in Deutschland die Dienstebene nennt: Jeder will mit Gesprächspartnern auf derselben Zuständigkeitsebene diskutieren, aber das gibt es einfach nicht! Die beiden Länder sind völlig unterschiedlich. Und die zweite Sache ist das, was ich Reziprozität nenne: Jeder erwartet vom anderen, dass er den ersten Schritt macht, aber heute will niemand mehr den ersten Schritt machen. Und wenn man es am Ende doch schafft, gleichzeitig einen Schritt zu machen, geht man aneinander vorbei.

dokdoc: Sie haben mit Wolfgang Schäuble u.a. in der DFPV zusammengearbeitet: Welche Erinnerung haben Sie an ihn?

Konstituierende Sitzung der DFPV, Paris, 25.03.2019 (Copyright: Christophe Arend)

Arend: Wolfgang Schäuble hat mich nie verurteilt, weil ich nicht zu seinem politischen Lager gehörte. Er hat mir zugehört, ich habe ihm zugehört. Wir hatten sehr viele private Gespräche. Er nannte mich „mein Freund Arend“ – eine große Ehre für mich. Ohne ihn hätten wir, Andreas Jung und ich, nicht all das erreichen können, was wir mit der DFPV erreicht haben. Ich hatte zudem die Ehre, seinen letzten Wahlkampf 2021 zu eröffnen und ihn im Jahr darauf in Stiring-Wendel, in meinem Wahlkreis, zu empfangen, als ich Wahlkampf führte. Brigitte Klinkert und ich waren schließlich die beiden einzigen Franzosen, die zu seiner Beerdigung eingeladen wurden. Was das deutsch-französische Verhältnis betrifft, so war Schäuble für mich ein geistiger Vater.

dokdoc: Was brauchen Frankreich und Deutschland in der gegenwärtigen Situation am dringendsten?

Arend: In beiden Ländern gibt es eine Abkoppelung zwischen der Politik und dem, was vor Ort passiert. Man muss den Dingen ins Auge sehen und über die Ursachen für den Anstieg der Extreme nachdenken. Beide Länder brauchen ethologische Medizin, keine, die nur an den Symptomen herumkuriert.

Interview: Landry Charrier

Übersetzung: Norbert Heikamp

Unser Gast

Christophe Arend ist ausgebildeter Zahnarzt. Er wurde 2017 zum Abgeordneten des 6. Wahlkreises des Departements Moselle gewählt. Während seines Mandats (2017-2022) war er Vorsitzender des Exekutivbüros der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung sowie der Parlamentarischen Freundschaftsgruppe Deutschland-Frankreich. Christophe Arend war zudem Mitverfasser des Vertrags von Aachen. Von 2022 bis 2024 war er u.a. Leiter der Abteilung für deutsch-französische Beziehungen in der Staatskanzlei des Saarlandes.

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