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Bündnis Sahra Wagenknecht

„Herr Geisel, wie denkt das BSW über Frankreich?“

Interview mit Thomas Geisel

von links nach rechts: Amira Mohamed Ali, Christian Leye, Sahra Wagenknecht, Thomas Geisel and Fabio De Masi, Berlin, 10.06.2024 (Copyright: Imago)

14. Oktober 2024

Der ehemalige Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel war viele Jahre Mitglied der SPD. Jetzt macht er Politik für das Bündnis Sahra Wagenknecht. Mit ihm haben wir über die deutsch-französischen Beziehungen und den Krieg gegen die Ukraine gesprochen.

dokdoc: Herr Geisel, am 5. Juli 2019 haben Sie von der französischen Botschafterin die Insignien eines Ritters im nationalen Verdienstorden erhalten. In Ihrer Ansprache hob die Botschafterin Ihre Verdienste um die deutsch-französische Freundschaft hervor und sagte: „In Ihrer Funktion als Oberbürgermeister haben sie entschieden dazu beigetragen, Ihrer Stadt, Ihren Bürgern Frankreich“ (Anm. d. Red.: Toulouse, die Stadt, mit welcher Düsseldorf seit 2003 verschwistert ist) näher zu bringen. Was bedeutete Ihnen damals diese Auszeichnung? Und wie blicken Sie heute darauf? 

Geisel: Die Auszeichnung hat mir viel bedeutet. Ich bin als Oberbürgermeister von Düsseldorf ausgezeichnet worden. Düsseldorf hat historisch immer eine besondere Beziehung zu Frankreich gehabt. Ich darf daran erinnern, dass in Düsseldorf Napoleon 1811 begeistert empfangen wurde. Düsseldorf ist stolz darauf, Petit Paris genannt zu werden. Auch das ist etwas, was uns mit Frankreich verbindet. Und genau deshalb habe ich 2017 die Tour de France nach Düsseldorf geholt. Es war nicht nur ein Sportereignis, mit dem die Landeshauptstadt glänzen konnte, sondern auch ein Ereignis, mit welchem wir die deutsch-französische Freundschaft und insbesondere die Freundschaft zwischen Düsseldorf und Frankreich feiern konnten.

dokdoc: Und was bleibt heute davon?

Der Grand Départ in Düsseldorf, 29.06.2024 (Copyright: Wikimedia)

Geisel: Der Grand Départ hat gezeigt, dass Düsseldorf eine Stadt ist, die große Sportereignisse mit hoher Professionalität, großer Begeisterung und breiter Anteilnahme der Stadtgesellschaft organisieren kann. Und natürlich konnte sich Düsseldorf damit nicht nur als Sport-, sondern auch als Kulturmetropole profilieren. Ich möchte nur daran erinnern, dass am Abend des Einzelzeitfahrens die Düsseldorfer Kultband Kraftwerk ihr Album „Tour de France“ im Hofgarten gespielt hat. Ich bin mir sicher, dass wir ohne die erfolgreiche Durchführung des Grand Départ den Zuschlag als Austragungsort für die Fußball-Europameisterschaft 2024 nicht bekommen hätten. In der Folge haben wir auch die Invictus Games (2023), die Spiele der Kriegsversehrten, nach Düsseldorf geholt. 

dokdoc: Sie waren sechs Jahre Oberbürgermeister. Nun sitzen Sie im Europaparlament. Was wollen Sie bzw. Ihre (fraktionslose) Partei auf der europäischen Bühne erreichen? 

Geisel: Wir sind eine Partei, die sich in ihrem Manifest vier Grundsätzen verschrieben hat: soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Vernunft, Freiheit und Frieden. Im Moment findet das Thema Frieden am meisten Anklang. Und dazu gehört Folgendes: Wir haben immer und unmissverständlich den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilt, für den es keine Rechtfertigung gibt. Aber wir stehen auf dem Standpunkt, dass wir diesen Konflikt vom Ende her denken müssen. Einfach immer nur neue Waffen zu liefern, wird allein dazu führen, dass der Konflikt immer weiter eskaliert. Anstatt Russland auf Dauer zum Hauptfeind Europas zu erklären, sollten wir wieder anknüpfen an die Ideen und Visionen, die die Wiedervereinigung Deutschlands und den Fall des Eisernen Vorhangs ermöglicht haben, nämlich die Vorstellung Michael Gorbatschows vom „großen europäischen Haus“ beziehungsweise eines Systems kollektiver Sicherheit unter Einbeziehung Russlands. Nun ist natürlich klar: Mit dem, was Putin angezettelt hat, wird das noch lange dauern. Aber ich sage immer, Putin wird irgendwann Geschichte sein, aber Russland wird immer unser Nachbar und hoffentlich auch wieder unser Partner in Europa sein, mit dem uns historisch, kulturell und wirtschaftlich viel verbindet. Und deshalb müssen wir alles tun, dass die Diplomatie wieder die Oberhand gewinnt. Gerade Deutschland und Frankreich fällt hier eine Schlüsselrolle zu, denn die Geschichte hat gezeigt: Wenn Deutschland und Frankreich zusammengestanden haben, dann war das immer der Entspannung und dem Frieden in Europa und der Welt zuträglich. 

dokdoc: In der Europapolitik, so scheint es zumindest auf den ersten Blick, teilen das BSW und der Rassemblement National viele Überzeugungen. Beide Parteien haben sich z.B. das Prinzip des „Weniger ist mehr“ zu eigen gemacht und plädieren für ein Europa souveräner Nationalstaaten, die auf „gleichberechtigte Kooperation“ setzen statt auf supranationale „Zentralisierung“. Warum haben sie, Ihr Kollege Fabio de Masi und Sie, von Anfang eine Fraktionsgemeinschaft mit Marine Le Pen und Jordan Bardella ausgeschlossen?

Geisel: Wir sind in der Tat für ein Europa souveräner Mitgliedsstaaten aber wir sind keine Nationalisten. Ich halte den Nationalismus für eine der schlimmsten Geißeln unserer Zeit. Wir beschwören nicht die Nation, und genau das unterscheidet uns vom Rassemblement National und – mehr noch – von der AfD. Die AfD ist eine Partei mit völkisch-nationalistischer Ideologie. Zwischen uns liegen allein aus diesem Grund Lichtjahre. Es ist durchaus in Ordnung zu sagen: Die Mitgliedstaaten haben nationale Interessen und es ist legitim, dass man diese verfolgt und nach einem Kompromiss mit gegebenenfalls konfligierenden Interessen anderer Partner sucht. Aber sobald diese Interessen als nationalistische Interessen überhöht beziehungsweise gewissermaßen verabsolutiert werden, sind wir draußen.

 Thomas Geisel, 18.09.2024 (Copyright: European Union 2024 – Source EP)

dokdoc: In einem Artikel, den Sie am 31.01.2024 auf Ihrer Webseite veröffentlicht  haben, haben Sie Folgendes geschrieben: „Insofern wäre es aus deutscher und europäischer Sicht vernünftig, alle Unterstützungsleistungen für die Ukraine, einschließlich etwaiger Waffenlieferungen zumindest mit der Bedingung zu verknüpfen, dass die Ukraine in einen von Europa – vorzugsweise (…) Deutschland, Frankreich, Italien und Polen – vorgelegten Friedensvorschlag einwilligt, der auch für Russland so gesichtswahrend ist, dass er Aussicht auf Erfolg hat.“ Wie sähe ein solcher Friedensvorschlag aus? 

Geisel: Mein Standpunkt ist folgender: Wir sollten Waffenlieferungen an die Ukraine an die Bedingung knüpfen, sie nur dann zu liefern, wenn Russland nicht bereit ist, sich auf Friedensverhandlungen einzulassen. Eine Friedenslösung, die gleichermaßen für beide Seiten gesichtswahrend und konform mit internationalem Recht ist, könnte dann meines Erachtens etwa wie folgt aussehen: Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim könnte man dadurch heilen, dass man eine Volksabstimmung unter internationaler Aufsicht durchführt. Die Krimbewohner sollten selber entscheiden, zu welchem Land sie gehören wollen. Für den Donbass sollte man eine „Südtirol-Lösung“ anstreben: Hier leben überwiegend Russen. Sie sollten Teil der Ukraine bleiben, aber eine weitgehende kulturelle und politische Autonomie innerhalb des ukrainischen Staatenverbundes erhalten. Die Ukraine ist ein klassischer Vielvölkerstaat. Statt das ganze Staatsgebiet „einzuukrainisieren“, sollte die sprachliche und kulturelle Vielfalt dieses Landes respektiert und im Rahmen einer föderalen Teilautonomie dieser Gebiete respektiert werden. Diese föderale Struktur sollte von der internationalen Staatengemeinschaft garantiert werden und deren Erhaltung und verfassungsmäßige Garantie zur Vorbedingung beispielsweise eines Beitritts der Ukraine zur EU gemacht werden.

dokdoc: Glauben Sie, Russland würde sich darauf einlassen?

Geisel: Es wird ja immer wieder behauptet, Russland verhandele sowieso nicht. Als jemand, der in seinem Leben viele Verhandlungen geführt hat, habe ich die Erfahrung gemacht: Ob die andere Seite verhandlungsbereit ist oder nicht, wissen Sie erst, wenn Sie der anderen Seite ein verhandlungsfähiges Angebot gemacht haben. Deswegen sollten wir einen sofortigen Waffenstillstand fordern und Friedensverhandlungen ohne Vorbedingungen anbieten. Wenn man sich die Situation der Parteien anschaut, spricht viel dafür, dass Russland sich hierauf einlassen würde, da dieser Krieg objektiv betrachtet ein ziemliches Fiasko für Russland ist. Einmal deswegen, weil Russland nicht, wie ursprünglich erwartet, die Ukraine gewissermaßen im Handstreich erobert, sondern sich seit zweieinhalb Jahren festgebissen hat. Noch schlimmer für Russland ist die Tatsache, dass Finnland und Schweden mittlerweile Mitglieder der NATO sind und damit deren „Schlinge“ um Russland noch enger geworden ist. Aus diesen Gründen halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass Russland sich auf ein ernst gemeintes und gesichtswahrendes Verhandlungsangebot einlassen wird.

dokdoc: Sahra Wagenknecht hat in den vergangenen Monaten den Bundeskanzler für seine Russland-Politik heftig kritisiert. Dabei ist er an vielen Stellen zurückhaltender als Emmanuel Macron, der nicht nur für einen Kurs des „all long as it takes“ eintritt, sondern auch des „whatever it takes“. Ist die Politik des französischen Präsidenten unverantwortlich? 

Geisel: Macron scheint in der Tat den Eindruck erwecken zu wollen, er sei der viel konsequentere Unterstützer der Ukraine. Wenn man sich aber die realen Taten und nicht nur die Worte anschaut, dann stimmt das einfach nicht. Frankreich leistet nicht einmal etwa ein Zehntel der Waffenhilfe, die Deutschland der Ukraine zur Verfügung stellt. Aber die Aufgabe Deutschlands und Frankreichs kann nicht darin liegen, sich gegenseitig bei der militärischen Unterstützung Ukraine überbieten zu wollen.  Vielmehr sollten beide Länder gemeinsam aus eigenem und zutiefst europäischem Interesse, diesen Krieg auf diplomatischem Wege beenden. 

dokdoc: Was sagt das BSW zum deutsch-französischen Verhältnis? Hat die Partei eine Programmatik, eine deutsch-französische Agenda? Immerhin steht hinter der Parteigründerin auch ihr Ehemann Oskar Lafontaine, der als Saarländer schon aus historischen Gründen, aber auch persönlich-politisch, immer einen ganz besonderen Wert auf die deutsch-französischen Beziehungen gelegt hat.

Oskar Lafontaine in Eisenach 19.08.2024 (Copyright: Wikimedia)

Geisel: Es gibt keine ausformulierte deutsch-französische Agenda, bislang jedenfalls. Ich habe aber deutlich gemacht, und damit spreche ich mit Sicherheit auch für das BSW, dass wir überzeugt sind, dass ein intaktes Vertrauensverhältnis zwischen Deutschland und Frankreich das Rückgrat Europas ist. Sahra Wagenknecht wohnt im Saarland und verbringt viel Zeit in Frankreich. Bei ihr besteht nicht nur eine politisch-rationale Verbindung zum Nachbarn, sondern auch eine emotionale.

dokdoc: Sie sind ein leidenschaftlicher Marathon-Läufer sind. Die nächste Ausgabe vom Marathon de Paris findet am 13. April statt. Sind Sie dabei?

Geisel: Ich bin im Jahr 2012 schon einmal in Paris gelaufen und bin damals, wenn ich mich recht erinnere, unter 3:30 gelaufen – eine meiner besten Marathon-Zeiten. Dass ich damals den Marathon de Paris gelaufen bin, hat mir übrigens sehr geholfen, den Grand Départ nach Düsseldorf zu holen. Denn die ASO veranstaltet nicht nur die Tour de France, sondern auch den Marathon de Paris. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich werde wahrscheinlich nächstes Jahr in Tokio laufen. Das ist der letzte der großen Marathons, der mir noch fehlt. Und danach war es das dann wohl mit dem Marathonlaufen. Ich bin jetzt über 60. Da ist auch ein Halbmarathon lang genug.

dokdoc: Herr Geisel, ich danke Ihnen für das Interview.

Unser Gast

Thomas Geisel, 18.09.2024 (Copyright European Union 2024 – Source EP)

Thomas Geisel wurde in 1963 in Ellwangen geboren. Nach seinem Master of Arts in Government an der Georgetown-Universität legte er sein erstes juristisches Staatsexamen in Freiburg ab (1990). Er kehrte dann in die USA zurück, um an der Harvard Kennedy School einen Master in Public Administration zu erwerben. Zwei Jahre später absolvierte er sein zweites juristisches Staatsexamen am Kammergericht Berlin. 1990 war er Referent der SPD-Fraktion der Volkskammer der DDR und danach persönlicher Referent des Bundesgeschäftsführers der SPD. Von 1994-1998 war er Abteilungsleiter für die Restrukturierung der mitteldeutschen Chemiestandorte bei der Treuhand-Nachfolgeorganisation BvS. Später arbeitete er als Einkaufsdirektor bei der Ruhrgas AG und E.ON. Von 2014 bis 2020 war er Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Düsseldorf. Im Juli 2024 wurde er Mitglied des Europäischen Parlaments für das Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit.

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