Übersee:
Insel der Kontraste

Übersee: Insel der Kontraste
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  • VeröffentlichtOktober 18, 2024

 

La Réunion ist Frankreichs Musterknabe in Afrika – und eine Insel der Gegensätze in Harmonie. Elf Flugstunden trennen das afrikanische Überseedépartement von Paris. Auf 2 512 Quadratkilometern vereint die größte Insel der Maskarenen, die fast so groß wie das Saarland ist, eine atemberaubende Vielfalt an Landschaften, Kulturen und kulinarischen Genüssen.

 

Wie ein grüner Edelstein liegt die Île de la Réunion im tiefblauen Indischen Ozean. Schroffe Klippen und sanfte Buchten mit hellen Korallen- und dunklen Vulkanstränden säumen die Küste. Im Westen schlängelt sich mehrspurig eine Schnellstraße auf – und vor – dem schmalen Küstenstreifen entlang und verbindet die beliebtesten Badeorte der Insel: Saint-Gilles, das Deauville der Insel, Saint-Leu, La Saline-les-Bains, L’Étang-Salé, Saint-Louis. Doch schon wenige Kilometer landein steigen schroff die pitons genannten Berge auf. Mittags umarmt ein Kranz aus hellen Wolken ihre Spitzen.

 

Wilde Vulkane

Mit ihren hohen Bergen und tiefen Tälern auf einer relativ kleinen Inselfläche ist bereits die Topografie der Tropeninsel außergewöhnlich. 42 Prozent, und damit fast die Hälfte der Insel, sind seit 2007 als Nationalpark geschützt. 2010 wurde er von der UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt. Im Herzen der Insel erhebt sich der Piton des Neiges, der mit 3.070 Metern der höchste Gipfel des Indischen Ozeans ist. Er ist der älteste Vulkan der Insel und seit rund 12 000 Jahren erloschen. Als einige seiner Felswände einstürzten, entstanden drei schroffe Talkessel – Salazie, Mafate und Cilaos. Jeder dieser Cirques hat seinen eigenen Charakter und erzählt die geologische Geschichte der Insel auf seine Weise. Besonders der Cirque de Mafate, der nur zu Fuß oder per Helikopter erreichbar ist, wirkt wie eine Welt für sich, abgeschieden und unberührt.

Der Dolomieu-Krater des noch aktiven Vulkans Piton de la Fournaise (Copyright: Hilke Maunder)

Der 2 632 Meter hohe Piton de la Fournaise indes ist einer der aktivsten Vulkane der Welt und lässt die Insel immer wieder erbeben. Im Schnitt alle neun Monate ist der Schildvulkan in den vergangenen zehn Jahren ausgebrochen, hat Feuer gespukt, schwarze Lava in die Luft geschleudert. 2007 ist sogar durch den Einsturz des Dolomieu-Kraters eine mehr als 300 Meter tiefe Schlucht entstanden. Wanderwege durchziehen seine Lavawüste und seine Caldera. Vom Aussichtspunkt Pas de Bellecombe führt ein breiter, steiniger Wanderweg über Treppenstufen zurück zur Ebene.

 

Das Reich der Vanille

Dichte Regenwälder, in denen Farne, Orchideen und riesige Bambusse wachsen, bedecken die Berghänge. Hier und da blitzen die bunten Farben von Bromelien, Porzellanblumen und leuchtend roten Palmen durch das dichte Grün. Lianen mit Widerhaken umschlingen einen 300 Jahre alten Mangobaum, und uralte Litchibäume biegen sich unter der Last ihrer stachelig roten Früchte. Die Luft ist vom Duft der Blumen und Gewürze erfüllt. Im Jardin des Parfums et des Épices im Süden der Insel lassen sich die ganze Pracht der tropischen Flora entdecken – und auch die Gewürze kaufen, die La Réunion berühmt machten: Zimt, Nelken, Pfeffer – und Vanille.

 

Vanillebauer Louis Leichnig (Copyright: Hilke Maunder)

Die Kletterorchidee mit ihren edlen Schoten ist auf Réunion nicht endemisch, sondern kam erst 1819 auf die Insel. Da geeignete Insekten oder Vögel fehlen, um die Zwitterpflanze zu befruchten, muss jede Blüte einzeln per Hand bestäubt werden, erzählt Vanillebauer Louis Leichnig. Das macht die als Vanille aus Réunion zu einem Luxusprodukt, das deutlich teurer als die Konkurrenz aus Madagaskar ist, aber umso mehr von den Sterneköchen im Hexagon geschätzt wird. Ebenso luxuriös ist der Duft des Geraniums, das auf der Tropeninsel für die großen Parfümhäuser Frankreichs gezüchtet wird.

 

Giganten der Küste

Auch die Küste des Eilands ist von dramatischer Schönheit – schroffe Klippen, von der Brandung geformte Lavafelsen und kleine Buchten mit goldenen und schwarzen Stränden wechseln sich ab. Besonders beeindruckend ist die Cap Méchant an der Südküste, wo die Wellen des Indischen Ozeans mit voller Wucht gegen die scharfen Lavaklippen schlagen und meterhohe Gischtfontänen emporsteigen.

 

Jedes Jahr, von Juni bis Oktober, ziehen Buckelwale aus der Antarktis in die warmen Gewässer rund um die Insel, um sich zu paaren und ihre Jungen zur Welt zu bringen. Die majestätischen Tiere kommen oft erstaunlich nah an die Küste, sodass man sie schon von Land aus gut beobachten kann. Doch am besten erlebt man das Ballett der Wale auf einer Bootsfahrt – und kann mit etwas Glück auch ihren Gesang hören.

 

Delfine sind das ganze Jahr hier anzutreffen.  Vor allem der Große Tümmler und der Langschnabel-Delfin zeigen sich häufig in den Gewässern vor der Westküste. Gegen 16 Uhr starten im Hafen von Saint-Gilles auch Sunset Cruises. Während die Sonne langsam im Meer versinkt, springen dann auch mit etwas Glück auch Delfine zum Apéro im Schein der untergehenden Sonne spielerisch durch die Wellen.

 

Kreolische Einflüsse

Kreolisches Haus in Entre-Deux mit lambrequins am Dach (Copyright: Hilke Maunder)

Einzigartig wie die Natur ist auch die kulturelle Vielfalt des Außenpostens im Indischen Ozean. Die kreolische Architektur der Vanilleinsel ist einzigartig und spiegelt die Geschichte und Traditionen der Bevölkerung wider. Die ältesten Häuser auf La Réunion erinnern mit ihren Holzrahmen, die Tamarindenschindeln bedecken, in ihrer Bauweise an Schiffe. Besonders auffällig sind die sogenannten lambrequins, kunstvoll verzierte Zierstreifen am Dach, die nicht nur dekorativ sind, sondern auch das Regenwasser ableiten. Besonders gut ist die kreolische Architektur in Entre-Deux und Hell-Bourg erhalten, das zu den schönsten Dörfern Frankreichs gehört. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, und liebevoll restaurierte Häuser wie die Maison Folio bieten einen Einblick in das Leben vergangener Zeiten. Typisch sind auch die guétalis – kleine, offene Pavillons in den Gärten, die einst dazu dienten, unbemerkt das Geschehen zu beobachten.

 

La Réunion ist stolz auf seine kulturelle Vielfalt. Menschen unterschiedlichster Herkunft und Religionen leben hier seit Jahrhunderten friedlich zusammen. Ein beeindruckendes Beispiel für dieses harmonische Miteinander ist der interreligiöse Friedhof von Saint-Gilles-les-Hauts. Hier liegen Christen, Hindus, Muslime und Buddhisten Seite an Seite begraben – ein berührendes Symbol für die Toleranz und den Respekt, der auf der Insel herrscht. Die ethnische Vielfalt spiegelt sich auch in den religiösen Festen wider, die das ganze Jahr über gefeiert werden. Ob das hinduistische Lichterfest Diwali, das muslimische Eid al-Fitr-Zuckerfest des Fastenbrechens oder christliche Feiertage – die Inselbewohner feiern gemeinsam, unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit.

 

Vom Curry zum Cari

Die Lage an der historischen Gewürzroute hat der Île de la Réunion einzigartige kulinarische Tradition beschert, die Einflüsse aus Indien, Afrika, China und Europa vereint. Ein Klassiker der kreolischen Küche ist das cari – eine aromatische Mischung aus Gewürzen, wie sie auch in indischen curries verwendet wird und bei Fisch, Fleisch oder Geflügel Verwendung findet. Kochkurse wie zum Beispiel bei Jacky von Far Far Kréol in Sainte-Suzanne verraten nicht die Zubereitung traditioneller Gerichte, sondern auch viel über die Kultur und Geschichte der Insel. Alle Zutaten dafür liefern die bunten Wochenmärkte. Als schönster und größer gilt der Mittwochsmarkt von Saint-Paul, der die Strandpromenade säumt: Hier lässt sich das Savoir-vivre der Insel hautnah erleben!

 

Auf dem berühmten Wochenmarkt von Saint-Paul wird Obst kunstvoll geschnitzt verkauft. (Copyright: Hilke Maunder)

 

Welterbe-Klänge: Mayola & Sega

Musik und Tanz spielen eine zentrale Rolle im Leben der Inselbewohner. Die traditionellen Musikstile Mayola und Séga gehören zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO und sind Ausdruck der bewegten Geschichte und kulturellen Vielfalt von La Réunion. Den Mayola brachten afrikanische und madagassische Sklaven auf die Insel – als rhythmischer, erdiger Musikstil, der mit einfachen Instrumenten wie Trommeln und Rasseln gespielt wird. Aus dem Mayola hat sich der Séga entwickelt: als fröhlicher, lebhafter Tanz, bei dem die Hüften im Takt der Musik schwingen. Er darf auf keiner Feier fehlen – und auch nicht beim Sakifo-Musikfestival in Saint-Pierre, wo traditionelle Musik auf moderne Klänge trifft, die Atmosphäre ausgelassen ist und die ganze Insel feiert.

 

In den letzten Jahren hat sich auf La Réunion auch eine lebendige Street-Art-Szene entwickelt. Vor allem in den Städten an der Westküste und in der Hauptstadt Saint-Denis schmücken beeindruckende Wandmalereien die Fassaden. Gezielt fördern die Kommunen die Kunstform des 21. Jahrhunderts, vergeben öffentliche Aufträge und organisieren Festivals, die Inselbewohner und Besucher, Jung und Alt ansprechen und verbinden sollen. Auf La Réunion ist die multikulturelle Gesellschaft keine Vision, sondern Alltag.

 

Die Autorin 

(Copyright: Lara Maunder)

Hilke Maunder, 1961 in Hamburg geboren, kam nach ihrem Anglistikstudium und Volontariat 1989 als Redakteurin zu den Lübecker Nachrichten in Mecklenburg, ging als Korrespondentin nach China, Vietnam, in Baltikum und Australien und berichtet seit 2010 aus Frankreich. 2014 wurde sie für ihre Arbeit und ihren Blog „Mein Frankreich“ mit der Médaille de Tourisme ausgezeichnet, 2023 mit dem Gutedelpreis.

 

 

 

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