Welche Rolle für Deutschland und Frankreich in Europa?
Bedingt führungsfähig? Eine Stimme aus der Ukraine

Welche Rolle für Deutschland und Frankreich in Europa? Bedingt führungsfähig? Eine Stimme aus der Ukraine
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  • VeröffentlichtFebruar 2, 2024

In unserer Reihe „Bedingt führungsfähig?“ erscheinen Beiträge aus unterschiedlichen Ländern zur Rolle Deutschlands und Frankreichs in Europa. Die Geschichte der europäischen Integration zeigt, dass die großen Entscheidungen über die Zukunft der EU Führung erfordern. In den meisten Fällen wurde sie von Deutschland und Frankreich ausgeübt. Doch im Zuge des Krieges gegen die Ukraine wurde nicht selten behauptet, das Gravitationszentrum der EU verschiebe sich nach Osten; die Zukunft Europas liege nun in den Händen anderer Länder. dokdoc nimmt sich vor, diese These zur Diskussion zu stellen. Wenn Deutschland und Frankreich ihre historisch gewachsene Rolle als Gestaltungskraft nicht mehr spielen können, wer kann sie dann übernehmen?

Seit den Anfängen der europäischen Integration ist der deutsch-französische Motor konzeptionell, politisch und praktisch legitimiert: konzeptionell wegen der deutsch-französischen Aussöhnung als Grundlage des europäischen Friedensprojekts, politisch durch seine führenden Politiker und Financiers in Finanz- und Sicherheitsfragen und praktisch aufgrund der schnellen und effektiven Entscheidungsfindung unter Umgehung der supranationalen Bürokratie. Wie frühere Untersuchungen gezeigt haben, war der im Tagesgeschäft eher weniger sichtbare deutsch-französische Motor bei der Gestaltung wichtiger Entscheidungen in den Bereichen Binnenmarkt, Schengen, Wirtschafts- und Währungsunion, aber auch in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der Beziehungen der EU zu Russland und der Ukraine, von zentraler Bedeutung.

Mäandernd durch das Labyrinth der Erweiterung und Vertiefung

Mit dem Ende des Kalten Krieges verschob sich allerdings das innere Gleichgewicht der deutsch-französischen Beziehungen zugunsten des wiedervereinigten Deutschlands. Das äußere Umfeld wurde durch die parallel verlaufende Vertiefung und Erweiterung der EU immer komplizierter, und die relative Macht beider Staaten nahm mit jeder neuen Erweiterung ab. In einer größeren und vielfältigeren Union konnten Deutschland und Frankreich nicht mehr behaupten, ihre politischen Präferenzen verträten zugleich angemessen die Interessen von mehr als zwei Dutzend anderen Mitgliedstaaten. Damit schienen die praktischen Grenzen des „Kompromisses qua Vertretung“ erreicht zu sein.

Unbeachtete Stimmen aus dem Osten

W. Selenskyj, O. Scholz und E. Macron in Paris, 8. Februar 2023 (Copyright: Imago)

Letztlich geriet die auf zwischenstaatlichen ad-hoc-Lösungen beruhende deutsch-französische Führungsrolle angesichts einer Reihe von Krisen, die die EU ab 2008 heimsuchten, ins Wanken. Der Angriff auf die Ukraine legte die Schwächen der bilateralen Konstruktion offen, bei der Deutschland den europäischen Norden und Frankreich den Süden repräsentieren und beide gemeinsam die zwei scheinbaren Lager zum Wohle der Union versöhnen sollten. Der Osten war bei den meisten wichtigen EU-Debatten, beginnend mit der Finanz- und der Migrationskrise, auffallend abwesend und hatte nur einen begrenzten Einfluss auf die EU-Ostpolitik. Stattdessen wurde er heftig kritisiert für seine vermeintlich emotionale Haltung gegenüber der Politik Russlands und den von diesem Land ausgehenden Sicherheitsbedrohungen sowie für sein übermäßiges Vertrauen in die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen.

Stotternder Motor auf der russischen Straße

Der Gipfel dieser Politik war die bilaterale Ersetzung der EU-Diplomatie in Verbindung mit dem Ausschluss Polens vom Normandie-Format, das 2014 zur Beilegung der ersten Phase des Krieges zwischen Russland und der Ukraine einberufen worden war. Polen war stark in die Region und deren Sicherheit involviert und sehr erfahren im Umgang mit den Krisen in der Ukraine von 2004 und 2013-2014. Die erste Tusk-Regierung hatte zudem in den Jahren zuvor große Anstrengungen unternommen, um ihre eigene Ostpolitik mit dem deutsch-französischen Mainstream in Einklang zu bringen, was intern auf viel Kritik stieß. Der Ausschluss Polens untergrub die proeuropäischen Kräfte des Landes und schürte den Rechtspopulismus sowie die antideutsche Stimmung. Zudem vertiefte er den Ost-West-Graben, von dem man annahm, dass er sich nach der Wiedervereinigung auflösen würde. Auch das nicht institutionalisierte Weimarer Dreiecksformat wäre beinahe untergegangen, wäre es wegen der russischen Aggression von 2022 nicht wieder zum Leben erweckt worden. Aber das Allerwichtigste war, dass die Ergebnisse des Normandie-Formats der Legitimität der deutsch-französischen Führung und ihrer regionalen Expertise ernsthaft schadeten. Das Drängen auf Lösungen, die sich auf die ukrainische Souveränität beschränkten, trug zur Eskalation der russischen Begehrlichkeiten bei, und die Dogmen des „Wandels durch Handel“ und des „konstruktiven Engagements“ verfestigten kritische Schwachstellen in den Bereichen Energie und Handel mit den feindseligen autokratischen Regimen Russland und China.

Alles der Reihe nach: Eine Strategie, um den Krieg zu gewinnen

Coypright: Depositphotos

Der Schock von 2022 löste eine Neubewertung aus. Er brachte eine noch nie dagewesene Solidarität mit der Ukraine: Frankreich und Deutschland unterstützten die europäische Friedensfazilität und trafen bahnbrechende politische Entscheidungen, indem sie der Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannten, der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen zustimmten, umfassende finanzielle Unterstützung sicherstellten und spürbare Sanktionen gegen Russland verhängten. Dennoch fehlte es an Führungsstärke, da die tief verwurzelte Abhängigkeit von früher eingeschlagenen politischen Wegen bewirkte, dass sich die militärische Unterstützung im Sinne eines „Eskalationsmanagements“ und einer „Verhandlungslösung“ selbst Grenzen auferlegte. Daraus resultiert die Gefahr, dass sich die russischen Geländegewinne verfestigen und die Ukraine am Ende den Krieg verliert.

In beiden Ländern müssen nun althergebrachte Axiome und Überzeugungen in punkto Osteuropa neu bewertet werden. Mehr noch: Beide Länder müssen einen Beitrag zur Entwicklung einer strategischen Vision vom Sieg und einer Sicherheitsordnung nach dem Krieg leisten. Dies trüge auch zur Lösung von Problemen bei, die über die Ukraine hinausgehen und das deutsch-französische Tandem derzeit spalten, wie z. B. die Energieversorgung nach dem Ende des Krieges oder die Entwicklung der Rüstungsindustrie in der EU.

Koalitionen anstreben

Ein Methodenwechsel empfiehlt sich ebenso wie eine inhaltliche Veränderung. Denn eine effektivere französische und deutsche Führung in einer stärkeren EU wird sich langfristig stärker auszahlen. Der durch das Schreckgespenst einer möglichen EU-Erweiterung ausgelöste deutsch-französische Vorschlag für eine institutionelle Reform der Union hätte von einem geografisch vielfältigeren Expertenteam entwickelt werden sollen. Und so wie sich nach dem Scheitern der Russland-Politik einige wichtige Stimmen für eine deutliche Stärkung des Weimarer Dreiecks aussprachen, sollte das Verfahren, kleinere Koalitionen um den deutsch-französischen „Motor“ herum zu gewinnen, nun regelmäßiger angewendet werden.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Die Autorin

Nadiia Koval (Copyright: Valentin Kazan)

Nadiia Koval ist Leiterin der Abteilung für Forschung, Analytik und akademische Programme am Ukrainischen Institut in Kiew. Sie unterrichtet Europäische Integration an der Kyiv School of Economics und erstellt politische Analysen zu verschiedenen Aspekten der politischen und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine. Zuvor war sie in verschiedenen Positionen im Außenpolitischen Rat „Ukrainian Prism“, der Diplomatischen Akademie der Ukraine, dem National Institute for Strategic Studies und dem Ukrainian Institute for the Future.

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