Polen:
Abwarten vor dem Unbekannten?
Europas Sicherheit ist durch Russlands Angriffskrieg in der Ukraine bedroht, die Unterstützung der USA steht auf der Kippe, Deutschland und Frankreich sind durch innenpolitische Krisen weitgehend gelähmt. Welche Rolle kann Polen in dieser Gemengelage spielen?
Polen wird am 1. Januar die sechsmonatige EU-Ratspräsidentschaft von Ungarn übernehmen. Die neue Präsidentschaft wird in einem Umfeld großer Unsicherheit beginnen und ist ein Beispiel für die „Beschleunigung der Geschichte“, die Thomas Gomart in seinem letzten Buch (2024) treffend beschrieben hat. Es zeichnet sich eine bewegte und schroffe Landschaft ab. Ein erstes Element ist – wenig überraschend – der deutliche Sieg von Donald Trump. Seine Wahlkampfaussagen, aber auch sein Verhalten während seiner ersten Amtszeit sind die große Unbekannte in Bezug auf die Robustheit der transatlantischen Sicherheitsarchitektur. Die zweite Komponente ist die Entwicklung des Angriffskriegs Russlands, der sich trotz des mutigen Widerstands der Ukrainer zu deren Nachteil wendet und die Atmosphäre eines letzten Aufbäumens aufkommen lässt; denn der zukünftige amerikanische Präsident Trump hat erst kürzlich „einen sofortigen Waffenstillstand und die Aufnahme von Verhandlungen“ gefordert.
Das schwache Glied
Europa sieht sich zugleich auch geschwächt durch die politischen Krisen in zwei großen Gründungsländern der EU: in Frankreich, das durch eine instabile Regierung geschwächt ist, deren Ursachen sich offenbar dauerhaft festsetzen, und in Deutschland. In letzterem Land stehen die Chancen gut, dass die vorgezogenen Wahlen (Februar 2025) in Verhandlungen über einen neuen Koalitionsvertrag und damit einen monatelangen Mangel an klarer Führung münden werden. Hinzu kommt die Infragestellung des deutschen Wirtschaftsmodells, die sich im Falle protektionistischer Maßnahmen der zukünftigen Trump-Regierung gegen Europa noch verschärfen könnte. Zur Vervollständigung des Bildes gehört auch die Berücksichtigung der Auswirkungen der US-Wahlergebnisse auf ein Europa, das zu Spaltungen neigt; denn so mancher Politiker teilt hierzulande die Instinkte des „President-elect“. Zudem sind enttäuschte Wähler in einigen Nationalstaaten versucht, Persönlichkeiten wie Trump an die Macht zu bringen, was man gerade erst in Rumänien sehen konnte.
In dieser beunruhigenden Gemengelage verfolgt Polen einen Kurs, der bestimmt wird durch die russische Bedrohung an der vordersten Linie von Ländern, die der russische Expansionismus von der europäischen Landkarte hat verschwinden lassen oder die es sich zum Teil einverleibt hat. Das Schicksal der Ukraine fungiert wie der „Kanarienvogel im Bergbau“. Ihre Niederlage wäre eine Niederlage Europas und der Vorbote einer neuen Folge von Aggressionen seitens eines gestärkten Russlands, das – wie in der Vergangenheit – davon besessen ist, seine Einflusssphäre in Europa wiederherzustellen. Warschau entschied sich, unabhängig davon, ob es sich um die PiS-Regierung oder die derzeit regierende Koalition handelt, für eine gigantische Rüstungsanstrengung, mit einem angekündigten Verteidigungshaushalt in Höhe von 4,7% des BIP im Jahr 2025. Dieses Geld wird zur Hälfte für die Beschaffung von Rüstungsgütern ausgegeben, die aber nahezu allesamt von außereuropäischen Lieferanten bezogen werden, vor allem aus den USA und Südkorea. Mit einer Armee von über 200 000 aktiven Soldaten – so viele wie Frankreich und mehr als Deutschland – gehört Polen zur Spitzengruppe der konventionellen Militärmächte auf dem Kontinent. Das Primat der Sicherheit wird im Mittelpunkt seiner Europapolitik und seiner Ratspräsidentschaft stehen. Polen wird sich zudem dafür einsetzen, dass dies auch für seine europäischen Partner gilt, mit der Begründung, was für den Osten der EU existenziell sei, zähle auch für die EU als Ganzes.
Das eigene Schicksal in die Hand nehmen
Angesichts dieser Gegebenheiten muss neu bewertet werden, wie sich das Potenzial der französisch-polnischen Beziehungen, aber auch das der Beziehungen zwischen Polen und seinen anderen europäischen Partnern, einschließlich Großbritanniens, in Zukunft entfalten kann. „So mancher behauptet, die Zukunft Europas hänge von den Wahlen in den USA ab; dabei hängt sie in erster Linie von uns selbst ab, vorausgesetzt, Europa wird erwachsen und glaubt an seine eigene Stärke. Wie auch immer das Ergebnis ausfällt, die Zeit des geopolitischen Outsourcings ist vorbei“, schrieb Premierminister Donald Tusk wenige Tage vor den Wahlen in den USA auf X. Diese Entschlossenheit machte Eindruck und wurde als Absicht Warschaus interpretiert, eine stärkere Rolle in der europäischen Verteidigungspolitik anzustreben. Einige Tage später legte der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski noch: „Europa muss dringend mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen. Die Stürme der Geschichte wehen immer stärker. Die Führung Polens wird dem gerecht werden.“
Eine mögliche Übereinstimmung mit dem Ziel der von Frankreich seit Jahren konsequent vertretenen strategischen Autonomie ließe wohl auf eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern hoffen; aber das sollte nicht als Absicht interpretiert werden, man wolle zu den USA oder der NATO auf Distanz gehen.
Der polnische Regierungschef hatte vor einigen Wochen auch mit einer neuen Initiative in Richtung Frankreich, Großbritannien und Skandinavien den Versuch gestartet, die Positionen der wichtigsten europäischen Länder, die den NATO-Beitritt der Ukraine und die Lieferung von weit auf russisches Territorium reichenden Waffen unterstützen, anzugleichen. Deutschland hatte er dabei demonstrativ außen vorgelassen – wegen der miserablen Beziehungen zu Olaf Scholz, der gefährdeten Regierungsstabilität, aber vor allem wegen der Berliner Positionen gegenüber der Ukraine. Diese Linie wurde durch die erstmalige Teilnahme von Donald Tusk an der Sitzung des Nordisch-Baltischen Kooperationsrats (NB8) am 27. November bestätigt, die sich weitgehend mit Russland, der Ukraine und der europäischen Sicherheit befasste. Präsident Macron wurde per Videokonferenz zur Teilnahme eingeladen, nicht jedoch der deutsche Bundeskanzler, der auch nicht zu den Gesprächen über die „europäische Unterstützung für die Ukraine in einem neuen transatlantischen Kontext“ eingeladen wurde, die der französische Staatschef am 12. Dezember mit seinen Amtskollegen in Warschau führen wollte. Während Olaf Scholz die vom polnischen Premierminister stark kritisierte Initiative für ein Gespräch mit Putin ergriff, ging sein Rivale im Rennen um die Kanzlerschaft, Friedrich Merz, in Kiew und dann in Warschau in die Offensive und forderte die Einrichtung einer „europäischen Kontaktgruppe“ zur Ukraine. Und die Noch-Außenministerin des Kanzlers bringt in Berlin ihre Amtskollegen aus den größten Ländern Europas zusammen. Dort sollten sie sich verpflichten, der Ukraine „lückenlose Sicherheitsgarantien (und) langfristig verlässliche finanzielle und militärische Unterstützung“ zu gewähren und ihr zu helfen, „ihren unumkehrbaren Weg zur vollen euro-atlantischen Integration, einschließlich der NATO-Mitgliedschaft, zu gehen“.
Den Zusammenhalt sichern
In Wahrheit ist diese Übergangsphase kaum für neue Initiativen oder die Revision alter Haltungen geeignet, zumindest solange die Absichten der neuen Trump- Regierung nicht geklärt sind. Wenn auch nicht klar ist, ob es zum Schlimmsten kommt, brauen sich die Wolken aber schon zusammen. Die europäischen Verbündeten der USA warten auf eine Entscheidung über das Schicksal der transatlantischen Sicherheitsarchitektur und den Krieg gegen die Ukraine, den Trump „innerhalb von 24 Stunden“ beenden wollte – beides Themen, deren existenzielle Dimension in vielen Staaten stark spürbar ist. Die Einfuhrzölle, die die neue Administration einzuführen gedenkt, bergen zudem das Potenzial, die Europäer zu spalten; denn das von Trump bevorzugte „Deal-Making“ fördert die Bilateralisierung der Beziehungen zu den EU-Mitgliedstaaten. Die polnische EU- Ratspräsidentschaft wird deshalb bemüht sein, den Zusammenhalt der EU zu wahren; denn der wird durch die Initiativen Washingtons in den verschiedensten Bereichen, die Warschau im Übrigen zu schützen sucht, auf die Probe gestellt werden.
Diese abwartende Haltung könnte die Unterzeichnung des künftigen „Nancy-Vertrags“ zwischen Frankreich und Polen verzögern, der die gleichen Ziele wie der Elysée-Vertrag mit Deutschland (1963) und der Quirinal-Vertrag mit Italien (2021) verfolgt, nämlich die Strukturierung einer bilateralen Beziehung mit einem Schlüsselstaat der EU. Was das Weimarer Dreieck betrifft, so wird es weiterhin ein nützliches Forum für den Dialog zwischen Deutschland, Frankreich und Polen bleiben und für die öffentliche Bekräftigung der Übereinstimmungen, aber seine operative Bedeutung wird sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner beschränken, wie es 2024 punktuell bei der Bekämpfung von Desinformation der Fall war.
Der Autor
Pierre Buhler war zwischen 1982 und 2020 Karrierediplomat. Nach Stationen in Warschau, Moskau, Washington und New York wurde er zum Botschafter in Singapur ernannt (2006). Von 2012 bis 2017 war er Botschafter in Polen. Er war auch Präsident des Institut Français. Er unterrichtet internationale Beziehungen an Sciences Po (PSIA). Er ist der Autor von „Histoire de la Pologne communiste; Autopsie d’une imposture“ (1997) und von „La puissance au XXIe siècle; les nouvelles définitions du monde“ (2011). Sein nächstes Buch „Polen, Geschichte einer Ambition – die Bedeutung Polens verstehen“, wird im Februar 2025 bei Editions Tallandier erscheinen.