Der letzte Mohikaner

Der letzte Mohikaner
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  • VeröffentlichtDezember 23, 2024
Volker Wissing, 30. Mai 2023, Paris (Copyright: Alamy)
Volker Wissing, 30. Mai 2023, Paris (Copyright: Alamy)

 

Über Volker Wissing wurde in den vergangenen Wochen vieles geschrieben – aber noch nicht über seine Liebe zu Frankreich. Über den einzigen Bundesminister, der den Nachbarn verstand.

 

Mehr als zwei Jahre liegt der Abend nun schon zurück. Es war Anfang Juli 2022. Kameras, Lichter und Tonangel hatte unser Team im Konferenzsaal des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr aufgebaut. Regisseur, Kameramann und ich drehten damals die ARTE-Dokumentation „Frankreich – Deutschland: Beziehungsstatus ungeklärt“. 60 Jahre nach Schließung des Élysée-Vertrags wollten wir den Stand des Verhältnisses darstellen. Gleich zwei FDP-Politiker hatten empfohlen, mit Volker Wissing über den Nachbarn zu sprechen. „Der liebt Frankreich“, sagte einer von ihnen.

 

Als der Minister dann schließlich in den Saal trat, grüßte und sich auf einen Stuhl setzte, war von einer Passion, gar von Liebe, kaum etwas zu spüren. Volker Wissing ist ein sehr kontrollierter Mensch, nein, ein sehr kontrollierter Politiker. Auf meine Fragen zu seinen Beziehungen nach Frankreich, als jemand, der in Landau in der Pfalz, nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt und zweisprachig aufwuchs, gab er nur Oberflächlichkeiten preis. Journalisten versuchen sich in Gesprächen manchmal als Laienpsychologen, stellen persönliche Fragen, die offenbaren, dass man sich mit dem Gegenüber beschäftigt hat. So versuchen sie, die Gesprächsatmosphäre aufzuwärmen, die mal weichere, mal härtere Schale aufzubrechen. Es handelt sich um Versuche wie etwa, ob der Minister auch mal auf Französisch träume, ein Lieblingswort habe oder vielleicht mal in der zweiten Sprache fluche. Wissing aber ließ sich nicht aufbrechen, sondern hielt stur an seiner Linie fest. „Das kommt schon mal vor“, sagte er auf die Frage nach der Träumerei und schien die ohnehin schon geschlossene Tür um eine weitere Umdrehung mit dem Schlüssel abzusichern.

 

Der Frankreichliebhaber kommt zum Vorschein

 

Nach einer halben Stunde endete das Gespräch. Ein paar Ausschnitte würden ihren Weg in den Film finden. Es war also keine verlorene Zeit, aber eben ein typisches Politikerinterview. Meine französischen Kollegen, die kein Wort verstanden, fummelten auf ihren Telefonen, Wissing griff zum Wasserglas. Dann riss der Politiker die Maske der Kontrolle von sich, erzählte, wie er die Sprache lernte. Vom Bauernhof auf der anderen Seite der Grenze, auf dem er so viel Zeit verbrachte, als Junge Käse aß und Jahre später Wein trank. Vor kurzem habe er den Hof im Osten Frankreichs anlässlich eines Jubiläums wieder besucht, sagte Wissing begeistert. Französische Lokalpolitiker seien mit Redemanuskripten aufgeschlagen, er dagegen sprach frei: „Die Begegnungen, die Bilder, die Gerüche aus meiner Jugend… Sie gehen mir nicht aus dem Kopf.“ Mehr als eine halbe Stunde lang saß er noch da und schien glücklich, in Erinnerungen schwelgen zu dürfen. Ich wiederum ärgerte mich, dass die Kamera nicht mehr lief.

 

In den vergangenen Wochen wurde viel über Volker Wissing geschrieben. Über den einzigen FDP-Minister, der nicht zurücktrat und vorübergehend das Amt des Justizministers zusätzlich übernahm. Den Mann, der aus seiner Partei austrat und damit seiner politischen Karriere ein relativ frühes Ende gesetzt zu haben scheint. Seine Staatssekretärin bezeichnete ihn als „Verräter“, die Bild bediente mit dem Begriff „Edel-Pensionär“ das Klischee des raffgierigen Politikers. Im Gegensatz zum Rest der FDP-Spitze, die mit der Operation „D-Day“ die Scheidung provozieren wollte, verteidigte der Pfälzer die Koalition bis zum Schluss. Wissing bedauerte, dass kontroverse Positionen lange Zeit öffentlich auseinandergetragen wurden, anstatt Brücken zu bauen.

 

Er versteht Frankreich emotional 

 

In den vielen Texten über Wissing wird der religiöse Mensch beschrieben, der langjährige Kirchenmusiker, Konsumkritiker und Sohn eines Religionslehrers. Fleiß und Strebsamkeit, das seien die Werte, die ihn auszeichneten. Aber sind sie auch die Werte, die den Willen zum Brückenbauen erklären? Zum Teil, womöglich. Aber vielleicht liegt Wissings Handeln auch zugrunde, dass er mit zwei Sprachen, zwei Kulturen aufwuchs, die sich trotz Aussöhnung nach Erbfeindschaft, nach Kriegen, immer noch versuchen anzunähern, zu verstehen. Volker Wissing war wohl der einzige Bundesminister, der die Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft nicht bloß intellektuell nachvollzog, sondern sie auch emotional lebte. Wissing ist jemand, der nicht nur Paris kennt, sondern eine Vorstellung des ruralen, Georges Pompidou würde sagen, des „ewigen“ Frankreichs hat. Wissings absehbares Ausscheiden aus der Politik ist allein deshalb ein Verlust für die deutsche Politik und das Verhältnis der beiden Länder.

 

Eine neue Generation 

 

In den vergangenen Jahren drängt eine Generation in die höchsten deutschen Politikfunktionen, für die die Achse Paris-Berlin nicht unbedingt die höchste Rolle zu spielen scheint. Natürlich wird Frankreich immer noch als wichtiger Partner gesehen. Aber nicht als einer, mit dem man es sich nicht verscherzen dürfe, sondern mit dem man auch mal einen Streit auf offener Bühne riskieren kann.

 

TV-Triell, Bundestagswahl 2021 / Debatte zwischen den drei Hauptkandidaten für das Kanzleramt, September 2021 (Copyright: Wikimedia Commons)
TV-Triell, Bundestagswahl 2021 / Debatte zwischen den drei Hauptkandidaten für das Kanzleramt, September 2021 (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Man nehme nur die Beispiele Atomkraft, gemeinsame Schuldenaufnahme oder den Umgang mit China. Symptomatisch dafür war das erste Fernseh-Triell im September 2021, in dem die Kanzlerkandidaten gefragt wurden, wohin sie ihren ersten Auslandsbesuch planten. Olaf Scholz sagte Paris, Armin Laschet war überrascht von der Frage und antwortete nicht wirklich. Die wesentlich jüngere Annalena Baerbock wiederum sagte: Brüssel. Mal abgesehen von der Frage, wen die spätere Außenministerin in der belgischen Hauptstadt treffen wollte, kann diese Antwort als Ausdruck für eine tektonische Plattenverschiebung im außenpolitischen Bewusstsein der Bundesrepublik gedeutet werden. Das muss nicht zwanghaft etwas Schlechtes für die deutsch-französischen Beziehungen bedeuten. Dass jedoch vor diesem Hintergrund ein deutsch-französischer Brückenbauer wie Wissing nach der Bundestagswahl von der politischen Bildfläche verschwinden dürfte, ist bedauerlich. Zuversicht stimmt, dass mit Franziska Brantner eine der versiertesten Frankreichkennerinnen zur Parteivorsitzenden von Bündnis90/Die Grünen gewählt wurde.

 

Nie Träumer, sondern immer Realist

 

Das schwierige Verhältnis zwischen Berlin und Paris wurde in den vergangenen Jahren häufig thematisiert. Wissing dagegen erzielte mit seinen jeweiligen Verhandlungspartnern immer wieder Erfolge, damit Deutsche und Franzosen sich besser verstehen. Mit seinem Pendant Clément Beaune arbeitete er eng und vertrauensvoll zusammen. 2023 boten DB und SNCF den deutsch-französischen Freundschaftspass an, mit dem junge Erwachsene das jeweilige Nachbarland einen Monat lang gratis bereisen konnten. Auf Wissings Initiative wurde das 49-Euro-Ticket für Unter-28-Jährige aus den Grenzregionen auf das Nachbarland erweitert. Ende dieses Jahres kommt die Direktverbindung zwischen Paris und Berlin. Sicherlich keine schlechten Entwicklungen, aber auch nicht visionär. 

 

Paris, Juli 2019 (Copyright: Depositphotos)

 

Im April traf ich Wissing im Brüsseler Palais d’Egmont auf einer Tagung der europäischen Verkehrsminister. Wieder gab er sich während des Interviews sehr wortkarg. Es ging um die Frage, ob sich Deutschland in puncto Schiene etwas von Frankreich abschauen könnte. Frankreichs Netz ist auf Paris ausgerichtet, der TGV fährt auf einem eigenen Schnellbahnnetz. Deutschland wiederum ist Transitland: „Frankreich und Deutschland zu vergleichen ist wie Äpfel mit Birnen“, sagte er kopfschüttelnd. Wissing war schon immer Realist, hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was er der Bevölkerung zumuten kann und wo die Grenze liegt. „In Frankreich fährt der TGV durch mehrere Regionen durch, ohne einziges Mal zu halten. Das wäre in Deutschland nicht vermittelbar“, war er überzeugt.

 

Als das Mikrofon ausgeschaltet war, sprudelte der Frankreichliebhaber wieder. Er erzählte von seinem Sommerurlaub im Vaucluse, in der Nähe des Mont Ventoux. Die unberührte Natur der Provence haben es ihm und seiner Familie angetan. Fast jährlich fahren die Wissings mit dem Familienwagen an den Fuß des Riesen der Provence, auf dem einige Tour-de-France-Etappen zu Ende gingen. Er selbst habe zwar ein E-Bike, habe sich aber noch nicht am windigen Berg versucht. Volker Wissing weiß eben um seine Stärken.

 

Der Autor

 

Jean-Marie Magro ist in München geboren und Sohn einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters. Er wuchs in der bayerischen Landeshauptstadt auf, studierte Volkswirtschaft und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Er arbeitet als Hörfunkreporter in der Politikredaktion des Bayerischen Rundfunks. In Reportagen, Features und Interviews berichtet er vor allem über Themen der Außenpolitik mit besonderem Augenmerk auf Frankreich. Von ihm erscheint im April 2025: Radatouille

 

Meine Tour de France zu Burgund, Baguette und Banlieues (in Vorbestellung).

 

 

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