Brüssel:
Mit verschränkten Armen
Das Auftreten von Bundeskanzler Scholz hat in Brüssel immer wieder für Irritationen gesorgt. Auch die Zusammenarbeit mit Frankreich hat Schaden davon genommen. Mit verschränken Armen lasse sich keine gute Politik machen, erklärt Thomas Gutschker.
dokdoc: Sie sitzen seit Ende 2019 in Brüssel und beobachten aus nächster Nähe, wie Deutschland und Frankreich auf dem europäischen Parkett agieren. Wie haben Sie den Machtwechsel 2021 erlebt?
Thomas Gutschker: Der Wechsel im Dezember 2021 war eine Zäsur, weil mit Angela Merkel die bis dahin unumstrittene Anführerin der EU und wichtigste Politikerin im Europäischen Rat die Bühne verlassen hat. Es war von vornherein klar, dass der neue Bundeskanzler nicht sofort in diese Rolle würde hineinwachsen können.
dokdoc: Was heißt das konkret? Wie hat sich die Wahl Olaf Scholz auf die deutsch-französische Zusammenarbeit in Brüssel ausgewirkt?
Gutschker: Es hat sich recht schnell gezeigt, dass Scholz kein besonderes Interesse an der Kooperation mit Frankreich hat. Im Oktober 2022 erreichten wir einen Tiefpunkt. Damals ging es um die Frage, was die EU-Staaten unternehmen können, um gegen die hohen Energiekosten vorzugehen bzw. welche nationalen Möglichkeiten ihnen offenstehen. Und da überraschte der Bundeskanzler seine Partner, Frankreich eingeschlossen, mit der Ankündigung, dass Deutschland bis zu 200 Milliarden € zur Verfügung stellen wollte, die dann vor allem der deutschen Industrie zugutegekommen sollten. Das war deshalb ein Tiefpunkt, weil es bis dahin immer üblich gewesen war, dass man den Partner von seinen Vorstellungen und Ankündigungen in Kenntnis setzt, bevor man sie öffentlich macht. Niemals den anderen überraschen, das ist eine Grundregel im deutsch-französischen Verhältnis. Und die wurde hier gebrochen. Zwei Wochen nachdem Deutschland diese Ankündigung gemacht hatte, gab es einen Rat, bei dem Emmanuel Macron gleich vor die Presse trat, was er nicht so oft tut. Normalerweise beschränkt er sich auf eine Pressekonferenz. Und da prägte er diesen Satz, dass es nicht gut sei, wenn Deutschland sich isoliere. Auch das geschieht normalerweise erst, wenn beide Seiten nicht in der Lage sind, einen Konflikt intern beizulegen.
dokdoc: Lag es nur an den handelnden Personen?
Gutschker: Es gab auch institutionelle Gründe, warum die Zusammenarbeit hakte. Im Bundeskanzleramt gab es immer einen Abteilungsleiter für Europa und einen Abteilungsleiter für Wirtschaft. Olaf Scholz hat diese Unterscheidung aufgegeben: Er hat Staatssekretär Jörg Kukies, der vor wenigen Wochen Finanzminister geworden ist, beide Funktionen übertragen. Man weiß aber aus der Erfahrung, dass es im Kanzleramt zwischen diesen beiden Abteilungen immer Auseinandersetzungen gibt und dass jeder seine eigene Perspektive hat. Und es ist wichtig, diese Auseinandersetzung auch im Angesicht des Bundeskanzlers zu führen, damit er von seinen Beratern unterschiedliche Positionen zu hören bekommt. Wenn aber diese Funktionen in einer Person vereinigt sind, wird dieser Diskurs nicht mehr offen ausgetragen. Ich glaube, das war Teil der Probleme und ist es bis heute geblieben.
dokdoc: Wir wissen ganz genau um die deutsch-französischen Divergenzen der letzten Jahre, weniger aber über die Punkte, in welchen es Deutschland und Frankreich gelungen ist, Europa nach vorne zu bringen.
Gutschker: Was gut funktioniert hat, ist die wichtigste Entscheidung, die noch in der Zeit von Bundeskanzlerin Merkel getroffen wurde, nämlich die Einrichtung des Wiederaufbaufonds. Der Fonds war ein wichtiger Durchbruch und ist erst später wirksam geworden, unter Bundeskanzler Scholz. Bis heute sind allerdings die meisten Mittel noch nicht ausgezahlt worden.
dokdoc: Diese Entscheidung wurde unter Angela Merkel getroffen. Aber wenn wir uns auf Scholz ‘Kanzlerschaft konzentrieren wollen…
Gutschker: Gut funktioniert hat Ursula von der Leyen. Ursula von der Leyen war im Grunde genommen das Produkt der deutsch-französischen Achse. Macron hatte sie seinerzeit als Präsidentin vorgeschlagen und damit ein wichtiges Zeichen gesetzt. Von der Leyen genießt sowohl sein Vertrauen als auch das Vertrauen der Bundesregierung, mit der sie sich eng zurückkoppeln muss. Ihr kam es zu, das deutsch-französische Vakuum zu füllen, und das hat sie so gut, wie es ging, versucht.
dokdoc: Im Zuge des Krieges gegen die Ukraine wurde von vielen Seiten behauptet, das Gravitationszentrum der EU verschiebe sich nach Osten. Die Zukunft Europas liege in den Händen anderer Länder – nicht mehr in den Händen Deutschlands und Frankreichs. Stimmen Sie dieser These zu?
Gutschker: Ich halte es für ganz normal, dass in einer solchen Krise die Staaten, die direkt an der Grenze zu Russland liegen, den Konflikt anders wahrnehmen als Staaten wie Italien oder Spanien. Allerdings war es so: Die rhetorische Unterstützung für die Ukraine war von französischer Seite sehr viel entschiedener als von deutscher Seite. Der deutsche Bundeskanzler hat sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, er sei zögerlich. Gleichzeitig war es aber so, dass das Volumen der deutschen Unterstützung an die Ukraine weit über dem Niveau dessen liegt, was Frankreich geleistet hat. Diese Diskrepanz hat zu zusätzlichen Spannungen geführt.
dokdoc: Nun sehen wir, dass Deutschland und Frankreich aus innenpolitischen Gründen gelähmt sind. Wie kann Brüssel mit dieser Situation umgehen – gerade jetzt, wo wir mehr denn je auf eine handlungsfähige EU angewiesen sind?
Gutschker: Wenn man es zunächst aus der institutionellen Sicht betrachtet, stehen wir am Anfang eines neuen Politikzyklus. Die Kommission hat ein frisches Mandat und muss jetzt Vorschläge produzieren. Das wird geschehen, unabhängig davon, wie die politische Lage in Paris und Berlin ist. Sie wird sich aber mit beiden Hauptstädten zurückkoppeln müssen. Und man darf sicher sein, dass sich Frau von der Leyen auch mit Friedrich Merz abspricht, der ja ihrer eigenen Partei angehört und insofern bei all ihren Vorschlägen auch mitbedenkt, was eine Bundesregierung tragen könnte, die dann von ihm geführt wird. Die eigentlich harte Zeit beginnt, wenn die Verhandlungen über die nächste mittelfristige Finanzplanung beginnen. Das wird ab dem Sommer der Fall sein. Diese Verhandlungen, die müssen auch von handlungsfähigen Regierungen geführt werden, denn am Ende geht es um klare Zusagen. Solange ein Land, wie es jetzt in Frankreich der Fall ist, keinen nationalen Haushalt verabschieden kann, kann es natürlich auch keinerlei Zusagen machen für europäische Haushalte.
dokdoc: Die Kommission hat am 26. November, den französischen Haushaltspfad als „glaubwürdig“ eingestuft und damit Barniers Plan zur Sanierung der Staatsfinanzen validiert. Nun ist die Regierung gestürzt. Wie wurde die Nachricht in Brüssel aufgenommen?
Gutschker: Alles, was in Frankreich passiert, wird in Brüssel aufmerksam verfolgt. Es gab den erkennbaren Willen, Barnier zu helfen – weil er die Notwendigkeit zu Einsparungen erkannt hatte. Wie immer es nun in Paris weitergeht, ohne Einschnitte wird die Kommission ihr Placet nicht erteilen.
dokdoc: Es wäre nicht gut sei, wenn Deutschland sich isoliere würde, warnte Emmanuel Macron im Oktober 2022. Nun hat man den Eindruck, dass der Bundeskanzler mehr oder weniger alleine dasteht. Was hat Scholz falsch gemacht?
Gutschker: Es gibt einen großen Unterschied zwischen Angela Merkel und Olaf Scholz. Olaf Scholz hat von seinem ersten Gipfeltreffen an, wenn ihm etwas nicht gefiel, einfach die Arme verschränkt und gesagt: Das macht er nicht mit. Besonders krass war das der Fall, als im vergangenen Juni darüber diskutiert wurde, wie man künftig gemeinsame Verteidigung finanzieren könnte. Da hat Scholz schnell klar gemacht: Die EU ist nicht zuständig für die Refinanzierung nationaler Verteidigungsausgaben – damit wollte er die Diskussion beenden. Angela Merkel hat genauso wie Olaf Scholz deutsche Interessen im Blick gehabt und war sicherlich nicht eine Frau, die leichthin über gemeinsame Schulden gesprochen hat. Aber sie hat sich im Rat immer bemüht, einen Konsens herbeizuführen und alle Staaten zu hören, mit ihnen gemeinsam nach Wegen zu suchen, wie man weiterarbeiten kann und damit auch allen das Gefühl gegeben, dass sie ernst genommen werden. Bei Olaf Scholz konnte man ein solches Verhalten nie beobachten.
dokdoc: Und wenn wir das jetzt auf das deutsch-französische Verhältnis zurückspiegeln?
Gutschker: Vor wichtigen Gipfeltreffen ist es immer üblich gewesen, dass sich der Bundeskanzler bzw. Bundeskanzlerin und der französische Präsident in den Tagen zuvor absprechen, dass es ein gemeinsames Abendessen gibt, wo man die gemeinsame Position festlegt, mit der man in ein solches Treffen geht. Und es war auch üblich, gemeinsame deutsch-französische Papiere zu verfassen, wenn Diskussionen über wichtige Fragen begonnen haben, um so einen Landungskorridor zu zeichnen. All das haben wir in den letzten drei Jahren nicht mehr erlebt.
dokdoc: Emmanuel Macron hat von Anfang an auf die europäische Karte gesetzt. Wie hat er sich in den vergangenen Jahren auf der europäischen Bühne bewegt und was wird von ihm am Ende bleiben?
Gutschker: Macron hat mit seiner Sorbonne Rede viele wichtige Dinge in der EU angestoßen. Einiges wurde „aufgenommen“, z.B. der Diskurs über europäische Souveränität. Das wird sich fortsetzen. Viele andere Angebote sind aber auf der Strecke liegen geblieben, nicht zuletzt, weil Deutschland nicht darauf eingegangen ist. Das gilt z.B. für das Angebot, das Macron in seiner Rede an der École de guerre (7. Februar 2020) gemacht hat, nämlich, dass man über die Rolle der atomaren Abschreckung in Europa diskutiert. Es wäre richtig gewesen darüber zu sprechen. Dieser Dialog ist aber von deutscher Seite verwehrt worden aus der Angst heraus, dass man, sobald man anfängt, über solche Dinge nachzudenken, den Amerikanern einen Vorwand liefert, ihren nuklearen Schutzschirm einzuklappen. Das war falsch. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Bundeskanzler Friedrich Merz dafür aufgeschlossen ist.
dokdoc: Herr Gutschker, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Die Fragen stellte Landry Charrier
Der Autor
Thomas Gutschker ist politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Brüssel für die EU, die NATO und die Benelux-Staaten.