Zwischen brüderlicher Freundschaft und realpolitischem Kalkül
Am Donnerstag empfing der libanesische Parlamentspräsident Nabih Berri den französischen Außenminister Jean-Noël Barrot. Elias Ricken erklärt, welches Kalkül Frankreich im Libanon und im Nahen Osten verfolgt.
Am 4. August 2020 explodieren 2.500 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut. Große Teile der Stadt sind verwüstet, mehr als 200 Personen kommen ums Leben, 300 000 sind obdachlos. Zwei Tage später besucht der französische Präsident Emmanuel Macron die erschütterte Stadt und erklärt noch am Flughafen seine Absicht, die Koordination der europäischen und im weiteren Sinne internationalen Hilfeleistungen an den Libanon organisieren zu wollen. Das libanesische Volk stehe nicht allein und werde nicht im Stich gelassen: „…parce que c’est le Liban, parce que c’est la France […] on sera là et on ne vous lâchera pas.“ Später erklärt Macron auf den Straßen Beiruts, dass es als französischer Präsident seine Pflicht sei, dem Libanon zur Hilfe zu kommen und erntet dafür tosenden Applaus der ihn umringenden Menge. Auch wenn sich später kritische Stimmen zu Macrons Libanon-Programm melden und die angekündigte internationale Aufarbeitung der Explosion sowie tiefgreifende Staatsreformen ausbleiben, sind beide Länder bis heute durch eine enge Partnerschaft verbunden. Diese zeigt sich ebenfalls in den Verhandlungen um den Waffenstillstand zwischen der Hisbollah und Israel im Libanon im November 2024: Nicht zuletzt war es Macron, der in den vergangenen Monaten immer wieder die Wichtigkeit eines Waffenstillstands vor die UN-Vollversammlung brachte und, zeitgleich mit den USA, die getroffene Einigung bestätigte.
Enge Verbindung zur libanesischen Zivilgesellschaft
Frankreich ist als Mandatsträger des historischen État du Grand Liban (1920-43) eng mit der heutigen Libanesischen Republik (seit 1943) verbunden und hat bei der Gründung des Vielvölkerstaats eine maßgebliche Rolle gespielt. Die gesellschaftliche Nähe besteht nach wie vor und lässt sich unter anderem an den Personen des öffentlichen Lebens mit doppelter Staatsbürgerschaft nachvollziehen. Beispielsweise besitzen Léa Salamé, eine der bekanntesten französischen Fernsehmoderatorinnen oder Rodolphe Saadé, der Inhaber von CGA CGM, der drittgrößten Reederei der Welt, gleichzeitig die französische und libanesische Staatsbürgerschaft. Der 2020 amtierende libanesische Wirtschaftsminister Raoul Nehmé hat wiederum an der französischen Elitehochschule Polytechnique studiert, der damalige libanesische Botschafter in Frankreich Rami Adwan, kennt Macron noch aus seiner Studienzeit an der ENA. Ferner genügt ein Blick auf die Struktur des libanesischen Bildungssystems, um festzustellen, dass die französische Sprache und die politisch-kulturelle Frankreichbindung bis heute bestimmend für das Land sind: Mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler sind auf französisch-libanesischen Schulen untergebracht, Schul- sowie Studienabschlüsse sind deckungsgleich mit französischen Abschlüssen.
Unterstützung der libanesischen Staatssouveränität
Die Aufstellung und Unterstützung einer Regierung im Libanon, die ihre staatliche Souveränität auf dem gesamten libanesischen Staatsgebiet ausüben kann, bleibt das erklärte Ziel Frankreichs: So werden seit Anfang der 2000er Jahre unter französischer Führung internationale Geberkonferenzen zur Unterstützung der Bevölkerung und staatlichen Souveränität im Libanon einberufen. Sie sollen den ökonomischen und vor allem infrastrukturellen Entwicklungen des Landes Antrieb verleihen. Die letzte Konferenz dieser Art fand im Oktober 2024 statt und spielte insgesamt mehr als 1 Milliarde Euro ein. Unklare staatliche Verhältnisse und jahrelange Misswirtschaft führen jedoch dazu, dass die finanzielle Unterstützung nur ineffizient genutzt wird und sich nicht in politischen Reformen niederschlägt. Laut der libanesischen Anti-Korruptionsstrategie wären Staatsreformen das wichtigste Mittel, um dem Verfall staatlicher Struktur vorzubeugen.
Um diese Reformen einzuleiten, ist im Juni 2023 mit Jean-Yves Le Drian ein politisches Schwergewicht – wenn auch nur a.D. – zum persönlichen Beauftragten des Präsidenten Macron im Libanon ernannt worden. Seine Berufung ist nicht nur Maß für die strategische Wichtigkeit, die Frankreich dem Libanon beimisst, sie spricht auch für die Ausrichtung der Partnerschaft: Le Drian ist als ehemaliger Staatssekretär, Verteidigungs- und Außenminister mit sicherheitspolitischen und geheimdienstlichen Dossiers vertraut. Auch Frankreichs Vermittlerrolle in den Verhandlungen zum Waffenstillstand zwischen der Hisbollah und Israel bezeugen die Wirksamkeit von Le Drians Arbeit. So traf er sich zuletzt im September 2024 mit Repräsentanten verschiedener Gruppen und Parteien, beispielsweise mit dem Präsidentschaftskandidaten und Oberbefehlshaber der libanesischen Streitkräfte, Joseph Aoun, dem libanesischen Ministerpräsidenten und Unternehmer Najib Mikati, aber auch mit dem Parteivorsitzenden der Hisbollah, Mohammad Raad.
Frankreichs Verbindung zur Hisbollah
Während sich am 28. September 2024 Staatsoberhäupter und Diplomaten aus aller Welt zum Tod von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah äußern, schweigt Präsident Macron zu den Ereignissen. Lediglich sein Regierungschef Michel Barnier erinnert bei einer Grundsatzrede vor der Assemblée nationale an die 58 französischen Fallschirmjäger unter UN-Mandat, die 1983 bei einem von Nasrallah organisierten Anschlag in Beirut ums Leben kamen. Frankreich geht hinsichtlich der Hisbollah einen zweigeteilten Weg: Während der militärische Arm der Hisbollah von Frankreich seit 2013 als Terrororganisation geführt wird, steht die politische Partei Hisbollah nicht auf dieser Liste. Dies ist ungewöhnlich, da viele westliche Staaten und selbst die Arabische Liga die gesamte Hisbollah als Terrororganisation einstufen. Frankreichs Alleingang hat verschiedene Gründe:
Von französischer Seite wird immer wieder betont, dass es sich bei der Hisbollah einerseits um eine Terrormiliz, andererseits aber auch eine Partei im libanesischen Politsystem handele, zu dem der Kontakt nicht abbrechen dürfe. Sonst drohe man ebenfalls den Kontakt zu großen Teilen der libanesischen Gesellschaft zu verlieren: Und ohne die sei ein politischer Wandel im Libanon nicht zu vollbringen. Am 6. August 2020 betonte Macron bei einer Pressekonferenz in Beirut: „Le Hezbollah a des députés élus par les Libanais, il fait partie de la scène politique.“ Gleichzeitig fordert er beständig von der Hisbollah, sich als politische Partei für den Libanon einzusetzen, anstatt iranische Partikularinteressen zu verfolgen. Macron spricht dies offen gegenüber dem Hisbollah-Abgeordneten Mohammad Raad an: „Prouvez que vous êtes libanais. Tout le monde sait que vous avez un agenda iranien. […] mais vous êtes Libanais, oui ou non? Vous voulez aider les Libanais, oui ou non? Vous parlez du peuple libanais, oui ou non? Donc rentrez à la maison, quittez la Syrie et le Yémen, et faites le boulot ici pour construire un État parce que ce nouvel État va aussi bénéficier à vos familles.“
In einem realpolitischen Ansatz wird somit der Kontakt mit der Hisbollah aufrechterhalten und im Gegenzug eine konstruktive Politik im Sinne des Libanons gefordert. Gleichzeitig weiß die Hisbollah, dass sie es sich nicht leisten kann, Frankreich als diplomatischen Streitschlichter abzulehnen: Sie würde sich gegen einen Großteil der libanesischen Gesellschaft stellen. So äußerte sich nach der o.g. Pressekonferenz der mittlerweile getötete Hisbollah-Gründer Hassan Nasrallah positiv über Macrons Besuch und Initiative.
Was jetzt?
Durch diesen differenzierten diplomatischen Ansatz öffnen sich für Frankreich Möglichkeiten, in der gesamtpolitischen Landschaft des Libanon Einfluss zu nehmen:
– Einfluss auf libanesische Präsidentschaftswahl: Seit der Abdankung des letzten libanesischen Präsidenten Michel Aoun im Jahr 2022 ist der Staat führungslos, ein neuer Präsident, der dieses Machtvakuum füllen könnte, wird dringend gesucht. Aufgrund des kulturellen und politischen Einflusses ist Frankreich als einziges europäisches Land am sogenannten Quintett beteiligt. Dabei handelt es sich um eine Verhandlungsgruppe bestehend aus den USA, Frankreich, Ägypten, Saudi-Arabien und Qatar, die als Gegengewicht zum Iran und der Hisbollah einen eigenen liberalen Präsidentschaftskandidaten unterstützen. Aktuell ist dies Joseph Aoun, Oberbefehlshaber der libanesischen Streitkräfte, der als Kompromisskandidat zwischen beiden Interessensgruppen gilt. Sollte dieser vom libanesischen Parlament zum Präsidenten gewählt werden, wäre dies ein Erfolg für die staatliche Souveränität des Libanons und würde zugleich die Position Frankreichs als Vermittler auf internationaler Ebene stärken. Dies entspricht wiederum Frankreichs außenpolitischem Selbstbild als ehemalige Mandatsmacht.
– Hafen von Beirut: Während seiner Besuche in Beirut nach der Explosionskatastrophe im August 2020 traf sich Macron sowohl mit Vertretern der libanesischen Zivilgesellschaft als auch der Politik und legte ihnen nahe, miteinander zu kooperieren, um stabile Verhältnisse zu schaffen. Abseits dieser Treffen hatte das französische Außenministerium der Hisbollah mitgeteilt, dass Macron keine politischen Maßnahmen gegen ihr Waffenarsenal anstreben würde, wenn sich die Hisbollah im Gegenzug bereit erkläre, nicht in die kommenden Vertragsverhandlungen zum Wiederaufbau des Hafens von Beirut einzugreifen. Der Deal ging auf: Im Februar 2022 erhielt das französisch-libanesische Schifffahrtsunternehmen CMA CGM die Zusage zum Wiederaufbau und zur Erweiterung der Hafeninfrastruktur. In diesem Rahmen plant das Unternehmen, einen zweistelligen Millionenbetrag in das Containerterminal zu investieren; Anfang 2024 stellte es einen konkreten Plan zum Wiederaufbau der Hafenstruktur vor. CMA CGM ist in Beirut nicht unbekannt: Schon vor der Explosion war es zu 29% an der Hafenverwaltung Beiruts beteiligt und hatte parallel zu Macrons Besuchen in Beirut humanitäre Hilfsgüter sowie Einsatzkräfte von Frankreich in den Libanon gebracht. Auch wenn CMA CGM ohnehin ein geeigneter Kandidat für den Wiederaufbau des Hafens gewesen wäre, war es höchstwahrscheinlich Macrons zweigleisige Verhandlungsstrategie, die die Vertragsvergabe vollends gesichert hat.
Diese zwei Beispiele veranschaulichen, wie sehr das enge Verhältnis Frankreichs mit dem Libanon durch außenpolitisches Kalkül bestimmt ist. Macron nutzt die Lücken, die die innenpolitische und wirtschaftliche Instabilität des Landes gelassen hat. Erst die Asymmetrie der libanesischen Polit-Landschaft ermöglicht es der früheren Mandatsmacht, eine herausgehobene Rolle in eigentlich rein libanesischen Entscheidungen einzunehmen. Dadurch kann das traditionell nach Süden ausgerichtete Frankreich ebenfalls an Einfluss im internationalen Raum gewinnen nicht zuletzt in muslimisch geprägten Ländern. Es ist die hier skizzierte besondere Beziehung Frankreichs zum Libanon, die Macrons Bemühungen vor der UN und in den Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Israel und der Hisbollah die nötige Reichweite verschafft und durch deren Erfolg Frankreichs Position nicht nur im Libanon sondern auch im internationalen Raum gestärkt wurde.
Der Autor
Elias Ricken ist Studentische Hilfskraft beim Beirat der Bundesregierung für Zivile Krisenprävention und Friedensförderung. Davor arbeitete er bei der DGAP und im französischen Umweltministerium. Er studiert Risiko- und Krisenmanagement im Master in Paris und spezialisiert sich in diesem Rahmen auf Sicherheits- und Verteidigungsfragen.