Cocoriki:
…. Et surtout la santé, hein?
In meinen ersten Jahren in Frankreich hielt ich es wie in Deutschland, ich wünschte „Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins Neue Jahr“, kurz vor Jahresende und an den ersten Tagen im Januar „Frohes Neues Jahr“. Dann wieder back to normal…Pas si vite! In Frankreich ist das etwas anders. Cocoriki spielt für Sie den Frankreich-Knigge.
Alle Jahre wieder…, im Januar unterziehen sich die Franzosen (freiwillig oder gezwungen) einem ganz besonderen Begrüßungsritual, das sich vom Rest des Jahres abhebt. Trifft man jemanden das erste Mal im neuen Jahr, so wünscht man sich nicht nur „bonne année“ oder „meilleures voeux“, nein, das genügt nicht, man nimmt sich Zeit, die Wünsche so individuell wie möglich zu gestalten. Man wünscht etwa alles Gute für den bevorstehenden Umzug oder das anstehende baccalauréat und dann kommt der entscheidende Moment: Man macht ein sehr ernstes Gesicht und beendet seine Wünsche mit „mais surtout la santé, hein?“ „Hein“, diese sehr französische Interjektion verlangt nach einer – in diesem Fall – zustimmenden Antwort, etwa „bah oui, la santé c’est ce qu’il y a de plus important.“ Erst dann kann man zum Alltagtrott übergehen.
Selbst heute, nach so vielen Jahren in Frankreich, muss ich mich immer wieder selbst daran erinnern: „parle de la santé, parle de la santé…“, wiederhole ich ständig im Kopf. Das geht dann so bis zum letzten Tag des Monats, denn begegnet man jemandem am 31. Januar, dann bekommt man zu hören: On est toujours en janvier, on peut encore se souhaiter la bonne année, hein?…“. Manche haben sogar für den Februar noch einen Satz parat: „On n’est plus en janvier, mais bon il est jamais trop tard, hein?“ Es gibt aber noch einen anderen Ritus, den ich am Samstag, den 6. Januar 1990 entdecken sollte, meinem Jahr als Jeune-homme-au-pair in einer französischen Familie: la galette des rois.
… vive le roi!
Nachdem ich Weihnachten und das Neujahrsfest zu Hause in Deutschland verbracht hatte, kam ich am 6. Januar zurück zu meiner Gastfamilie in Garches, einem Vorort von Paris, wo ich freudig von Marc und Guillaume, den zwei Jungs der Familie empfangen wurde: „Tu viens au bon moment, on va tirer les rois“, wörtlich: die Könige ziehen. Ich verstand die Bedeutung des Verbs „ziehen“ in diesem Zusammenhang zwar nicht, dachte aber an die Heiligen Drei Könige in Deutschland und erwartete, dass verkleidete Kinder an der Tür klingelten und ein Lied sangen. Doch: Niemand klingelte, nichts geschah. Nach dem Mittagessen sagte meine Gastmutter schließlich: „Bon, ich hole jetzt die Galette“ und fast zeitgleich verschwand Marc unter dem Tisch: „Ich bin der Jüngste, c’est moi qui décide.“ Da kam auch schon meine Gastmutter mit einem Blätterteigkuchen zurück, den sie in fünf Stücke aufteilte. Immer, wenn sie ein Stück auf einen Teller legte, fragte sie ihren Sohn: „C’est pour qui?“ Und Marc, unter dem Tisch, gab einen nach dem anderen unsere Namen an, kroch dann wieder hervor und alle stürzten sich auf den Kuchen. Ich wusste nicht, dass es noch eine Überraschung geben würde, denn plötzlich rief Guillaume: „Ich habe sie! Ich habe die fève! Ich bin der König!“ Fève? König?
Heute wäre der erste Reflex natürlich, Google zu befragen, 1990 allerdings musste ich mich auf mein Langenscheidt Wörterbuch verlassen, wo unter fève folgendes stand: (Sau) bohne, also eine Hülsenfruchtpflanze, deren Samen frisch oder eingelegt verzehrt werden. Und sowas stecken die Franzosen in einen Mandelcreme-Kuchen? Seltsam! Ich sah mir also genau an, was Guillaume in der Hand hielt: Es war eine kleine Figur, keine Bohne. Bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, holte mein Gastvater schon eine Pappkrone aus der Verpackung und setzte sie seinem Sohn auf den Kopf. Das war also die Bedeutung von tirer les rois: Man verspeist einen Blätterteigkuchen mit Mandelcrème und derjenige, der eine Figur in seinem Kuchen findet, ist der König. Es dreht sich also tatsächlich immer alles um die Monarchie, Revolution hin oder her. Als ich meine Gastfamilie fragte, woher denn diese Tradition kam, bekam ich leider nur eine frustrierende Antwort: „Euh? Je sais pas, c’est une tradition, on fait toujours ça!“ Die folgenden Zeilen sind also ganz besonders für sie.
König*in für einen Tag
In ihrer traditionellen Version ist die galette des rois ein Blätterteigkuchen, der in Frankreich zwischen dem 6. Januar (dem Tag der Erscheinung des Herrn), und Karneval gegessen wird und in dem eine kleine Figur, une fève, verborgen ist. In der Regel ist er mit Frangipane gefüllt, einer Creme aus süßen Mandeln, Butter, Eiern und Zucker. Wie viele christliche Feiertage entspricht auch diese Tradition ursprünglich einem heidnischen Fest, denn in der Vergangenheit feierten die Römer die Saturnalien, das Wintersonnenwendefest, mit einem Kuchen, in dem eine weiße und eine schwarze Bohne versteckt waren. Wer diese Bohne in seinem Kuchenstück hatte, der war König (oder Königin) für einen Tag.
In Frankreich gehen die ersten Spuren dieser Galette, zunächst ein Kuchen, zurück in das 13. bis 14. Jahrhundert. Der Kuchen wurde in die Zahl der Anwesenden aufgeteilt, plus ein zusätzliches Stück: la part du pauvre, das Stück für den „Armen“. Im 16. Jahrhundert wurde dieser Königskuchen Gegenstand eines erbitterten Krieges zwischen Bäckern und Konditoren, da beide das Verkaufsmonopol dieses Kuchens für sich beanspruchten. Um dem Streit ein Ende zu setzen, verlieh König François I. schließlich den Konditoren das Recht. Die erfinderischen und vor allem geschäftstüchtigen Bäcker ließen sich jedoch nicht unterkriegen und machten aus dem Königskuchen eine Galette. Business is business… pardon…les affaires c’est les affaires!
Le gâteau des rois wurde sogar am Hofe Louis XIV. „gezogen”. Die Damen des Hofes, die auf eine fève stießen, wurden für einen Tag „Königin von Frankreich“ und sie hatten beim König einen Wunsch frei. Man nannte das „grâces et gentillesse“, Gnade und Güte. Was sie sich gewünscht haben? Das wird wohl ein Geheimnis bleiben. Vielleicht sind einige zu weit gegangen, denn der Sonnenkönig hat diesen Brauch schließlich abgeschafft.
… nicht die Bohne
Und was hat es nun mit la fève auf sich? Tja, darum ranken viele Geschichten. Die eine erzählt, im 14. Jahrhundert sollen Mönche in Besançon ihren Domdekan gewählt haben, indem sie eine Goldmünze in ein Stück Brot steckten. Das gemeine Volk habe diesen Ritus dann nachgeahmt, aus finanziellen Gründen soll das Goldstück allerdings durch eine Bohne ersetzt worden sein.
Die andere Erzählung aus der gleichen Zeit geht auf „le roi boit“ zurück, einen Brauch, nachdem derjenige, der die Bohne in seinem Stück hatte, den anderen eine Runde bezahlen musste. Die Geizigsten sollen die Bohne verschluckt haben, um nicht für das Trinken bezahlen zu müssen. Das wäre heute schwierig, denn die fève ist entweder aus Porzellan oder aus Plastik (manchmal aber auch aus Metall). Von Asterix, über Michael Jackson, bis hin zu den Präsidenten Mitterrand, Chirac, Hollande und Macron, gibt es fèves in allen möglichen Formen, auf Ebay 2016 erreichte eine sogar den stolzen Preis von 1246 Euros. Für die Bäcker ist diese Tradition übrigens eine willkommene Geldquelle. Im Vergleich zu einem anderen Monat steigern sie dank der Galette ihren Umsatz um 30 bis 40 %, es werden jedes Jahr immerhin 30 Millionen Galettes verzehrt.
Les voeux du président
Die galette des rois wird nicht nur zu Hause gegessen, denn sie fällt in die Zeit der voeux, der Neujahrswünsche. Bis Ende Januar organisieren Firmen un moment convivial um eine galette des rois. Der Chef hält eine kurze Rede, wünscht allen ein frohes neues Jahr, lässt nebenbei geschickt einige Ziele für das Jahr mit reinrutschen, und dann wird gegessen. Je nach Budget gibt es dazu Champagner, Cidre oder Saft. Diese Königstradition macht nicht mal vor dem Amt des Präsidenten halt, dessen Terminkalender im Januar mit voeux du président-Veranstaltungen prall gefüllt ist.
Jedes Jahr wird während des traditionellen Empfangs im Élysée-Palast eine riesige galette (1,20 m Durchmesser für 150 Personen) serviert, allerdings mit einer Ausnahme: Der Bäcker hat die Anweisung, keine fève hineinzustecken, man kann im Sitz des Präsidenten schließlich keinen König ernennen…
Und kaum ist der Januar zu Ende, da gibt es auch schon eine andere Tradition, la chandeleur. Aber das heben wir uns für das nächste Mal auf!
Cokoriki wünscht allen Lesern une bonne année … et surtout bonne santé, hein?
Der Autor
Der in Hessen geborene Frank Gröninger wohnt seit 1993 in Paris, wo er als Lehrer für Deutsch und interkulturelle Beziehungen unter anderem für das französische Außenministerium und Sciences Po, dem Institut für politische Wissenschaften arbeitet. 2021 erschien sein Buch „Douce Frankreich: die Abenteuer eines Deutschen in Paris“, sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, 2022 sein zweites Buch, „Dessine-moi un(e) Allemand(e)“.