Städtepartnerschaften:
Partnerschaft in Kriegszeiten
Aachen und Reims stehen für Versöhnung und das fortwährende Bemühen um das europäische Einigungswerk. Beide Städte haben nun partnerschaftliche Beziehungen zu Chernihiv, im Norden der Ukraine, aufgenommen. Wir haben mit Sibylle Keupen und Dimitri Oudin darüber gesprochen.
dokdoc: Chernihiv wurde von den ersten Kriegstagen an belagert. Es wurde Schauplatz erbitterter Kämpfe und großflächiger Zerstörungen. Herr Oudin, Reims hat im Mai 2023 eine Partnerschaft mit Chernihiv abgeschlossen. Was hat Sie dazu bewogen?
Dimitri Oudin: Reims hat sich schnell für die Unterstützung der Ukraine engagiert: zunächst bei der Aufnahme von Flüchtlingsfamilien, dann durch finanzielle Hilfe. Die Geschichte unserer Stadt ist tief von der internationalen Solidarität geprägt, die sie nach dem Ersten Weltkrieg erfuhr und die maßgeblich zu ihrem Wiederaufbau beitrug. Als Märtyrerstadt im Ersten Weltkrieg, aber auch als Stadt der Kapitulation der Nazis und der deutsch-französischen Aussöhnung hat Reims eine Botschaft des Friedens und der Widerstandsfähigkeit, die es nach Europa und in die Welt hinauszutragen gilt. Wir waren der Ansicht, dass wir diese Botschaft durch eine Partnerschaft mit einer ukrainischen Stadt konkretisieren sollten, die unter sonst gleichen Bedingungen das Trauma erlebte, das unsere Stadt im 20. Jahrhundert heimsuchte.
dokdoc: Frau Keupen, nur wenige Tage nach Abschluss der Partnerschaft zwischen Reims und Chernihiv ist auch Aachen eine Solidaritätspartnerschaft mit Chernihiv eingegangen. Wie kam es dazu?
Sibylle Keupen: Der zeitliche Zusammenhang ist eher zufällig. Im Herbst 2022 trat der Verein „Ukrainer in Aachen“ an die Stadt Aachen heran mit der Idee, eine Städtepartnerschaft einzugehen. Der Verein besteht aus Ukrainer*innen, die schon lange in Deutschland leben, sowie Geflüchteten. Gemeinsam schlugen sie die Stadt Chernihiv vor, da diese in Größe und Struktur Aachen ähnelt. Diese Initiative fand im Dezember 2022 breite Unterstützung und die Partnerschaft wurde einstimmig beschlossen.
dokdoc: Aachen und Reims sind seit 1967 in Form einer Städtepartnerschaft miteinander verbunden. Welche Bedeutung kommt dieser Partnerschaft in der Ausgestaltung Ihrer Beziehungen zu Chernihiv zu?
Keupen: Wir sind stolz, dass Reims und Aachen nun beide eine enge Verbindung zu Chernihiv haben. Diese Nähe ermöglicht es uns, Projekte direkt und effizient umzusetzen und gegenseitige Unterstützung zu leisten. Die Struktur der Städtepartnerschaften in Deutschland basiert stark auf dem zivilgesellschaftlichen Engagement. Der Verein Aachen-Reims und „Ukrainer in Aachen“ stehen in engem Austausch. Diese Zusammenarbeit schafft eine solide Grundlage für nachhaltige und wirkungsvolle Partnerschaften. Es ist bewegend zu sehen, wie Menschen aus verschiedenen Städten zusammenkommen, um sich für eine gemeinsame Sache einzusetzen und so einen echten Unterschied zu machen.
Oudin: Der Aufbau unserer jeweiligen Partnerschaft mit Chernihiv erfolgte parallel. Wir arbeiten nun daran, gemeinsame Kooperationen zwischen unseren drei Städten auf die Beine zu stellen, insbesondere im Bereich der Kultur: Angesichts unserer jeweiligen Geschichte ist die deutsch-französische Zusammenarbeit ein schönes Beispiel, um unsere ukrainischen Freunde im europäischen Projekt zu verankern.
dokdoc: Welche Schwierigkeiten mussten Sie auf dem Weg zu Ihren Partnerschaften mit Chernihiv überwinden?
Oudin: Chernihiv erlebt noch immer regelmäßig Bombenangriffe. Die Zeitplanung bei der Projektentwicklung ist absolut nicht die unsere. Gleiches gilt für die inhaltliche Gestaltung unserer Projekte: Sie muss häufig aktualisiert werden. Die persönliche Anreise ist angesichts der Sicherheitslage zwangsläufig komplexer. Ein solcher Austausch ist jedoch die Grundlage der traditionellen Städtepartnerschaften. Und es liegt an uns, Anpassungsfähigkeit zu beweisen.
Keupen: Der Stadtrat stimmte einstimmig für die Partnerschaft. Die Bürger*innen von Aachen haben seit Beginn des Krieges eine große Hilfsbereitschaft gezeigt. Viele haben Geflüchtete bei sich aufgenommen und großzügig Möbel, Kleidung und Schuhe gespendet. Die Umsetzung der Partnerschaft funktioniert auf verschiedenen Ebenen. Wir haben z.B. Fahrzeuge der Abfallwirtschaft und aus dem Baubereich nach Chernihiv überführt. Dies war eine logistische Herausforderung, die wir erfolgreich gemeistert haben. Auch im kulturellen Bereich sind wir aktiv: Eine gemeinsame Fotoausstellung von Ansichten aus Chernihiv und Aachen hat deutlich gemacht, wie digitale Vernetzung kulturelle Projekte ermöglicht und stärkt.
dokdoc: Welche Rolle haben bei der Aufnahme und Ausgestaltung beider Partnerschaften die Stadtöffentlichkeit und die eigenen Kriegserfahrungen im kollektiven kommunalen Gedächtnis gespielt?
Keupen: Aachen wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört und die Bewohner*innen mussten große persönliche und kollektive Verluste erleiden. Diese historische Erfahrung hat eine tiefe Verbindung zu den Menschen in der Ukraine geschaffen, die Ähnliches durchmachen. Als im Februar 2022 die ersten Geflüchteten ankamen, wurde bei vielen Bilder aus dieser Zeit wieder wach. Unsere eigene Kriegserfahrung verpflichtet uns, den Menschen in der Ukraine zur Seite zu stehen und sie zu unterstützen.
Oudin: Die Bevölkerung von Reims war aufgrund des kollektiven Traumas, das unsere eigenen Kriegserfahrungen darstellten und der internationalen Unterstützung, die wir nach dem Krieg erhielten, für diese Partnerschaft empfänglich. Wir haben insbesondere eine Fotoausstellung organisiert, in der wir die Ruinen unserer Stadt während des Ersten Weltkriegs und die Ruinen von Chernihiv gegenüberstellten. Die Parallelen, die sich aus dem Abstand von etwas mehr als 100 Jahren ergeben, sind frappierend.
dokdoc: Auch andere Kommunen haben bestehende Beziehungen in die Ukraine ausgebaut oder aufgenommen. Welche Rolle spielen hierbei kommunale und regionale Netzwerke wie beispielsweise der Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE) oder auch Instrumente der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) bzw. der Agence française de développement (AFD)?
Oudin: Über das U-LEAD-Programm, in dem einer unserer ukrainischen Flüchtlinge als Mitarbeiter tätig war, haben wir unsere Partnerschaft mit Chernihiv identifiziert. Was den RGRE betrifft, so führen wir derzeit Gespräche über die Realisierung einer Partnerschaft rund um die Wasserproblematik.
Keupen: In Deutschland wird die kommunale Kooperation mit der Ukraine stark unterstützt. Fördermittel können über Engagement global beantragt werden. Diese Organisation, die im Auftrag der Bundesregierung arbeitet, wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert. Unter diesem Dach ist ein großes Netzwerk der Städtepartnerschaften entstanden. In Aachen haben wir bereits Fördermittel für Delegationsbesuche und die Überführung von Fahrzeugen nach Chernihiv erhalten. Die Stadt nimmt auch an einem GIZ-Programm zum Bevölkerungsschutz teil und wird Ende des Jahres Güter im Wert von 120 000 Euro nach Chernihiv überführen können.
dokdoc: Was können Sie als Städte besser als andere Akteure erreichen? Was bedeutet das konkret für Chernihiv?
Keupen: Wir arbeiten von Stadt zu Stadt und können viel voneinander lernen. Themen wie Klimaschutz und neue Mobilitätsmodelle sind für beide Städte von großer Bedeutung. Durch unsere Partnerschaften mit Hochschulen, Unternehmen und gesellschaftlichen Institutionen können wir Chernihiv gezielt unterstützen. Diese Zusammenarbeit ist besonders in Kriegszeiten von unschätzbarem Wert und bietet beiden Städten neue Perspektiven und Möglichkeiten.
Oudin: Wir verfügen über Fachwissen, über das andere Ebenen der öffentlichen Verwaltung nicht verfügen, sei es in den Bereichen Jugend, Wasserwirtschaft oder Kultur. Und vor allem bringt es die DNA unseres Territoriums natürlich mit sich, dass wir uns für Themen interessieren, die auch unsere ukrainischen Freunde betreffen. Dazu gehören insbesondere die Erinnerung an den Krieg und seine museale Aufarbeitung.
dokdoc: Wie sehen Sie die perspektivische Weiterentwicklung Ihrer Partnerschaften mit Chernihiv?
Oudin: Wir hoffen, diese Partnerschaft langfristig zu verankern und mit unseren Partnern den wiedergefundenen Frieden und darüber hinaus zu feiern!
Keupen: Rein formal wird die Partnerschaft mit Chernihiv derzeit als zeitlich begrenzte Solidaritätspartnerschaft geführt. Ich gehe davon aus, dass wir eine langfristige Städtepartnerschaft vereinbaren werden und so eine gute Basis für gemeinsame Projekte und Austausche – auch mit Schulen – schaffen werden.
dokdoc: Damit sprechen Sie einen ganz zentralen Punkt an, denn üblicherweise sind Partnerschaften stark von menschlichen Begegnungen geprägt. Wie können Sie neben dem materiellen Wiederaufbau die Stärkung der menschlichen Dimension durch Ihre Partnerschaften stärken?
Oudin: Die europäischen Programme in all ihren unterschiedlichen Ausprägungen erleichtern die Mobilität, insbesondere die Mobilität aus dem Ausland. Wir haben bereits damit begonnen, unsere ukrainischen Freunde in verschiedene Projekte zu integrieren und werden dies auch in Zukunft weiterhin tun.
Keupen: Wir hoffen sehr, dass der Krieg bald endet und wir uns persönlich treffen können. Bis dahin können virtuelle Projekte die menschlichen Beziehungen stärken. Vor kurzem haben wir eine gemeinsame Fotoausstellung mit Chernihiv organisiert: Ich sprach soeben davon. Diese künstlerische Zusammenarbeit hat zu einem engen Austausch geführt, der die menschliche Beziehung stark gefestigt hat. Solche Projekte zeigen, wie Kultur Brücken bauen und Menschen verbinden kann, selbst in schwierigen Zeiten.
Die Fragen stellte Andreas Marchetti
Statement von Nataliia Kholchenkova, Leiterin der Abteilung Internationale Beziehungen und Investitionen der Stadt Chernihiv
Die Partnerschaft mit so starken Städten wie Aachen und Reims ist für Chernihiv äußerst wertvoll. Leider befinden wir uns heute aufgrund des uneingeschränkten Krieges Russlands gegen die Ukraine in einer äußerst schwierigen Lage, und wir kämpfen jeden Tag für Demokratie und europäische Werte zu einem überaus hohen Preis. Die Unterstützung von Aachen und Reims zeigt, dass wir in dieser Tragödie nicht allein sind. Dies ist ein starkes Signal für unsere Bewohner, das ihnen die Kraft und Inspiration gibt, den Kampf fortzusetzen.
Chernihiv hat viel mit Aachen und Reims gemeinsam: eine lange Geschichte, ein einzigartiges kulturelles und architektonisches Erbe und unerschütterliche Traditionen. Alle drei sind durch ihre Bedeutung als alte Zentren der europäischen Kultur und Spiritualität verbunden. Sie spielten eine Schlüsselrolle bei der Bildung der Staatlichkeit ihrer jeweiligen Länder, waren Schauplätze von Krönungen und wichtigen gesellschaftlichen und politischen Ereignissen. Ihr architektonisches Erbe spiegelt die Größe des mittelalterlichen Europas wider, darunter Kathedralen und andere Sakralbauten.
Es ist für uns äußerst wichtig, von den Erfahrungen und bewährten Verfahren unserer europäischen Freunde zu lernen, denn wir haben noch einen langen Weg des Wiederaufbaus vor uns und wollen uns nicht nur erholen, sondern auch modernisieren und die Dinge besser machen als zuvor.
Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung und Hilfe, die uns von Aachen und Reims zuteil wird. Wir möchten auch den Menschen in Reims und Aachen danken. Ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam eine fruchtbare Partnerschaft aufbauen und viele Projekte für unsere Bürger umsetzen und starke Freundschaften zwischen unseren Völkern aufbauen werden.