Cocoriki:
Von der Last ein Musterschüler zu sein


Die Deutschen sind immer pünktlich und deutsche Produkte sind von bester Qualität. Man sollte meinen, dieses stereotype Bild sei für einen Deutschen in Frankreich das liebste. So einfach ist das leider nicht. Cokoriki kennt das nur zu gut.
„Tout mon travail, c’est de rapprocher la France d’un système qui marche, celui de l’Allemagne“, behauptete Präsident Nicolas Sarkozy am 27. Oktober 2011 im Fernsehen. Damit prägte damit ein Deutschlandbild, das sich sowohl in den Medien als auch in der französischen Gesellschaft schnell ausbreitete: Immer häufiger sprach man dann von le modèle allemand, nannte Deutschland un exemple pour la France. Zum einen hieß das für mich, meinen Deutschlernenden den Unterschied zwischen Modell, Model, Muster, Vorbild und Beispiel klarzumachen. Das war noch machbar. Zum anderen aber, und das wissen wir alle, sind Klassenbeste nie beliebt und werden sogar noch unbeliebter, je öfter der Lehrer uns deren Vorbildhaftigkeit hervorhebt. Musterschüler nerven einfach! Und auch als deutscher Otto-Normal-Bürger in Frankreich wird einem schnell bewusst, dass es nicht immer leicht ist, als Vorbild zu gelten.
Sauber und ordentlich
Juni 2022, Flughafen Roissy, Check-in eines Lufthansa-Flugs nach Berlin. Vor mir in der Schlange sind vier französische Rentnerinnen, die einen Kulturtrip „unter Mädels“ nach Berlin vor sich haben, sie sind excitée comme des puces, wie man in Frankreich sagt. Ich konnte nicht anders als zuhören: Für drei der Damen ist es die erste Reise nach Deutschland, die vierte dagegen ist eine wahre Deutschlandkennerin, ja sogar Liebhaberin. Unaufhörlich preist sie Deutschland und die Deutschen.
– „Ihr werdet sehen, das ist kein Vergleich zu Frankreich! Die Deutschen sind sauber und ordentlich, alles funktioniert. Und niemals Streik! Was glaubt ihr, warum ich darauf bestanden habe, Lufthansa zu nehmen? Bei Air France weiß man ja nie …Ach, wenn ich Frankreich heute sehe… traurig, traurig…Pauvre France.“
War die Dame denn noch nie mit der Bundesbahn gefahren? Sicher hatte sie noch nie den Song Deutsche Bahn der Wise Guys gehört:
– „Meine Damen und Herrn, der ICE nach Frankfurt Main
Fährt abweichend am Bahnsteig gegenüber ein
Die Abfahrt dieses Zuges war 14 Uhr 2
Obwohl, das war sie nicht
Denn es ist ja schon halb drei…“
Lufthansa, Lufthansa!
Das Schicksal meinte es gut mit mir, denn die vier Damen saßen in der Reihe vor mir und so kam ich in den Genuss weiterer Abenteuer. Ich erfuhr genau, welches Programm vorgesehen war, immer wieder unterbrochen von Lobeshymnen auf die Deutschen.

Kurz nach dem leicht verspäteten Start („probablement la faute des aiguilleurs du ciel à Paris“) verteilten die Flugbegleiter bereits heiße Getränke. Die Damenriege entschied sich für Kaffee, der ausgerechnet in ihrer Reihe alle wurde. Höflich entschuldigte sich die Stewardess und erklärte auf Englisch, sie werde gleich noch welchen bringen. Da sie aber von anderen Passagieren abgelenkt wurde, vergaß sie es und so trank das ganze Flugzeug gemütlich seine heißen Getränke, bis auf meine Damen. Man konnte den Ärger in der Reihe vor mir regelrecht spüren. Entschlossen drückte schließlich die Deutschlandexpertin den Knopf, um die Stewardess zu rufen: „What can I do for you?“, fragte diese mit angelernter Flugbegleiter-Freundlichkeit. Den Damen ohne Kaffee war jedoch nicht nach Diskutieren, sie deuteten auf ihre Tassen und riefen nur: „Lufthansa, Lufthansa…“ Die verdutzte Stewardess verstand zunächst nicht, dass „Lufthansa, Lufthansa“ bedeutete: Wie ist es möglich, dass einer deutschen Firma so etwas passiert?
Deutsche Qualität
Ist vielleicht Made in Germany schuld an dieser Reaktion? Das wäre umso erstaunlicher, wenn man weiß, woher diese Bezeichnung kommt: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, begann in Deutschland die Industrialisierung, viel später als in Großbritannien. Die Zeit von 1830 bis 1873 wurde sogar als industrielle „Take-off“-Phase bezeichnet. Sehr schnell wurde der britische Markt von deutschen Produkten überschwemmt, die zwar viel billiger waren, aber auch von minderwertiger Qualität. Als Schutzmaßnahme verabschiedete das britische Parlament am 23. April 1887 eine neue Fassung des „Merchandise Marks Act“, der empfahl, dass alle Produkte mit ihrem Herkunftsland gekennzeichnet werden sollten: Das „Made in …“ war geboren. Die deutschen Hersteller ließen sich dadurch jedoch nicht entmutigen und setzten auf
„Wettbewerb durch Qualität“. „Made in Germany“ wurde schnell zum Qualitätsgaranten und nach dem Zweiten Weltkrieg Synonym für das deutsche Wirtschaftswunder.
Fünf Minuten vor der Zeit ist des Deutschen Pünktlichkeit
Hatte unser guter Ruf die anderen also unnachsichtiger gegenüber uns Deutschen gemacht? Da fiel mir auf einmal eine andere Anekdote ein: Meine Kurse im Ministerium begannen wie immer um 9 Uhr, ich war also um 8h45 in meinem Kursraum und wartete auf meine Schüler, Punkt 9 Uhr ging es los. Um 9:15 Uhr sah ich, wie mein italienischer Kollege mit seiner gesamten Klasse an meinem Raum vorbeiging. Meine Schüler, darunter meine Chefin, erklärten mir:
– „Ja, das ist normal, der Italienischkurs trifft sich erst in der Cafeteria, sie trinken einen Kaffee und gehen dann in den Kurs.“
– „Aber der Kurs beginnt doch auch um 9 Uhr“…, zögerte ich.
– „Ja, aber Sie wissen doch, in Italien ist das anders…“
Als einige Monate später meine U-Bahnlinie 13 wieder mal eine Panne hatte und ich trotz allem Punkt 9 Uhr völlig aufgelöst im Ministerium ankam, hörte ich folgende Bemerkung: „Na, was ist denn mit der deutschen Pünktlichkeit los?“ Hatte ich kein Recht auf etwas Nachsicht?
Hätte, hätte, Fahrradkette…
Hätte man damals nicht auf Wettbewerb durch Qualität gesetzt, wären die Damen in dem Lufthansaflug dann nachsichtiger mit der deutschen Stewardess gewesen, die die ganze Last des Images von Deutschland auf ihren Schultern tragen musste? Könnte ich heute seelenruhig mit meinen Schülern einen Kaffee trinken, obwohl der Unterricht schon längst begonnen hatte? Das werden wir wohl nie erfahren.
Der Autor

Der in Hessen geborene Frank Gröninger wohnt seit 1993 in Paris, wo er als Lehrer für Deutsch und interkulturelle Beziehungen unter anderem für das französische Außenministerium und Sciences Po, dem Institut für politische Wissenschaften arbeitet. 2021 erschien sein Buch „Douce Frankreich: die Abenteuer eines Deutschen in Paris“, sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, 2022 sein zweites Buch, „Dessine-moi un(e) Allemand(e)“.