Stimmungsbarometer:
Sie sehen schwarz

Stimmungsbarometer: Sie sehen schwarz
  • VeröffentlichtFebruar 3, 2025
Blick von Notre-Dame auf Paris
Blick von Notre-Dame auf Paris (Copyright: iStock)

Das Stimmungsbarometer zu den Brüchen in der französischen Gesellschaft zeichnet sowohl konjunkturell als auch strukturell ein düsteres Bild. Im Grunde genommen erstaunt diese Feststellung wenig. Vielmehr überrascht die relative Stabilität über die Zeit.

 

Frankreich kennt mittlerweile viele solcher Meinungsumfragen. Als Vorreiter in dem Bereich startete Crédoc Ende der 1970er Jahre seine Umfrage „Lebensbedingungen und Erwartungen der Franzosen“ („Conditions de vie et aspirations des Français“): Sie liefert jedes Jahr wertvolle Informationen und Beobachtungen zu zahlreichen Themen von allgemeinem Interesse. Als öffentliche Statistik führte die Drees (Direction d’expertise du ministère des affaires sociales – Fachabteilung des Ministeriums für Soziales) im Jahr 2000 ihr eigenes Barometer ein, das sich hauptsächlich auf Fragen der sozialen Sicherheit konzentriert. Als letztes wurde 2013 von Ipsos die Umfrage für Le Monde, die Jean-Jaurès-Stiftung und Cevipof (das politische Forschungszentrum von Sciences Po) ins Leben gerufen. Das umfangreiche Stimmungsbarometer („Fractures françaises„) befasst sich mit den Brüchen, die sich durch die französische Gesellschaft ziehen. Diese Umfragen, deren Ergebnisse in der Presse allgemein gut bekannt sind, werden durch die monatliche, vom staatlichen Statistikamt INSEE im Januar 1987 eingeführte Befragung der Privathaushalte ergänzt. Diese in kurzen Zeitabständen durchgeführte Umfrage ermöglicht vor allem die Erhebung des wirtschaftlichen Umfelds und diverser Aspekte der wirtschaftlichen Lage der Privathaushalte.

 

Was ist ein Stimmungsbarometer?

Es handelt sich dabei um eine in der Regel jährlich durchgeführte Meinungsumfrage bei einer Stichprobe der Bevölkerung. Die Fragen sind systematisch dieselben und werden ergänzt durch weitere, sporadisch gestellte, Fragen. Stimmungsbarometer sind also sehr hilfreiche Werkzeuge zur Erhebung von Werten, Wünschen, Anliegen und aufkommenden Trends.

Was sagt uns die 2024er Ausgabe über die Brüche in der französischen Gesellschaft? In dieser 12. Ausgabe (…) war die Befragung im November 2024 an 3000 Personen gerichtet. Die Fragen sollten wie üblich erheben, wie die Franzosen ihre Situation und die Situation des Landes wahrnehmen. Sie befassten sich zudem mit deren Werten und ihrem Verhältnis zur Politik und zu den Institutionen.

 

Rundumbetrachtung eines misstrauischen Frankreichs

Ohne differenzierte Analyse lassen sich die Ergebnisse ganz grob in zehn Feststellungen zusammenfassen.

Erste Feststellung: Das Thema, das die Menschen im Jahr 2024 am meisten beschäftigte, war die Kaufkraft, noch vor dem Umweltschutz, vor der Kriminalität und vor der Einwanderung. Die Arbeitslosenquote rangierte unter den zuletzt genannten Themen. Wir befinden uns nicht mehr in den Anfangsjahren des Stimmungsbarometers, als das Thema Beschäftigung noch viel mehr Sorgen bereitete. Ganz zu schweigen von den Jahren zuvor, als es die Studie noch nicht gab, die Arbeitslosigkeit aber viel höher war und in anderen Meinungsumfragen zu den größten Sorgen zählte.

Zweite Feststellung: Die Franzosen sind sehr unzufrieden! 54 % von ihnen geben an, einem „unzufriedenen, aber nicht wütenden“ Frankreich anzugehören; 43 % einem „wütenden und protestierenden“ Frankreich. Nur 3 % der Franzosen sagen, sie lebten 2024 ihrer Ansicht nach in einem „zufriedenen und friedfertigen“ Frankreich (2021 waren es noch 9 %).

 

Copyright: Depositphotos
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Dritte Feststellung: Frankreich sieht sich nach wie vor als Land der Mittelschicht. Auf einer Skala von 1 bis 10, die zwischen „la France d’en bas“ (Unterschichtfrankreich) und „la France d’en haut“ (Oberschichtfrankreich) liegt, ordnen sich 58 % der Befragten zwischen 4 und 6 ein, also weder zur Unter- noch zur Oberschicht gehörig; 24 % sehen sich in der Unterschicht (Noten 0 bis 3) und 18 % in der Oberschicht (Noten 7 bis 10). Seit Jahrzehnten zeigt sich von Meinungsumfrage zu Meinungsumfrage, dass sich etwa drei von fünf Franzosen oder sogar zwei von drei Franzosen zur Mittelschicht gehörig sehen. Diese realen subjektiven Wahrnehmungen werden dann mit den objektiven Entwicklungen der sozio-professionellen Kategorien abgeglichen.

Vierte Feststellung: Die Franzosen fürchten sich sehr stark vor dem Abstieg. 87 % von ihnen glauben, „Frankreich sei im Niedergang begriffen“. Im Jahr 2021 waren nur 75 % dieser Meinung, aber 2014 waren es bereits 85 %. Diese Meinung ist also eher strukturell als konjunkturell bedingt.

Fünfte Feststellung: Das Misstrauen gegenüber anderen ist sehr hoch. 79% der Franzosen glaubten im November 2024, man könne im Umgang mit anderen nicht vorsichtig genug sein. Im Januar 2013 waren es 78%! Hier haben wir eine weitere strukturell verankerte Meinung.

Sechste Feststellung: Bürgernähe und kleinteilige Strukturen genießen mehr Vertrauen. Bürgermeister (70 % heute, 63 % 2014) sowie kleine und mittlere Unternehmen (82 % heute, 84 % 2014) genießen das größte Vertrauen der Franzosen. Abgeordnete (22 % heute, 23 % im Jahr 2014), politische Parteien (14 % heute, 9 % im Jahr 2014), Gewerkschaften (39 % heute, 31 % im Jahr 2014) und große Unternehmen (48 % heute, 38 % zehn Jahre zuvor) werden mehrheitlich für nicht so vertrauenswürdig erachtet.

Siebter Befund: Neun von zehn Franzosen haben das Gefühl, in einer gewalttätigen Gesellschaft zu leben. Sie glauben, die Gewalt nehme zu. Ein Viertel von ihnen gibt an, schon einmal persönlich Opfer von Gewalt geworden zu sein oder jemanden in ihrem Umfeld zu kennen, der in den letzten Jahren Opfer eines Übergriffs oder eines versuchten Übergriffs wurde.

Achte Feststellung: Die Franzosen sind angesichts der Globalisierung besorgt und mehrheitlich der Ansicht, dass sie eine Bedrohung für das Land darstellt (64 % der Stimmen im Jahr 2024, 61 % im Jahr 2013). Diese Ansicht ist indes nicht konstant. Im Jahr 2017 betrachteten nur 48% die Globalisierung als Bedrohung, 52% eher als Chance. Es stimmt, dass sie innerhalb eines Jahrzehnts unterschiedlich wahrgenommen wird.

Neunte Feststellung: Die Kritik an der Sozialhilfe – auch wenn dieser Begriff von Experten üblicherweise negativ konnotiert ist – wird zwar immer noch von der Mehrheit geteilt (56 % der Franzosen sind der Meinung, dass „man sich zu sehr in Richtung Sozialhilfe entwickelt“), schwächt sich aber ab (69 % stimmten 2015 einer solchen Meinung zu). Gleichzeitig verstärkt sich die Meinung, dass „es nicht genug Solidarität mit den Menschen gibt, die darauf angewiesen sind“, von 31 % im Jahr 2015 auf 44 % im Jahr 2024.

Zehnte Feststellung: Das Vertrauen der Franzosen in das demokratische System erodiert, während sich die Sorge um einen Mangel an Autorität auf hohem Niveau hält. Im Jahr 2014 waren 76 % der Meinung, dass „das demokratische System unersetzlich ist, es ist das bestmögliche System“. Zehn Jahre später waren es nur noch 65%. Auf der Ebene der Werte ist die Zustimmung zu autoritären Werten hoch. Die Vorstellung, dass Autorität viel zu oft kritisiert werde, erhält im Jahr 2024 84 % der Stimmen (86 % im Jahr 2013). 81 % der Franzosen sind der Meinung, dass „man in Frankreich einen echten Chef braucht, um die Ordnung wiederherzustellen“ (2013: 87 %). Die Franzosen verfallen zwar nicht in eine Form von Autoritarismus, wie viele andere Umfragen zeigen, aber die Autorität schätzen sie ganz deutlich.

 

Gespalten und pessimistisch

Diese Zusammenfassung wird dem Reichtum der Studie nicht gerecht: Denn sie erfasst noch zahlreiche andere Themen (z. B. Rassismus oder Umwelt), und sie differenziert präzise nach vielen Unterkategorien der Bevölkerung (Alter, Wohnort, Parteipräferenzen). Dies ist ein weiterer großer Vorteil solcher Stimmungsbarometer: Sie können weit mehr in die Tiefe gehen als punktuelle Meinungsumfragen.

Ein Blick auf die mehr als zehnjährige Geschichte des Stimmungsbarometers zu den Brüchen in der französischen Gesellschaft ergibt ein Bild von Stabilität – indes einer Stabilität konstanter Schwierigkeiten: sowohl der empfundenen bzw. befürchteten als auch der geäußerten Unzufriedenheit. Zwar sind in den zwölf Umfragen Bewegungen und Vertiefungen zu erkennen, aber nie echte Abweichungen. Frankreich geht aus diesen Umfragen zu den Brüchen tief gespalten und düster hervor. Von Umfrage zu Umfrage wird die Einschätzung der Lage immer finsterer. Und das gilt auch für die Zukunft.

Natürlich lassen tiefere Analysen mehr Nuancen zu. Der Vergleich mit den Erhebungen des nationalen Statistikamtes INSEE, von Crédoc und Drees führt zu fundierteren Erkenntnissen, die die Intensität der einen oder anderen Feststellung relativieren. Es bleibt aber ein allgemeines Bild, das zwar nicht wirklich neu ist, aber dennoch beunruhigend bleibt: Frankreich und die Franzosen sehen schwarz.

 

Übersetzung: Norbert Heikamp

Dieser Beitrag ist die Übersetzung eines Artikels, der am 9. Januar auf der Online-Plattform unseres Partners telos unter dem TitelUne France sombre, défiante et mécontente“ erschienen ist.

 

Der Autor

Julien Damon
Julien Damon (Copyright: privat)

Julien Damon lehrt an den Universitäten Sciences Po, HEC und École des Ponts et Chaussées und ist Chefredakteur von Constructif. Er war Studiendirektor bei der Caisse nationale des Allocations Familiales (CNAF), Leiter der Abteilung Soziale Fragen beim Centre d’Analyse Stratégique, Präsident der Nationalen Beobachtungsstelle für Armut und soziale Ausgrenzung und Mitglied von unterschiedlichen Ministerien. Er hat etwa dreißig Bücher zu sozialen und städtischen Themen veröffentlicht, darunter zuletzt „Toilettes publiques. Essai sur les commodités urbaines“ (Presses de Sciences Po, 2023), „Les batailles de la natalité“ (L’Aube, 2024).

 

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