Drogenkriminalität:
Das Monster von Marseille

Drogenkriminalität: Das Monster von Marseille
  • VeröffentlichtMärz 5, 2025
Blick auf Marseille (Copyright: Alamy)
Blick auf Marseille (Copyright: Alamy)

Die Hafenstadt am Mittelmeer verbindet eine lange Geschichte mit dem Verbrechen. Aber noch nie schossen Teenager aufeinander, um einen Umschlagplatz zu erobern. Eindrücke aus dem Epizentrum der französischen Drogenkriminalität.

 

Nicolas Bessone, glatt rasierter Schädel und breites Kreuz, betont, eine martialische Sprache sei immer unangenehm, dennoch verwendet der Staatsanwalt von Marseille die folgenden Worte: „Es ist Krieg. Wir reden sogar von einem asymmetrischen Krieg zwischen den Drogenhändlern und dem Staat.“ 49 Menschen starben im Jahr 2023 in der Hafenstadt bei Vergeltungsakten, die mit Drogenkriminalität im Zusammenhang stehen. Oft handelte es sich um Bandenmitglieder, die einen Drogenumschlagplatz verteidigten oder erobern wollten. Fast kein Stadtteil bleibt von den sogenannten „Narchomiziden“ verschont. Vergangenes Jahr ging die Zahl der Todesopfer zwar um knapp 60 Prozent zurück. Trotzdem liegt sie noch immer viel zu hoch.

Marseille und das Verbrechen haben eine jahrhundertlange Tradition. Die Stadt zeichnet eine frappierende soziale Ungleichheit aus. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsschwelle. Im Gegensatz zu anderen Großstädten wurden diese Menschen nicht an den Rand gedrängt, sondern leben relativ zentral, in den nördlichen Vierteln oder in der Nähe des Hafens, dem Tor zur Welt – und zum Schmuggel. Drogenkriminalität ist ebenfalls kein Novum in der Geschichte Marseilles. Schon in den 1950er-Jahren versuchte die „French Connection“ hier reines Heroin herzustellen und es in die USA zu exportieren.

Doch das heutige Verbrechen habe aus mehreren Gründen eine neue Qualität, sagt Staatsanwalt Bessone: Die Vermehrung krimineller Banden, die fürchterliche Gewalt, das Alter der Täter und die Parallelökonomien in Teilen der Stadt. „Einige Viertel im Norden von Marseille, wo es viele große Sozialkomplexe gibt, werden vom Drogenhandel aufgesaugt“, sagt der 58-Jährige.

 

Dealer malen Angebote an Hauswände

Hassen Hammou, Chef der Grünen im PACA (Copyright: privat)
Hassen Hammou, Chef der Grünen im PACA (Copyright: privat)

Hassen Hamou sitzt in einer Cafébar vor den Terrasses du Vieux Port. Hinter ihm das Meer, das man durch die Glasfassaden eines Apple Stores bestaunen kann. „Ich befinde mich jetzt in meinen Dreißigern und habe diese Gewalt schon mein ganzes Leben lang gekannt“, sagt der Grünen-Politiker, der sich seit Jahren in seinem Geburtsviertel, dem 15. Bezirk, gegen die Gewalt einsetzt. In diesen nördlichen Vierteln Marseilles ist Gewalt oft probates Mittel. Minderjährige gelangen an Schusswaffen und wollen sich zum Gangster aufschwingen. Auf Häuserfassaden, beschreibt der Investigativjournalist Guillaume Origoni, werden Preise für Drogen mit Farbe aufgemalt, manche gehen gar bis zum Kilo. 14-Jährige drücken Erwachsenen Flyer in die Hand, auf denen sie mit Kokainlieferungen werben. Andernorts bauen sie Checkpoints auf, fragen nach dem Personalausweis und dem Grund des Besuchs im Viertel. Eine absurde Situation. In diesem Umfeld versucht Hassen Hammou Jugendlichen zu vermitteln, dass Waffen, Dealen und Gewalt im Allgemeinen keine Lösungen sind, um ein gutes Leben zu führen. Doch den Freiwilligen fehlen die Mittel. Die Antwort muss eine der Republik sein, sagt Hammou.

 

„Es tut weh, einen kleinen Bruder zu verlieren“

Neben dem 36-Jährigen sitzen zwei junge Männer, Kader und Abdel. Sie kennen den Politiker schon seit Jahren, bezeichnen ihn als einen „Lehrer fürs Leben“, einen, der ihnen die Codes beibringt, um in dieser Welt bestehen zu können. Wie man sich ausdrückt, sich kleidet, Konflikte löst. „Ohne Hassen Hammou wüsste ich nicht, was Umweltschutz bedeutet, was Mülltrennung, was Klimawandel bedeutet“, sagt Kader. Diejenigen, die sie in ihren Vierteln erzogen, hätten ihnen nichts beigebracht, außer nicht zu trödeln. Sein Freund Abdel nickt. Das Dealen, das Tragen von Waffen, das machten die Jungen doch vor allem wegen des Geldes. Ihm tue es weh, seelisch und körperlich, wenn er mal wieder von „kleinen Brüdern“ höre, denen er beim Aufwachsen zusah, die gestorben oder ins Gefängnis gegangen sind. Vier, fünf, sechs Jahre: „Wenn die rauskommen, sind sie nicht mehr dieselben. Du gehst als Dealer in den Knast und kommst als Verbrecher wieder raus.“

 

Mit 14 leicht manipulierbar

Der Staatsanwalt Nicolas Bessone spricht vom „ultrajeunissement“, von der „Ultraverjüngung“ der Täter. Meist handele es sich um die Jungs alleinerziehender Mütter. Teenager, die früh die Schule verließen, wenig gebildet seien, kaum etwas über die Republik und den Wert des Lebens wüssten. Häufig seien sie schon in ein Heim eingewiesen worden und sie erlitten körperliche Gewalt. „Sie sind ein gefundenes Fressen für diese kriminellen Banden, die sie wie Tempotaschentücher benutzen. Diese jungen Menschen sind nicht nur Täter, sondern auch Opfer“, sagt Bessone. Oft werden sie über Social-Media-Plattformen rekrutiert. Im vergangenen Herbst stieg ein 14-Jähriger in das Auto eines privaten Chauffeurs. Der Junge führte einen Revolver mit sich. Über Snapchat war ihm sein Auftraggeber per Video zugeschaltet, ein bereits im Gefängnis sitzender Dealer. Als der 36-jährige Chauffeur verstand, dass der Junge einen Mord verüben wollte, weigerte er sich weiterzufahren. Der 14-Jährige habe ihn, so der Stand der Ermittlungen, daraufhin erschossen. Ein solch offensichtlicher Mord wird als „Kollateralschaden“ aufgeführt.

Örtliche Politiker der extremen Rechten verbreiteten in den vergangenen Jahren abermals das Gerücht, die mafiösen Drogenkartelle würden Minderjährige rekrutieren, weil diese straffrei seien. Unsinn, sagt Staatsanwalt Bessone. Auch Minderjährige gehen ins Gefängnis. Mord ist Mord. Doch es ist ein Gerücht, das auch ihm erst kürzlich begegnete, als nämlich Familienangehörige von Opfern bei einer Trauerfeier genau dies behaupteten.

 

Nicht Mafia, sondern McDonald‘s

Marseille ist das Epizentrum der Drogenkriminalität in Frankreich. Die Banden handeln mit spanischen und kolumbianischen Drogenkartellen, aber auch mit der Camorra und der ‘Ndrangheta. Sie sind nicht nur in Marseille aktiv, sondern in vielen Mittelmeer-Hafenstädten, aber auch in Kleinstädten der Provence. Sie klettern das Rhonetal bis nach Lyon hoch.

Philippe Pujol legt seinen Helm auf den freien Platz neben ihm im Café La Samaritaine direkt vor dem Alten Hafen. Der Publizist kam mit dem Scooter. Er vertritt die These, der Begriff „Mafia“ sei völlig falsch gewählt, um über die Drogenkriminalität in Marseille zu sprechen. Damit möchte er das Problem keineswegs verharmlosen. „Was hier passiert, ist noch schlimmer als die Mafia!“, sagt Pujol. Der Buchautor erklärt, dass es in Marseille unterschiedliche Banden gibt, die sich gegenseitig die Umschlagplätze streitig machen. Am bekanntesten sind die DZ mafia und Yoda. Diese Banden funktionierten jedoch wie Franchise-Unternehmen wie McDonald’s, Burger King oder Quick. „Es gibt hier keine Bosse“, sagt Pujol.

Er unterteilt das Drogengeschäft in unterschiedliche Prozesse. Erst seien da die Produzenten in Mexiko, Kolumbien, Peru oder Bolivien. Hier handele es sich um wirkliche Kartelle, die streng hierarchisch organisiert sind. Diese gäben ihre Produkte ab an Transithändler, die in der ganzen Welt zuhause sind. Deutsche mischten mit, Briten, Franzosen. Diese verkauften dann die Drogen an „Semi-Großhändler“, wie Pujol sie nennt, die die Ware in Großstädten wie Hamburg, Antwerpen oder Marseille, aber auch in Le Havre und Rouen entgegennähmen. Von diesen Semi-Großhändlern, schätzt Pujol, gäbe es in Marseille rund 150, inzwischen vielleicht etwas weniger. Sie gehörten zu den vorhin genannten Banden, den DZ mafia, den Yoda und einigen anderen. Warum Pujol diese mit Franchise-Unternehmen vergleicht, liegt daran, dass diese Gruppen Fremden freistellten, ihren Namen zu führen. In Dijon baten Dealer die Höheren der DZ mafia, bei der Eroberung von Umschlagplätzen zu helfen. Die rückten an, verlangten allerdings eine Gewinnbeteiligung, dafür durften die Auftraggeber sich fortan DZ mafia nennen.

 

Der Aufstieg durch Verbrechen ist ein Märchen

Philippe Pujol spricht von einem „Monster“, das sich in Marseille ausgebreitet habe. Es habe keine wirkliche Form, sei organisch. Mafiösen Organisationen versetzversetzen Ermittler einen schweren Schlag, wenn sie das Oberhaupt beseitigen, den Kopf abschlagen. Doch hier, in Marseille, freuten sich die Mitglieder der DZ mafia, wenn jemand, der über ihnen steht, verschwindet. Ein Kastensystem wie im Mittelalter, sagt Pujol: „Der Junge wird Chef seines Sozialviertels, was im ersten Moment toll klingt. Aber schnell geht er ins Gefängnis, wird umgebracht und durch einen neuen Chef ersetzt.“ Wenn diese jungen Männer 25 Jahre alt werden, gehören sie schon zum alten Eisen.

Der Aufstieg als Verbrecher, sagt Pujol, sei ein Märchen. Es gebe ein paar, die einige Jahre vom Dealen lebten, Zehntausende Euro ansparten und damit ein Bauunternehmen, einen Chauffeur- oder Sicherheitsservice, einen Imbiss aufbauten. Die Mehrheit aber verliert auf bittere Weise. Sie gehen ins Exil, ins Gefängnis oder verlieren ihr Leben.

Das „Monster“ zu zähmen, es gar zu besiegen, sei wesentlich schwieriger, als die Mafia zu bekämpfen. Leider seien die Politiker auf den kurzfristigen Erfolg aus. Es stehe immer eine Wahl an, konstatiert Pujol. Also forderten die Minister in Paris, stärker und repressiver gegen die Kriminellen vorzugehen. Doch die seien nur ein Symptom, sagt Pujol. Dieses organische System, das um sich greift und die gesamte Gesellschaft erfasst, könne nur durch eine ganzheitliche Antwort angegriffen werden, sagt Pujol.

Guillaume Origoni (Copyright: privat)
Guillaume Origoni (Copyright: privat)

 

Wer trägt die Verantwortung?

Der Staatsanwalt Nicolas Bessone pflichtet bei: „Die Lösung des Problems kann nicht allein polizeilich, richterlich und repressiv sein.“ Die armen Viertel müssten begleitet werden. „Die jungen Menschen dort haben oft nur sehr eingeschränkte Optionen. Entweder wollen sie Profifußballer werden – und das schaffen die wenigsten – oder Rapper oder Drogenhändler.“ Richter, Staatsanwälte und Polizisten müssen ihren Job gewissenhaft erledigen. Bessone verlangt vor allem, dass mehr Ermittler angestellt werden. Gerade liegt eine Reform für den Kampf gegen das Verbrechen in der Nationalversammlung, die maßgeblich von Richtern und Staatsanwälten mitverfasst wurde. Bessone klopft dreimal auf den Tisch: Hoffentlich wird diese bald vom Parlament verabschiedet. Aber die Staatsgewalt müsse mit staatlicher Fürsorge gepaart werden. Drogenkriminalität sei auch ein Thema der gesundheitlichen Vorsorge. Eine Gesellschaft, in der der Drogenkonsum in den vergangenen Jahren immer weiter anstieg, kann keine gesunde sein.

Wer trägt also Schuld an der Situation in Marseille? Die Drogendealer? Die Eltern, die ihre Kinder nicht unter Kontrolle kriegen? Der Staat, der Viertel aufgab? Oder vielleicht doch die Konsumenten? Guillaume Origoni war monatelang in den nördlichen Vierteln von Marseille unterwegs, sprach mit Familien, die Töchter und Söhne, Schwestern und Brüder, Freunde und Eltern verloren haben. „Es gibt keine Antwort, es gibt keine“, sagt der Investigativjournalist, der auf der Terrasse eines Cafés im Zentrum Marseilles sitzt. Origoni trinkt einen Schluck Sprudelwasser: „Wir sind durch das organisierte Verbrechen überfordert. Es ging zu weit und wir wissen nicht mehr, wie man darauf antworten soll.“

 

Der Autor

Jean-Marie Magro
Jean-Marie Magro (Copyright: Jean-Marie Magro)

Jean-Marie Magro ist in München geboren und Sohn einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters. Er wuchs in der bayerischen Landeshauptstadt auf, studierte Volkswirtschaft und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Er arbeitet als Hörfunkreporter in der Politikredaktion des Bayerischen Rundfunks. In Reportagen, Features und Interviews berichtet er vor allem über Themen der Außenpolitik mit besonderem Augenmerk auf Frankreich. Von ihm erscheint am 17. April 2025: Radatouille. Meine Tour de France zu Burgund, Baguette und Banlieues (in Vorbestellung).

 

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