„Macron und Merz werden versuchen, eine Art Adenauer-de-Gaulle-Vertrauensverhältnis zu schaffen“


Nach der Bundestagswahl verkündete Friedrich Merz eine „Unabhängigkeitserklärung“ von den USA – ein Signal, das in Paris aufmerksam registriert wurde. Ist das die Chance für einen „deutsch-französischen Quantensprung“?
Andreas Noll: Hat sich Frankreich für den Lärm interessiert, den die Bundestagswahl gemacht hat?
Joseph de Weck: Ich glaube, dass die Franzosen sich im Allgemeinen nicht unbedingt viel für die Europapolitik interessieren. Es hängt zum Teil damit zusammen, dass die Abendnachrichten oft sehr auf Frankreich fokussiert sind. Die Wahl Donald Trumps hat aber viele beunruhigt, was sicherlich dazu geführt hat, dass die Bundestagswahl durchaus wahrgenommen wurde
Noll: Es ist sehr wahrscheinlich, dass der nächste Bundeskanzler Friedrich Merz heißen wird und er die Regierungsgeschäfte nach Ostern übernimmt. Hat die politische Klasse in Paris schon eine Vorstellung von diesem Friedrich Merz aus Arnsberg?
De Weck: Nicht wirklich. In Frankreich kennt man Angela Merkel, nicht zuletzt, weil sie lange im Amt war und mehrere französische Präsidenten auf der europäischen Bühne begleitet hat. Und jetzt kommt dieser Merz, der sehr Französisch denkt, man könnte fast sagen, sehr gaullistisch. Maßgeblich für diese Einschätzung sind Merz‘ Worte gleich nach der Wahl. Da hat er gesagt, seine absolute Priorität als Kanzler werde es sein, Europa Schritt für Schritt unabhängig von den Amerikanern in Sachen Verteidigungspolitik und Verteidigungsfähigkeit zu machen; es werde eventuell auch nötig, schnell die europäische Verteidigung unabhängig von der NATO zu organisieren. Das sind Statements, die man von einem französischen Präsidenten Emmanuel Macron kennt und aber noch nie von einem deutschen Kanzler gehört hat.
Noll: Merz und Macron haben sich schon mehrfach in Paris getroffen. Gibt es unter den Macron-Journalisten eine erste Einschätzung zur Chemie zwischen beiden Politikern?
De Weck: Merz und Macron sind beide davon überzeugt, dass Politik eine Aufgabe von großen historischen Entscheidungen ist. Beide haben auch einen gewissen narzisstischen Zug und wollen in die Geschichtsbücher eingehen. Merz sieht sich in der Tradition eines Konrad Adenauers und Helmut Kohls; das unterstreicht er ja immer wieder. Macron denkt im Grunde genommen ähnlich. Ich glaube deshalb, er will einen großen Wurf zusammen mit Frankreich, auch mit Polen.
Noll: Merz scheint, zumindest jetzt, anders als seine Vorgänger zu sein. Das dürfte Macron durchaus gefallen…
De Weck: Merz wurde einmal gefragt, wie er sich bezeichnen würde. Er sagte mutig, was eher ungewöhnlich für einen deutschen Politiker ist. In Deutschland wird normalerweise Wahlkampf mit Sätzen wie „Sie kennen mich“, „Keine Experimente“ geführt. Merz ist 69 Jahre alt. Er ist ein Handelnder, der lange, fast ein ganzes Leben lang darauf gewartet hat, in die Verantwortung zu kommen. Er wird schnell handeln wollen.
Noll: Sie haben in einem Beitrag für Le Grand Continent geschrieben, Merz war ein Vertrauter von Wolfgang Schäuble. In der Außen- und Europapolitik sieht es sich als dessen Erbe. Welches Bild hat Merz von Europa und welchen Weg wird er gehen wollen?
De Weck: Ich sehe vor allem zwei große Herausforderungen. Die erste ist, die Wirtschaft und Europa wieder sozusagen wettbewerbsfähiger zu machen. Und da ist Merz’ Erfahrung als Europaparlamentarier Anfang der 90er Jahre wichtig, weil er damals im Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments saß und sich darum gekümmert hat, den europäischen Binnenmarkt umzusetzen. Es ging darum, Europa einem Wachstums- und Produktivitätsschub zu geben: Heute stehen wir vor einer ähnlichen Herausforderung. Wir haben den Bericht von Mario Draghi und von Enrico Letta, und beide sagen: Wir brauchen eine Vertiefung der Wirtschaftsintegration.
Das andere ist die Frage der europäischen Verteidigung. Und hier ist klar. Damit es klappen kann, muss man durch neue politische Institutionen im Bereich der Verteidigung viel Vertrauen schaffen. Merz hat das schon immer wieder gefordert und Schäuble zu seiner Zeit übrigens auch. Es ist interessant, dass Schäuble in einem seiner letzten Interviews noch einmal gefordert hat, dass es Gespräche geben muss darüber, wie die französische atomare Abschreckung europäisiert werden könne und dass Deutschland auch dafür zahlen solle.

Noll: Macron hat gerade vor wenigen Tagen, das Angebot, das er bereits 2020 in seiner Rede vor der École de guerre gemacht hatte, nochmal aufgegriffen…
De Weck: Und Merz wird sicherlich darauf eingehen.
Noll: Könnten Sie sich vorstellen, dass Macron und Merz es schaffen, dieser Kooperation wieder neuen Schwung zu verleihen?
De Weck: Merz sagt immer wieder, Frankreich sei eine Herzensangelegenheit für ihn. Er untermalt auch seine Beziehung zu Frankreich mit persönlichen Erfahrungen und Emotionen. Ich glaube, das ist richtig. Er ist aber auch nicht nur auf Frankreich fokalisiert. Er redet immer von Frankreich und Polen, und das ist ein großer Unterschied zu Merkel und Scholz, die in ihrer Politik Polen systematisch übergangen sind.
Noll: Friedrich Merz ist aber durch und durch Transatlantiker. Nun haben wir eine komplett neue Situation. Könnten Sie sich vorstellen, dass Donald Trump mit seiner Agenda der deutsch-französischen Kooperation einen mächtigen Schwung gibt?
De Weck: Ja, das glaube ich. Merz hat verstanden, dass es nicht nur darum geht, den Amerikanern jetzt einfach ein bisschen mehr Geld zu geben.
Noll: Nun stellt sich die Frage nach Führung in Europa und dazu passt auch die Pressekonferenz, die Friedrich Merz am 24. Februar abgehalten hat. Merz erwähnte das Telefonat, das er mit Macron geführt hatte, kurz bevor der Präsident sich auf den Weg nach Washington gemacht hatte und sagte: „Wir haben über die Themen gesprochen, die er mit dem amerikanischen Präsidenten besprechen will, und ich habe eine vollkommene Übereinstimmung zwischen dem festgestellt, was er vortragen will und was ich auch in der Sache denke.“ Wer wird in diesem Duo die Führungsrolle übernehmen, wenn Merz zum Bundeskanzler gewählt wird?

De Weck: Beide werden ihre Rolle spielen müssen. Einer allein kann es nicht richten. Ich würde stark davon ausgehen, dass Macron und Merz versuchen werden, eine Art Adenauer-de-Gaulle-Vertrauensverhältnis zu schaffen. Und ich könnte mir vorstellen, dass das funktioniert. Macron ist ja auch nicht mehr der Präsident, der sich eben neu auf der Bühne behaupten muss. Er hat auch gelernt, mittlerweile manchmal einen Schritt zurück zu stehen, auch mal den Bückling zu machen, wenn es sein muss.
Noll: Emmanuel Macron hat sich immer als Freund der Deutschen definiert. Aber die aktuell starken oder aufstrebenden politischen Kräfte in Frankreich, das Rassemblement National und La France insoumise, sind beide eher deutschlandkritisch. Inwiefern beeinflusst dies Macrons Spielraum?
De Weck: Es gibt diese Deutschlandfeindlichkeit. Sie war aber vor zehn Jahren viel ausgeprägter als sie heute ist. Heute gibt es immer noch eine latente deutschkritische Haltung oder eine latente Deutschfeindlichkeit – manchmal auch in zentristischen Parteien. Das darf man mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 2027 nicht unterschätzen und müsste jetzt auch einen weiteren Grund sein, Nägel mit Köpfen zu machen.
Noll: Herr de Weck, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Dieses Gespräch ist eine gekürzte Fassung des Franko-viel-Podcastes „#75 – Friedrich „Charles“ Merz – Bekommt Paris einen „Gaullisten“ ins Kanzleramt? – Franko-viel – Der Frankreich-Podcast “ vom 26. Februar 2025.
Der Autor

Joseph de Weck ist Politologe und Historiker. Er ist Europa-Chef von Greenmantle, einem Beratungsunternehmen für geopolitische und makroökonomische Risiken. Der Zürcher ist Kolumnist der Internationalen Politik Quarterly der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP) und schreibt für The Atlantic und Le Grand Continent. 2021 erschien das Buch «Emmanuel Macron: Der revolutionäre Präsident». De Weck ist Senior Fellow am Institut Montaigne in Paris und Fellow am Foreign Policy Research Institute in Philadelphia.