Cocoriki:
Die Kunst des Meckerns


„Les Français, ils râlent“, hört man Franzosen immer wieder mit einer Mischung aus Stolz, Trotz, und Verzweiflung sagen. Râler? Bedeutet das einfach nur „meckern“, oder steckt doch vielleicht mehr dahinter? Cokoriki versucht, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Meine persönliche Geschichte mit diesem Verb beginnt 1989, meinem Jahr als jeune homme au-pair in einer französischen Familie: Eines Tages kam Guillaume, der älteste der zwei Jungen meiner Gastfamilie von der Schule nach Hause und schimpfte: „Pfff, ma prof d’allemand, elle râle toujours.“ Ich sah, dass er nicht froh war, verstand aber nicht genau, was er meinte. Râler? Hatte das etwas mit dem Deutschunterricht zu tun? Dann sollte ich dieses Wort natürlich kennen! Sofort schlug ich in meinem Pons-Wörterbuch nach und fand: râler = röcheln, im Sterben liegen. Besorgt fragte ich Guillaume, ob die arme Lehrerin denn krank sei, vielleicht hatte sie ja ein Lungenproblem und röchelte deshalb. Seine Antwort machte alles nur noch mysteriöser: „Ah oui elle est malade, c’est une grande malade!“
Ich hätte die komplette Definition in meinem Wörterbuch lesen sollen, denn dort stand weiter: auch: unzufrieden meckern, brummeln, klagen. Erst später lernte ich zudem, dass jemand, den man als malade bezeichnet, nicht unbedingt eine Krankheit hat, malade stand hier für (geistes)gestört oder verrückt. Guillaumes Deutschlehrerin war also nicht sterbenskrank am Röcheln, nein, sie hatte sich lediglich über die nicht gemachten Hausaufgaben beklagt.
Râler? Ja, aber wie?
Selbst wenn ich die deutsche Übersetzung dieses Verbs nun kannte, so wusste ich doch anfangs nie, wie ich reagieren sollte, wenn jemand anfing zu râler. Ich versuchte mitleidig tröstende Worte zu finden und suchte nach Lösungen, konnte dann aber mit der überraschten Reaktion meines Gegenübers umso weniger anfangen:
– „Mais, ça va! C’est pas un drame, ne t’inquiète pas. Je te raconte ça juste comme ça.“
– „Juste comme ça???“ Einfach nur so? So wie man über das Wetter plaudert? War râler einfach nur eine Form des Smalltalks?
Meine Neugier war geweckt. Es folgte eine lange Phase der Beobachtungen, während der ich keine Gelegenheit ausließ, um diese so subtile Form der Unterhaltung genauer zu studieren. Nichts eignet sich dafür wohl besser als ein Pariser Straßencafé, wo man (natürlich) unbeabsichtigt die Gespräche seiner Tischnachbarn belauschen kann:
– „Bon alors comment ça va?“ (Und, wie geht’s?)
– „J‘te raconte pas!“ (wörtlich: Ich erzähl’s dir erst gar nicht! Das bedeutet allerdings das Gegenteil: Ach, was ich alles mitmache, das muss ich dir erzählen!): Ich habe nichts als Probleme mit den Handwerkern, die mein Badezimmer renovieren.
– „Was? Ist das immer noch nicht erledigt?“
– „Nein, wir befinden uns in einem regelrechten Krieg (c’est la guerre) mit der Hausverwaltung, alles verzögert sich.“
– „Ach ja, das hatten wir vor zwei Jahren auch. Horrible!“
– „Oui, horrible, ich bin dauernd am Telefon.“
– „Du Arme. Aber ansonsten ist alles ok?“
– „Ja, bald sind Ferien, ein Glück, und Du?“
Nachdem dann auch noch der andere sein Leid geklagt hatte, ging man plötzlich zu fröhlicheren Dingen über, die Probleme schienen vergessen.
Das ist in unserer DNA
Etwas verwirrt teilte ich diese Beobachtungen schließlich mit einer französischen Freundin, die mich lächelnd aufklärte:
– „Das ist ganz normal, c’est dans notre ADN. Wir beschweren uns über Dinge, die nicht richtig laufen, es ist ein bisschen, wie bei den Nachrichten. Wen interessieren schon die guten? Aber Vorsicht, râler bedeutet auch, dass wir Kämpfer sind, uns nicht unterkriegen lassen. Wir sind Teil einer Gruppe, in der jeder Probleme zu lösen hat, … râler ist gut für die Gesundheit, wir tragen es nicht mit uns herum, wir lassen es raus. Jemand, der nichts zu meckern hat, der ist doch langweilig.“
Bevor ich noch etwas sagen konnte, erklärte sie weiter:
– „Râler ist eine Art Aufwärmphase, les Anglais parlent du temps qu’il fait, bah et nous, on râle. Es gibt allerdings gewisse Grundregeln. So sollte man sich immer über Dinge oder Leute beklagen, denen man die Schuld an seiner Lage zuschreibt. Die Regierung, das ist immer ein gutes Thema, oder die Kollegen, der Chef, die U-Bahn, das Wetter, die Europäische Union, Macron, Hidalgo, die Journalisten, die Deutschen, die Amerikaner, das Internet, Nachbarn, die Sommerzeit, die Winterzeit, das Schulsystem, … Tu as le choix.“

Mit dieser Weisheit im Kopf ging ich dann zu Freunden, die mich zu einem Aperitif eingeladen hatten. Die Gläser waren kaum gefüllt, da ging es auch schon los:
– „Oh là là, gestern war ich endlich auf dem Rathaus, um meinen Pass verlängern zu lassen. Es hat drei Monate gedauert, bis ich einen Termin hatte.“
– „Ha, das ist noch gar nichts, ich habe letztes Jahr…“, erwiderte der andere Gast und setzte zu einer anderen Geschichte an.
Ich hielt mich zurück und warf nur gelegentlich ein „I-N-C-R-O-Y-A-B-L-E!” ein. Es war ein gelungener Abend.
Je râle, donc je suis?
Nach so vielen Jahren in Frankreich scheint diese Art der Konversation auf mich abgefärbt zu haben, was mir jedoch erst bei einem Abendessen in Deutschland auffiel. Als man mich nämlich fragte, wie es mir so gehe, holte ich sofort schwere Artillerie heraus und sprach über Ärger mit der Verwaltung und den U-Bahnstreik, überließ dann aber meinen deutschen Freunden das Wort, gespannt, worüber sie sich wohl beklagen würden. Aber anstatt mir von ihren Sorgen zu erzählen, sahen sie mich mit mitleidiger Miene an:
– „Du bist wirklich ein Franzose geworden.“
Man musste mir meine Überraschung ansehen, denn sofort ergänzte ein anderer:
– „Na, das ist doch bekannt, Streik, Streik, Streik! Ihr habt immer was zu Nörgeln…“
Dabei hatte ich eigentlich nur etwas plaudern wollen, hätte aber fast eine Grundsatzdiskussion über das französische Streikrecht ausgelöst. Des lieben Friedens willen ging ich einfach nicht darauf ein, sondern versuchte einen Neustart: „Und Ihr, geht es Euch gut?“

Man schien auf diese Frage gewartet zu haben, denn nach einem leichten Seufzer fing der erste an, von seinem Tag zu erzählen, der von allen möglichen Aufgaben geprägt war: Die Kleine im Kindergarten absetzen, zur Arbeit gehen, die Deadlines in der Firma, die Kleine vom Kindergarten abholen, einkaufen, Oma zum Zahnarzt bringen, Essen kochen, gleichzeitig E-Mails beantworten…Nun war ich es, der eine mitleidige Miene machte: Der Arme, das ist doch kein Leben, nur Pflichten und Aufgaben. Es schien genau dem Klischee zu entsprechen, dass Franzosen oft von Deutschen hatten: Leben, um zu arbeiten… Niemand schien jedoch unglücklich zu sein, im Gegenteil, es begann ein regelrechter Wettbewerb, bei dem jeder versuchte, den anderen mit Beschreibungen eines noch volleren Terminkalenders zu überbieten.
Man könnte nun natürlich den vorschnellen Schluss ziehen, für Frankreich gelte die Weisheit „je râle donc je suis“ und für Deutschland „ich arbeite, also bin ich“, das wäre dann aber doch zu Klischeegeladen. Außerdem handelt es sich ja auch nur um völlig subjektive Beobachtungen und keine wissenschaftliche Studie. Eine Gemeinsamkeit gibt es aber trotzdem: Wir alle sehen uns als Kämpfer des Alltags, ganz egal, ob wir dabei röcheln, meckern, nörgeln, schnaufen, stöhnen, arbeiten oder eben râlons. Übrigens: Man muss gar nicht Französisch sprechen können, um wie ein Franzose zu râler. Es genügt, die Lippen durch starkes Ausatmen zum Vibrieren zu bringen und dabei ein Geräusch zu produzieren, dass alle in Frankreich verstehen: Pfffff!
Der Autor

Der in Hessen geborene Frank Gröninger wohnt seit 1993 in Paris, wo er als Lehrer für Deutsch und interkulturelle Beziehungen unter anderem für das französische Außenministerium und Sciences Po, dem Institut für politische Wissenschaften arbeitet. 2021 erschien sein Buch „Douce Frankreich: die Abenteuer eines Deutschen in Paris“, sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, 2022 sein zweites Buch, „Dessine-moi un(e) Allemand(e)“.