„Das algerisch-französische Verhältnis ist nicht nur eine außenpolitische Angelegenheit, sondern auch eine innenpolitische“

„Das algerisch-französische Verhältnis ist nicht nur eine außenpolitische Angelegenheit, sondern auch eine innenpolitische“
  • VeröffentlichtApril 4, 2025
Kundgebung vor der Assemblée Nationale zur Unterstützung des algerisch-französischen Schriftstellers Boualem Sansal, Paris, März 2025 (Copyright: Alamy)
Kundgebung vor der Assemblée Nationale zur Unterstützung des algerisch-französischen Schriftstellers Boualem Sansal, Paris, März 2025 (Copyright: Alamy)

Im Gespräch mit Matthias Schäfer geht es um die Verurteilung von Boualem Sansal in Algerien nach kritischen Äußerungen zum Westsahara-Konflikt. Während Emmanuel Macron seine Freilassung fordert, spitzen sich die politischen Spannungen zwischen Paris und Algier weiter zu.

 

Andreas Noll: Ein algerisches Gericht hat am 27. März den 80-jährigen Schriftsteller und Intellektuellen Boualem Sansal zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Hintergrund der Verurteilung ist ein Interview, in dem Sansal sich kritisch zur Haltung Algeriens im Westsahara-Konflikt geäußert hat. Emmanuel Macron appellierte daraufhin an die algerischen Behörden, dem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels die Freiheit zurückzugeben – auch als humanitäre Geste. Warum sind die Äußerungen des Schriftstellers in Algerien auf so heftige Reaktionen gestoßen?

Matthias Schäfer: Der Westsahara-Konflikt und die Frage nach der Unabhängigkeit der Region sind für Algier von zentraler Bedeutung. Diese Themen stellen aus algerischer Sicht rote Linien dar, und jeder, der sie in die „falsche Richtung“ lenkt, muss mit unmittelbaren Reaktionen rechnen. Besonders im Fall von Herrn Sansal kommt hinzu, dass er die algerische Befindlichkeit sehr gut kennt. Dadurch wurde sein Vorgehen als gezielte Provokation wahrgenommen.

 

Noll: In Frankreich wiederum wird Sansal als Held der Meinungsfreiheit gefeiert. Ist er damit auch in Algerien zum politischen Symbol geworden?

 

Schäfer: Ja, inzwischen würde ich das so sagen – besonders mit Blick auf die Ereignisse der letzten Wochen und Monate. Sansal wurde mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, und man könnte meinen, sein literarisches Werk stehe über allem. Er ist ein herausragender Autor und ein scharfsinniger Beobachter sowohl der algerischen Verhältnisse als auch der algerisch-französischen Beziehungen. Doch nun haben wir die künstlerische, kulturelle und literarische Ebene verlassen. Wir bewegen uns ausschließlich auf politischem Terrain. Gerade an Persönlichkeiten wie Boualem Sansal zeigt sich, dass das algerisch-französische Verhältnis nicht nur eine außenpolitische Angelegenheit ist, sondern auch eine innenpolitische – auf beiden Seiten des Mittelmeers. Genau das macht diese Causa so komplex.

 

Noll: Frankreich hat im vergangenen Jahr die marokkanische Souveränität über die Westsahara anerkannt. Inwieweit spielt diese Entscheidung in den Fall Sansal hinein?

 

Schäfer: Sie spielt eine wichtige Rolle und das empfinde ich als bedauerlich – wenn ich dieses Wort so verwenden darf –, insbesondere aus französischer Perspektive. Macron hat in beiden Amtszeiten versucht, Brücken zu bauen. Doch für einen französischen Staatspräsidenten ist es äußerst schwierig, hier Fuß zu fassen. Egal, was er tut – er kann nur verlieren. Mit seiner Einschätzung zur Westsahara hat er letztlich all jenen in Algerien recht gegeben, die schon immer behauptet haben, dass Frankreichs Bemühungen um eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen nicht aufrichtig seien. Die historische Verantwortung, die Frankreich möglicherweise hätte übernehmen können – etwa in der Aufarbeitung des Unabhängigkeitskrieges und der Folgen der Kolonialzeit –, wurde mit einem einzigen Federstrich zunichtegemacht.

 

Das Märtyrer-Denkmal in Algier (Copyright: Wikimedia Commons)
Das Märtyrer-Denkmal in Algier (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Noll: Unmittelbar nach seinem Amtsantritt 2017 bezeichnete Emmanuel Macron die französische Kolonialherrschaft als Verbrechen gegen die Menschlichkeit – ein Satz, der in Algerien begrüßt, in Frankreich jedoch scharf kritisiert wurde. Warum hat sich das Verhältnis zwischen Algerien und Frankreich verschlechtert, obwohl Emmanuel Macron sich offensiv zu Frankreichs kolonialer Vergangenheit bekannt hat?

 

Schäfer: Die Ursache hierfür liegt in der französisch-algerischen Tragödie. Ich spreche von einer Tragödie, weil diese beiden Länder weit mehr verbindet als nur die gemeinsame Kolonialgeschichte. Rund sieben Millionen Menschen in Frankreich haben algerische Wurzeln. Bei jeder Wahl – sei es zum Parlament oder zum Präsidentenamt – haben sie einen enormen Anteil an Erstwählern, die einen algerischen Hintergrund haben. Das bedeutet, dass kein französischer Politiker oder Staatspräsident die „Causa Algerien“ ignorieren kann. Beim letzten Besuch von Präsident Macron in Algerien wurden zahlreiche Vereinbarungen getroffen. Neben Worten der Aussöhnung und der Übernahme historischer Verantwortung ging es um konkrete Schritte: die Einrichtung von Aufarbeitungskommissionen, Universitätskooperationen, militärische Zusammenarbeit sowie den Jugendaustausch. Doch zwischen der politischen Ebene und dem Alltag klafft eine Lücke – ein Vakuum, das sich bislang nicht füllen ließ. In diesem Zusammenhang erscheint auch die Haltung Algeriens kritisch. Wenn man an die deutsch-französische oder die deutsch-polnische Aussöhnung denkt, wird deutlich: Es reicht nicht, dass eine Seite ihre Schuld anerkennt – es braucht auch auf der anderen Seite eine Partei, die dieses Eingeständnis annimmt und es in einen gemeinsamen, konstruktiven Weg übersetzt. Und hier habe ich Zweifel, ob die algerische Innenpolitik derzeit bereit ist, auf eine französische Geste der Versöhnung einzugehen.

 

Emmanuel Macron mit dem algerischen Außenminister Ramtane Lamamra, Algier, 13. Februar 2017 (Copyright: Alamy)
Emmanuel Macron mit dem algerischen Außenminister Ramtane Lamamra, Algier, 13. Februar 2017 (Copyright: Alamy)

 

Noll: Würden Sie also sagen, dass Algerien – wie es auch einige französische Intellektuelle behaupten – bewusst in der Opferrolle verharrt, um gegenüber Frankreich dauerhaft moralische Ansprüche geltend zu machen?

 

Schäfer: So weit würde ich nicht gehen. Es ist eher eine Haltung nach dem Motto: „Wir vertrauen grundsätzlich nichts mehr, was aus Frankreich kommt – und dafür gibt es gute Gründe.“

 

Noll: Erinnerung und Verantwortung sind zentrale Themen. Doch das Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien wird auch von ganz aktuellen, handfesten politischen Fragen geprägt – allen voran der Migrationspolitik. Dabei stößt man unweigerlich auf das Migrationsabkommen von 1968. Dieses Abkommen gewährt algerischen Staatsbürgern bis heute besondere Rechte in Frankreich, etwa in Bezug auf Aufenthalt, Zugang zum Arbeitsmarkt und Familienzusammenführung. In der aktuellen politischen Debatte rückt es erneut in den Fokus und sorgt für Kontroversen. Warum ist es heute sowohl rechtlich als auch politisch so umstritten und bedeutsam?

 

Schäfer: Es ist bedeutsam, weil es einmal mehr unterstreicht, wie wichtig Algerien für Frankreich ist. Beide Seiten haben sich mit dieser Situation lange sehr gut arrangiert. Frankreich hat davon profitiert, aber auch Algerien. Die Millionen von Menschen mit algerischem Hintergrund sind nicht nur mit der Kolonialgeschichte, sondern auch mit der Zeit nach deren Ende verbunden. Sie haben einen aufenthaltsrechtlichen Weg, eine Prozedur, die es ihnen ermöglicht, ihren ursprünglich illegalen Status zu legalisieren. Das ist eine außergewöhnliche juristische Situation.

 

Noll: Marine Le Pen und Jordan Bardella fordern nun die Kündigung des Abkommens. Welche Konsequenzen hätte eine solche Kündigung sowohl für die algerischen Staatsbürger in Frankreich als auch für die Beziehungen zwischen Paris und Algier?

 

Schäfer: Ich denke, eine Kündigung hätte vor allem eine symbolische Wirkung. Die jungen Menschen, die ich hier in Algier erlebe und die bereit sind, sich auf Boote zu setzen – mit oder ohne Papiere –, um nach Spanien, Frankreich oder Italien zu gelangen, werden sich dadurch wahrscheinlich nicht abhalten lassen. Ich würde das eher als politischen Akt betrachten. Gleichzeitig gibt es aber auch, wenn wir die politischen Ränder verlassen und uns der politischen Mitte zuwenden, durchaus gute Gründe, dieses Thema anzusprechen – sowohl für Macron und seine politische Bewegung als auch für die Sozialisten und Republikaner. Solange dieser Zustand bestehen bleibt, wird man vor allem der extremen Rechten, aber auch der extremen Linken, die sich stark auf nationale Interessen und die eigene Arbeiterschaft beruft, immer Argumente liefern, dass die politische Mitte die drängenden Themen der Bevölkerung nicht adressiert.

 

Noll: Lassen Sie uns zum Schluss auf die harten Machtfragen blicken. In der Vergangenheit war Algerien wirtschaftlich stark abhängig von Frankreich oder zumindest eng mit ihm verflochten. Doch nun ändert sich das. Denken wir zum Beispiel an China oder auch an Russland, mit dem Algerien historisch gesehen ebenfalls enge Beziehungen hatte. Algerien ist reich an Rohstoffen, gut vernetzt in Afrika und wird daher von Akteuren wie Russland und China umworben. Auch Italien tritt als europäischer Partner auf und sucht enge Beziehungen zu Algerien. Wie abhängig ist Algerien heute noch von Frankreich – sowohl wirtschaftlich als auch sicherheitspolitisch?

 

Schäfer: Die Verhältnisse haben sich insgesamt verändert. Seit dem Angriff auf die Ukraine erleben wir erstmals eine Situation, in der wir Europäer in Afrika, insbesondere im Hinblick auf Ressourcen und Energie, quasi als Bittsteller auftreten. Dass China, Russland und inzwischen auch die Türkei als Akteure vor Ort präsent sind, bedeutet jedoch nicht, dass sich Algerien von der europäischen Zusammenarbeit abkehrt. Was uns jetzt gelingen muss, ist, das Verständnis der Algerier für Non-Alignment, also die Entscheidung, sich nicht einem Block anzuschließen, positiv zu nutzen.

 

Noll: Herr Schäfer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

 

Dieses Gespräch ist eine gekürzte Fassung des Franko-viel-Podcastes „#77 – Haft für Sansal, Streit um Rückführungen: Frankreich und Algerien vor dem Bruch?“ vom 28. März 2025.

 

Unser Gast

Matthias Schäfer (Copyright: privat)
Matthias Schäfer (Copyright: privat)

Matthias Schäfer leitet seit Juli 2021 das Auslandsbüro Algerien der Konrad-Adenauer-Stiftung.  Zuvor war er Büroleiter in Shanghai und Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik in Berlin. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In Kooperation mit dem Deutsch-Französischen Bürgerfonds.

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