Cocoriki:
„Guten Morgen Sonnenschein“


Wer hätte gedacht, dass ein deutsches Lied aus den 1970er Jahren heute in Frankreich plötzlich ein Hit werden könnte? Was steckt da wohl dahinter? Cokoriki hat sich schlau gemacht:
Sei es Le Figaro, Elle, Paris Match oder Télérama, alle berichteten im Februar 2025 von dem überraschenden Erfolg eines deutschen Schlagers aus den 1970er Jahren: „Guten Morgen Sonnenschein“ von Nana Mouskouri. Auf Deezer Frankreich stieg die Zahl der Hörer des Songs um 1027 %, weltweit um 88 %, auf Spotify hatte er fast 37 Millionen Streams und auf YouTube wurde er innerhalb von zehn Tagen mehr als 15 Millionen Mal aufgerufen.
Zu verdanken hat die Sängerin diesen Erfolg der Plattform Netflix, auf der man seit dem 6. Februar „Cassandra“ sehen kann, eine deutsche Science-Fiction-Serie, in der ein Hausroboter seine Besitzer mit den Klängen von „Guten Morgen, Sonnenschein“ weckt. „Cassandra“ führte fast einen Monat lang die Netflix Charts an und so schaffte Mouskouris Ohrwurm ein überraschendes Comeback. Natürlich ist es nicht das erste Lied, das dank einer Serie ein Comeback erlebt, aber nach Kate Bushs „Running up that hill“ und Sophie Ellis-Bextors „Murder on the dancefloor“ ist es das erste deutschsprachige. Und das allein ist schon einer Erwähnung wert, denn es gibt kaum deutsche Lieder, die man im Ausland kennt.
Lasciatemi cantare
Wie steht es eigentlich um deutschsprachige Musik in Frankreich? Gibt es, abgesehen von der deutschen Klassik, Lieder, bei denen man zumindest den Refrain mitsingen kann? Diese Frage stellte ich mir 2010 zum ersten Mal, als ich auf einer Weihnachtsfeier von Kollegen des französischen Außenministeriums eingeladen war.
Zu der Gruppe, alle Sprachlehrer, gehörte eine Italienerin, eine Argentinierin, eine Spanierin, eine Russin, ein Ire, eine Brasilianerin, eine Französin und ich, der Deutsche. Nachdem wir die Weihnachtspezialitäten aus acht verschiedenen Ländern verköstigt und dabei viel über die abwesenden Kollegen getratscht hatten, holte Paola, unsere italienische Kollegin, ihre Gitarre heraus. Meine Feuerzangenbowle hatte wohl alle gelockert, denn die Gruppe sang ein Lied nach dem anderen.

Zunächst waren französische Lieder dran, die wir alle kannten: „La ballade des gens heureux“ oder „La bohème“ von Charles Aznavour, gefolgt von den Lagerfeuerklassikern „Let it be“ oder „Imagine“ der Beatles. Dann ging die musikalische Weltreise los: „Bella Ciao“, „Besame mucho, mas que nada“ oder „Kalinka“. Alle konnten zumindest den Refrain mitsingen und kaum war ein Lied zu Ende, da stimmte einer meiner Kollegen auch schon das nächste Lied an und Paola zupfte dazu ihre Gitarre. Plötzlich waren alle Blicke auf mich gerichtet: „Tu veux qu’on chante une chanson allemande? Laquelle?“ Gute Frage! Was sollte ich darauf nur antworten? Deutsche Schlager hatten es nie wirklich über die Grenzen geschafft. Deutsche Volkslieder? Sollte ich „Hoch auf dem gelben Wagen“ anstimmen? Oder „Sah ein Knab ein Röslein stehen“? „Lustig ist das Zigeunerleben“? Das ging ja nun gar nicht und „Lustig ist das Sinti und Roma-Leben“, das klingt doch sehr seltsam. Vielleicht ein Karnevalslied à la Rucki Zucki? Da, da, da von Trio? Oder Lili Marlen? Nein, nicht wieder ein Kriegslied. „Cherche dans le patrimoine musical allemand“, half mir schließlich eine Kollegin. Ich hatte eine rettende Idee und fing zu singen an: „Stille Nacht, heilige Nacht…“, meine Kollegen sangen sofort mit, allerdings jeder in seiner Sprache.
Le patrimoine musical
Die Ehre der deutschen Musik war also gerettet, dennoch ließ mich eine Frage nicht los: Was war eigentlich das deutsche patrimoine musical? Waren das nur die Klassiker, also oft ernste Kost? Gab es so gar nichts aus der Unterhaltungssparte, es musste ja nicht unbedingt ein Schlager sein. Und was hatte es mit diesem Wort patrimoine auf sich? Neben den juristischen Erklärungen, die sich auf Besitztum bezogen, hatte das Wörterbuch Larousse noch eine weitere Erklärung parat: „Patrimoine: Das gemeinsame Erbe einer Gruppe: Das kulturelle Erbe eines Landes, also das immaterielle Kulturerbe.“
Kaum hatte ich angefangen zu suchen, da stieß ich auf immer neue Informationen. Zum Beispiel, dass es die Franzosen waren, die die Journée du patrimoine erfunden haben, genauer gesagt Jacques Lang. Er initiierte am 23. September 1984 erstmals die Journées portes ouvertes dans les monuments historiques, die bis heute an jedem dritten Wochenende im September stattfinden. Ein Exportschlager, denn seit 2010 sind über 50 Staaten dabei, darunter auch Deutschland, wo das ganze übrigens European Heritage Days heißt.
Was das patrimoine musical betrifft, so gibt es sogar eine Website mit dem Namen patrimoinemusicalfrançais, auf der neben den zu erwartenden Chansons von Piaf und Aznavour alles zu finden ist, was das Ohr begehrt. Und, siehe da, die Unesco hatte auch deutsches Musikgut in die Liste des Kulturerbes aufgenommen, 2014 die Chormusik in deutschen Amateurchören und 2024 den Berliner Techno.
I did it my way
Das wäre nun also geklärt. 2020 auf dem Höhepunkt der Corona Pandemie sollte sich mir aber eine weitere Frage stellen. Da wir alle zu Hause bleiben mussten, die Franzosen aber nicht auf ihr Heiligtum, den Apéro, verzichten wollten, wurde ein neues Konzept erfunden: l’apéro Zoom. Das Prinzip war einfach: Man traf sich zu einer verabredeten Zeit via Zoom zum Aperitif. Es war eigentlich wie immer, man naschte Oliven und Tapenade, dazu etwas zu trinken, nur eben via Zoom. Nach drei Wochen Ausgangssperre war mein Terminkalender voll, an manchen Tagen sogar mit zwei Apéros hintereinander. Damit diese Treffen nicht langweilig wurden, ließ sich jeder etwas einfallen. Die einen sahen zusammen eine Serie auf Netflix, die anderen sangen. Eine meiner Zoom-Gruppen organsierte sogar einen „blind Test“.
Jeder der sechs Teilnehmer sollte ein Lied auf YouTube abspielen und die anderen mussten so schnell sie konnten den Titel und den Sänger, bzw. die Band erraten. Die wenigsten begnügten sich jedoch mit dem Erraten der Lieder, meine französischen Freunde hatten zu fast jedem Song eine Anekdote:
– „Tu savais que Patrick Hernandez, le chanteur de Born to be alive était Français ? D’ailleurs c’est Madonna qui était sa choriste dans cette chanson…“
– „Et le groupe Village People… c’était une idée d’un producteur français?…“
Sogar für My way von Frank Sinatra, das für mich wohl amerikanischste aller Lieder gab es eine Geschichte : „Tu savais que c’est une chanson de Claude François et le titre est Comme d’habitude. Frank Sinatra n’a rien inventé!“
Das war es also, das patrimoine musical. Das Lied allein genügte nicht, es brauchte ein Narrativ.

Hast Du etwas Zeit für mich?
Da wollte ich mithalten. Ich fragte mich, welches deutsche Lied denn als internationales musikalisches Erbe betrachtet werden könnte, ein Lied, das die anderen im Blind Test erkennen konnten und zu dem ich etwas zu erzählen hatte. Nina Hagen oder Falco? Ich hatte eine andere Idee und schon erklang „Hast du etwas Zeit für mich, dann singe ein Lied für dich …“. Natürlich, 99 Luftballons von Nena. „J’adore, dieses Lied bringt einfach immer gute Laune“, rief man mir zu und die Gruppe fing an, den Refrain mitzusingen. Meine Stunde hatte geschlagen:
– „Wisst ihr eigentlich, wovon Nena singt? Von einem Krieg, der alles zerstört, ausgelöst durch 99 Luftballons? Das war nämlich unsere Angst in den 80er Jahren: ein Atomkrieg, …kalter Krieg, …Tschernobyl…“
– „Oh là là les Allemands, faut toujours qu’ils soient sérieux”, bekam ich zu hören und schon lief das nächste Lied.
Selbst „Durch den Monsun“ von Tokyo Hotel hätte nichts an dieser Behauptung geändert. In den 1960er Jahren war übrigens ein anderes deutschsprachiges Lied in Frankreich ein Hit: Sag warum von Camillo Felgen, aber dafür waren meine Freunde zu jung und auch hier war der Text nicht gerade aufmunternd: „Nachts geh ich dahin. Ich bin allein und frag, warum?…“
Aus diesem Grund setze ich nun ganz auf Nana Mouskouri:
„Guten Morgen, guten Morgen
Guten Morgen, Sonnenschein
Diese Nacht blieb dir verborgen
Doch Du darfst nicht traurig sein
Guten Morgen, Sonnenschein
Nein, du darfst nicht traurig sein
Guten Morgen, Sonnenschein
Weck mich auf und komm herein.“
Den Song gibt es übrigens auch auf französisch: „Quand tu chantes.“
Der Autor

Der in Hessen geborene Frank Gröninger wohnt seit 1993 in Paris, wo er als Lehrer für Deutsch und interkulturelle Beziehungen unter anderem für das französische Außenministerium und Sciences Po, dem Institut für politische Wissenschaften arbeitet. 2021 erschien sein Buch „Douce Frankreich: die Abenteuer eines Deutschen in Paris“, sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, 2022 sein zweites Buch, „Dessine-moi un(e) Allemand(e)“.