KI:
„Im Wilden Westen entsteht keine ernsthafte Innovation“

KI: „Im Wilden Westen entsteht keine ernsthafte Innovation“
  • VeröffentlichtApril 28, 2025
US-Vizepräsident JD Vance während des Aktionsgipfels zur KI am 11. Februar 2025 in Paris (Copyright: Alamy)
US-Vizepräsident JD Vance während des Aktionsgipfels zur KI am 11. Februar 2025 in Paris (Copyright: Alamy)

Donald Trump macht die Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz zur Chefsache und treibt sie mit Macht und Milliarden voran. Europa ist unter Zugzwang. Ein Gespräch über Risiken und Chancen in der neuen Weltunordnung.

 

dokdoc: Herr Botschafter, welchen Platz nimmt die künstliche Intelligenz heute in der neuen Weltunordnung ein? Welche Rolle spielt sie in der Art und Weise, wie große internationale Akteure nunmehr ihre Konflikte lösen?

 

Henri Verdier: Ich sehe drei große geopolitische Auswirkungen dieser ansonsten vielversprechenden und faszinierenden Technologie. Das auffälligste Phänomen ist dieses neue Wettrüsten, das an den Wettlauf im Weltraum während des Kalten Krieges erinnert. Die laufenden Transformationen erfordern gigantische Investitionen in einer Größenordnung von Hunderten von Milliarden Dollar. Und um solche Summen zu mobilisieren, bedarf es solider Finanzstrukturen, Risikokapital und eines Ökosystems, das diese Ambitionen unterstützen kann. Vor diesem Hintergrund ist es dem Silicon Valley gelungen, Washington nicht nur von der Relevanz seiner Vision zu überzeugen, sondern auch der Macht näher zu kommen. Ein zweites wichtiges Element ist die Selbstbehauptung eines „Globalen Südens“, der sich seiner „Stärken“ zunehmend sicher ist. Länder wie Brasilien, Indien und Südafrika weigern sich kategorisch, sich einer neuen technologischen Vorherrschaft zu unterwerfen. Zwar verfügen sie noch nicht über die „Waffengleichheit“, um auf Augenhöhe mitspielen zu können, sie sind dennoch zunehmend aktiv in den Regulierungsdebatten und fordern Technologietransfer sowie kooperative Forschung. Drittens, was weniger offensichtlich, in den Köpfen der Menschen aber sehr präsent ist und viele Haltungen bei den Vereinten Nationen zur digitalen Governance und zum globalen Digital Compact erklärt, ist die Rolle dessen, was ich den „zweiten Süden“ nennen würde – insbesondere Afrika. Die afrikanischen Länder haben große Angst, von den Vorteilen dieser technologischen Revolution ausgeschlossen zu werden. Ihre Angst ist berechtigt und wir müssen sehr aufmerksam sein, denn auch das kann die geopolitischen Gleichgewichte verändern.

 

dokdoc: Wie sieht es mit der Verwendung im militärischen Bereich aus?

 

Verdier: Heute ist es sehr einfach, eine KI zu programmieren, um Sicherheitslücken in einem System aufzuspüren oder sogar selbstständig Cyberangriffe durchzuführen. Militärisch setzt man sich noch immer Grenzen: Die NATO verbietet beispielsweise das automatische Schießen, um die menschliche Befehlskette zu erhalten. Doch wie lange werden diese Tabus noch Bestand haben? Darüber hinaus wirft die Forschung an KI für die Verteidigung auch ethische Debatten auf. Bisher gibt es zwar einige rote Linien, aber ob diese in einem Umfeld, in dem sich die Machtverhältnisse rasch ändern, Bestand haben werden, ist ungewiss. Die Gleichgewichte sind prekär und können jederzeit in Frage gestellt werden. Immer häufiger wird der Ruf nach einer internationalen Zusammenarbeit laut, um bestimmte Formen der Forschung oder des Einsatzes von KI zu verbieten. Darum geht es in der auf dem Gipfeltreffen in Bletchley Park entstandenen (und in Paris angepassten) Erzählung über „existentielle Risiken“. Um ehrlich zu sein, sind die Fortschritte jedoch begrenzt. Jeder erkennt die Notwendigkeit an, eine Katastrophe zu verhindern, aber niemand möchte gegenüber seinen Konkurrenten oder systemischen Rivalen benachteiligt werden.

 

Gruppenbild anlässlich des KI-Gipfels in Bletchley, 1.-2. November 2023 (Copyright: Wikimedia Commons)
Gruppenbild anlässlich des KI-Gipfels in Bletchley, 1.-2. November 2023 (Copyright: Wikimedia Commons)

 

dokdoc: Bereits am Tag nach seinem Amtsantritt kündigte Donald Trump an, er werde ein privates Investitionsprojekt im Wert von 500 Milliarden Euro für KI initiieren. Wie beurteilen Sie diese Ankündigung angesichts der turbulenten Beziehung des US-Präsidenten zu Europa?

 

Verdier: Die Botschaft war klar: „Das Rennen um den Gigantismus ist das einzige, das zählt, und wir werden es gewinnen“. Doch seit einiger Zeit werden einige Stimmen laut, die diese Vision in Frage stellen. Es gibt keine Garantie dafür, dass derjenige, der die Weltwirtschaft dominiert, zwangsläufig auch die größten Datenmengen abschöpft. Die Chinesen investieren in die Erforschung sparsamerer Modelle. In Frankreich haben wir so Goldstücke wie Mistral, schon sehr bekannt und ein ernsthafter Konkurrent für die Amerikaner; aber auch PLEIADE, ein weniger medienwirksames, aber in der Welt der KI sehr angesehenes Unternehmen, dessen Ansatz auf Open-Source-Modellen beruht. Diese bauen auf öffentliche und nachvollziehbare Daten auf und können extrem leistungsfähig und gleichzeitig energiesparend sein. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Fest steht, dass die USA den technologischen Kampf gegen China nicht nur gewinnen, sondern auch hegemonial für sich entscheiden wollen.

 

dokdoc: In Europa wird immer häufiger von „technologischer Souveränität“ gesprochen. Was bedeutet dieser Begriff konkret, wenn er auf KI angewendet wird?

 

Verdier: Zu viele Reden über Souveränität bleiben theoretisch. Ich plädiere für eine aktive, konkrete, fast schon unternehmerische Souveränität. In meiner Karriere musste ich zum Beispiel eine Cloud kaufen, obwohl es kein französisches Angebot gab. Da ich wusste, dass ich von einem amerikanischen Akteur abhängig sein würde, habe ich vor dem Kauf einen Migrationstest vorgeschrieben, weil ich den Beweis dafür wollte, jederzeit den Anbieter wechseln zu können. Das war bereits ein Grad mehr an Souveränität. Bei der KI ist die Frage ähnlich: Wie kann ich verhindern, dass ich zu etwas gezwungen werde?

 

dokdoc: Einige befürchten, dass Europa seine Entwicklung im Bereich der KI durch eine zu strenge Regulierung bremsen könnte. Teilen Sie diese Sorge? Könnte sich dies letztendlich gegen die EU richten, wie JD Vance in seiner Rede auf dem KI-Aktionsgipfel andeutete? 

 

Verdier: Das ist ein billiges Argument von Lobbyisten. Die Amerikaner lehnen jede Behinderung ihres Wettlaufs gegen China ab. Sie lehnen Regulierung ab, sowohl bei sich selbst als auch in Europa. Da sie nicht offen sagen können, dass sie gegen die Regulierung ihrer Unternehmen sind, lenken sie die Debatte ab, indem sie behaupten, die Regulierung schwäche Europa – ein Argument, für das wir aufgrund unserer Probleme mit der Wettbewerbsfähigkeit anfällig sind. Ich bestreite nicht, dass manche Regulierungen schlecht konzipiert oder belastend sein können, aber die Vorstellung, dass Regulierung die Innovation tötet, ist ein Mythos. Ich bin im Gegenteil der Meinung, dass im Wilden Westen keine ernsthafte Innovation entstanden ist. Unser Problem mit der Wettbewerbsfähigkeit in Europa hat andere Ursachen: das Fehlen eines starken Technologie-Finanzmarktes, die alternde Struktur unserer Großunternehmen und ein weniger dynamisches Unternehmertum.

 

dokdoc: Frankreich und Deutschland arbeiten im Bereich der KI immer enger zusammen. Gibt es ein Projekt, das Sie besonders hervorheben möchten?

 

Verdier: Ein gutes Beispiel für die deutsch-französische Zusammenarbeit ist la suite numérique, die digitale Suite: ein Projekt, das deutschen und französischen Beamten eine vollständig souveräne und Open-Source-fähige Arbeitsumgebung bieten soll, ohne dass sie von den GAFAMs (das sind Google, Apple, Meta (Facebook), Amazon und Microsoft) abhängig sind. Anstatt wie so oft alleine loszulegen, haben die Franzosen die Deutschen von Anfang an mit einbezogen und einen auch für andere Europäer offenen Ansatz kreiert. Das Ziel besteht nicht darin, eine einzige Office-Suite zu schaffen, sondern eine interoperable Plattform, auf der jeder seine Tools auswählen oder hinzufügen kann. Das ist eine wichtige Entwicklung: Man verzichtet auf einen zentralisierten Standard und setzt stattdessen auf ein modulares Ökosystem. Dieses Modell ist so konzipiert, dass es mit 27 Ländern funktioniert, und ganz einfach auf Afrika ausgeweitet werden kann. Es bietet eine offene und modifizierbare Infrastruktur ohne Fremdbestimmung. Das ist ein völlig neuer Ansatz: Anstatt die USA zu imitieren und einen einzigen Champion zu suchen, erforscht Europa endlich ein eigenes Modell, das auf Vielfalt und Kooperation beruht.

 

dokdoc: In welchen Bereichen können gerade die Europäer besser zusammenarbeiten?

 

Verdier: Bei der KI ist es komplexer als in anderen Bereichen, zum Beispiel im Verteidigungssektor, da der Markt fragmentierter und wettbewerbsintensiver ist. Dennoch können wir bei der Grundlagenforschung, der Bildungsinfrastruktur, den Daten oder auch der Sicherheit zusammenarbeiten. Natürlich werden sich Champions herausbilden und um Marktanteile konkurrieren. Und das ist auch gut so: Wir glauben an den freien Wettbewerb und wir brauchen ihn.

 

Die Fragen stellte Landry Charrier

Übersetzung: Norbert Heikamp

 

Unser Gast

Henri Verdier (Copyright: privat)
Henri Verdier (Copyright: privat)

Henri Verdier ist seit 2018 Botschafter für digitale Angelegenheiten. Nach seinem Abschluss an der École normale supérieure gründete er Odile Jacob Multimédia. Er war anschließend in leitenden Positionen an der Schnittstelle von Innovation und Digitalisierung tätig. Als Mitbegründer von MFG-Labs leitete er Cap Digital und verantwortete die Mission Etalab, durch die öffentliche Daten über die Plattform data.gouv.fr zugänglich gemacht wurden. Zudem war er Generalbeauftragter für Daten und anschließend Direktor der interministeriellen Strategie für Digitalisierung und IT, wo er die digitale Transformation der französischen Verwaltung koordinierte.

 

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