Abschreckung:
Transatlantische Trennung mit nuklearen Folgen

Abschreckung: Transatlantische Trennung mit nuklearen Folgen
  • VeröffentlichtMai 5, 2025
Donald Trump verabschiedet Emmanuel Macron, Washington, 24. Februar 2025 (Copyright: Wikimedia Commons)
Donald Trump verabschiedet Emmanuel Macron, Washington, 24. Februar 2025 (Copyright: Wikimedia Commons)

Was tun, wenn der wichtigste Partner einen auf einmal verachtet? Europa steht im nuklearen Halbschatten, seit Donald Trump das Bündnis mit Füßen tritt. Ein Bruch, der Europa zwingt, endlich mehr Souveränität zu wagen.

 

Wenn man in einer Partnerschaft plötzlich erkennt, dass der Partner einen verachtet oder sogar verabscheut, sollte man sich dann trennen oder alles daran setzen, den anderen zurückzugewinnen? In diesem Dilemma stecken die Europäer gerade, seit Donald Trump alle Regeln der transatlantischen Beziehungen mit Füßen tritt. Für Frankreich ist es ein schwacher Trost zu sehen, dass das Verhalten der Amerikaner so manche Prophezeiung von General de Gaulle bestätigt. Doch ist allen klar: Allein oder auch mit Partnern könne man das Vakuum nicht füllen, das der Rückzug des wichtigsten Verbündeten mit sich brächte. Deutschland steht immer noch unter dem Schock der ungehobelten Einmischung von J.D. Vance in seine innenpolitische Debatte, ebenso wie Polen, das mit den baltischen Staaten der russischen Bedrohung am stärksten ausgesetzt ist. Im Gegensatz dazu teilt Victor Orbans Ungarn mit Donald Trump die Sympathie für Wladimir Putin. Zwei Schlüsselländer befinden sich in einer besonderen Lage: Großbritannien setzt sich für größere Verteidigungsanstrengungen und eine entschlossene europäische Unterstützung der Ukraine ein, versucht aber gleichzeitig, nicht nur seine eigene „besondere Beziehung“ zu den USA, sondern auch und vor allem auch das Engagement der USA in der NATO so weit wie möglich zu sichern. Italien ist seinerseits von einer ausgeprägten pazifistischen Strömung geprägt, die sich durch ein verbreitetes Entgegenkommen gegenüber Russland auszeichnet. ist zwischen seinem europäischen Engagement und seiner Affinität zu den USA hin- und hergerissen. Giorgia Meloni und Donald Trump sind sich persönlich zugetan – deshalb bewegt sich das Land auf einem schmalen Grat und läuft Gefahr, sich selbst ins Abseits zu manövrieren. Die unmittelbarste Herausforderung besteht in der Möglichkeit eines russisch-amerikanischen Abkommens, das über die Köpfe der Ukrainer hinweg geschlossen wird. Während London und Paris proaktiv für Sicherheitsgarantien für Kiew eintreten, sind die anderen Hauptstädte viel vorsichtiger oder lehnen das sogar ab. Dies umso mehr, als Donald Trump kaum geneigt scheint, eine derartige Verpflichtung zu unterstützen, und Russland eine europäische Beteiligung kategorisch ablehnt.

 

Die EU? Ein Club von Trittbrettfahrern

Auf lange Sicht ist nun klar, dass das sicherheitspolitische Engagement der USA in Europa nicht mehr das frühere Ausmaß haben wird – unabhängig von den innenpolitischen Entwicklungen in Washington. Angesichts der ersten Schritte der US-Regierung und ihrer konfrontativen Rhetorik gegenüber den Europäern steht im Extremfall sogar ein Austritt aus der NATO im Raum. Man darf jedoch nicht vergessen, dass Washington bislang zwar seine Verbündeten dazu aufrief, aufgrund des Pivot to Asia die Last ihrer eigenen Verteidigung stärker selbst zu tragen. Gleichzeitig wollen die Amerikaner, aber durch die NATO die Spielregeln in Europa selbst bestimmen. Selbst unter Präsidenten, die engagiert für die Beziehungen zum alten Kontinent eintraten, widersetzten sich die USA systematisch jeglichen strukturierten Autonomiebemühungen der EU (No duplication), nicht zuletzt mit aktiver Komplizenschaft der Briten. Neu ist, dass die derzeitige US-Regierung eine überwiegend negative Sicht auf Europa zu haben scheint, das als ein Club von Trittbrettfahrern und als eine Last betrachtet wird, die die USA daran hindert, sich auf weitaus wesentlichere Herausforderungen zu konzentrieren.

 

Deutschland und Polen setzen auf Frankreich

Die erklärte Verachtung der US-Administration für Europa, das brutale Vorgehen gegen Verbündete wie Kanada oder Dänemark und die Nachgiebigkeit gegenüber Russland erschüttern selbst die eifrigsten Verfechter der transatlantischen Bindung. Die Zuverlässigkeit des amerikanischen Atomschirms wird in Frage gestellt, und die französischen sowie britischen Atomstreitkräfte geraten immer mehr ins Licht der Aufmerksamkeit. Seit der Ottawa-Erklärung von 1974 erkennen die Verbündeten zwar ihre „eigene abschreckende Rolle, die zur Stärkung der globalen Abschreckung des Bündnisses beiträgt“, an. Aufgrund der amerikanischen Übermacht wurde aber die Frage der Effektivität dieses Beitrags kaum vertieft, was am Ende allen entgegenkam. Die in Frankreich schon in den 1990er Jahren skizzierten Öffnungen (Alain Juppé fragte 1994, wie eine „konzertierte Abschreckung“ aussehen könnte) oder die viel feierlicheren Einlassungen von Emmanuel Macron zur europäischen Dimension unserer Abschreckung stießen bis 2025 nur auf beredtes Schweigen. Die Äußerungen des künftigen Bundeskanzlers und der polnischen Führung über die mögliche Rolle der französischen Atomstreitkräfte stellen daher einen bedeutenden Wendepunkt, aber auch eine Herausforderung für Frankreich dar.

 

Die gesamte Bandbreite der Verteidigungsmöglichkeiten

Die klassische französische Position strebt in dieser Frage eine konzeptionell kohärente Verbindung von Souveränität und Solidarität an. In Bezug auf die Modalitäten bleibt sie allerdings vage. Erster Punkt des Diskurses: Unsere nukleare Abschreckungskraft dient ausschließlich dem Schutz der vitalen Interessen Frankreichs, deren Beurteilung das souveräne Vorrecht des Staatsoberhaupts ist. Zweiter Punkt: Da unsere Sicherheit untrennbar mit der unserer Nachbarn verbunden ist, geht der Schutz dieser vitalen Interessen über das nationale Territorium hinaus. Diese strategische Ambiguität kann durchaus abschreckend auf einen potenziellen Aggressor wirken und stellte bisher auch kein Problem dar, solange man sich auf den amerikanischen Schutz verlassen konnte. In der heutigen Lage reicht sie für die Erwartungen und Fragestellungen unserer Partner nicht mehr aus. Hier soll nicht beurteilt werden, ob strategische Ambiguität ein Abschreckungsfaktor oder eher doch eine Einladung ist, die Entschlossenheit des Verteidigers zu testen. Diese Debatte ist so alt wie das Konzept der Abschreckung selbst und hat zwei gegensätzliche Positionen hervorgebracht – beide mit überzeugenden Argumenten. Zum einen mündete die Debatte bereits in den 1960er Jahren in die NATO-Doktrin der flexible response, die damals gegen den Widerstand Frankreichs verabschiedet wurde. Diese Doktrin war jedoch untrennbar mit einer starken konventionellen Verteidigung verknüpft. Zum anderen lässt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Beitrags der französischen und britischen Nuklearstreitkräfte zur Abschreckung in Europa nicht getrennt von einer signifikanten Verstärkung der konventionellen Streitkräfte und der gesamten europäischen Verteidigungsfähigkeit beantworten. Diese Vorbedingung ist unerlässlich, wenn eine Umgehung der Abschreckung „von unten“ verhindert werden soll. Auch wenn für Frankreich die Nuklearkomponente stets Teil der Abschreckung war, ist klar, dass auf europäischer Ebene ein Abschreckungskonzept erforderlich ist, das die gesamte Bandbreite der Verteidigungsmöglichkeiten umfasst.

 

Zwei Optionen

Zudem gilt es, durch entsprechende Sprachregelungen die Wahrnehmung der abschreckenden Rolle der beiden europäischen Atommächte zu stärken. Dies sollte über bisherige Informationsmaßnahmen hinausgehen, um den europäischen Militärverantwortlichen unsere tatsächlichen Abschreckungsmöglichkeiten besser zu erläutern. Auf institutioneller Ebene könnte eine Option für Frankreich darin bestehen, seine Position gegenüber der NATO-Nuklearplanungsgruppe (NPG) zu hinterfragen. Dieses Gremium ist trotz seines Namens nicht Teil der militärischen Struktur der Organisation, sondern eine Sonderformation des Atlantischen Rates, die kurz nach der Entscheidung General de Gaulles, die integrierte Struktur zu verlassen, eingerichtet wurde. Sie ist hauptsächlich ein Organ für den Austausch über die Nukleardoktrin ohne operative Verantwortung. Als Frankreich 2009 beschloss, in die Militärorganisation zurückzukehren, kündigte es seine Absicht an, sich von der NPG fernzuhalten.

 

Barack Obama, Nicolas Sarkozy, Jaap de Hoop Scheffer und Gordon Brown während des NATO-Gipfels in Straßburg am 4. April 2009 (Copyright: Alamy)
Barack Obama, Nicolas Sarkozy, Jaap de Hoop Scheffer und Gordon Brown während des NATO-Gipfels in Straßburg am 4. April 2009 (Copyright: Alamy)

 

Diese Entscheidung resultierte vor allem aus innenpolitischen Erwägungen, um die öffentliche Debatte nicht zu sehr zu belasten und jegliche Polemik über die heikle Frage unserer Unabhängigkeit im Nuklearbereich zu vermeiden. Letztere wäre durch eine Teilnahme nicht grundsätzlich infrage gestellt worden. Eine andere Option bestünde darin, in enger Absprache mit den Briten eine institutionelle Ad-hoc-Reaktion zu erfinden, wie es beispielsweise mit der für die Ukraine ins Leben gerufenen „Koalition der Willigen“ geschehen ist. Dies wäre eine logische Folge der britisch-französischen Erklärung von Lancaster House aus dem Jahr 2010, in der beide Länder bekräftigten, die Beeinträchtigung der vitalen Interessen des einen Landes würde automatisch auch jene des anderen berühren. Die Doktrin und die politische Bedeutung dieser viel zu selten zitierten Erklärung können gar nicht genug betont werden.

 

Mehr Handlungsspielraum als Großbritannien

Die französische Abschreckung ist so aufgebaut, dass einem potentiellen Angreifer ein für ihn inakzeptabler Schaden zugefügt werden kann. Sie basiert daher sowohl auf der politischen Einschätzung der Wahrnehmung des Gegners als auch auf technischen Faktoren, zu denen unter anderem die Leistungsfähigkeit der eigenen Verteidigungssysteme gehört. Eine stärkere Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen unserer Nachbarn würde also unter sonst gleichen Bedingungen nicht zwangsläufig zu einem proportional höheren Bedarf unseres oder des britischen Waffenarsenals führen. Die Frage hat jedoch eine ausgeprägte psychologische Dimension, da die Wahrnehmungen in diesem Bereich nicht neutral sind, sowohl aus der Sicht der Länder, die man verteidigen will, als auch aus der des Gegners. Diese eher politisch motivierte Logik hat innerhalb der NATO zur Etablierung einer gewissen nuklearen Arbeitsteilung geführt: Amerikanische Atombomben werden zwar von deutschen, niederländischen oder italienischen Flugzeugen transportiert, doch die Einsatzentscheidung bleibt allein den USA vorbehalten. Frankreich hingegen hat eine zweite nukleare Komponente beibehalten – eine flexible Einsatzoption, die besser geeignet ist, einem Aggressor in kritischen Situationen die Entschlossenheit zur Verteidigung der eigenen vitalen Interessen zu signalisieren. In dieser Hinsicht besitzt Frankreich mehr Handlungsspielraum als Großbritannien, das nur noch über seine mit Trident II D5-Raketen bewaffneten, atomgetriebenen U-Boote verfügt.

 

Ein europäisches SACEUR?

Auch wenn die Verbündeten der USA und die NATO-Verantwortlichen darauf achten, Washington nicht zu einer radikalen Reaktion zu provozieren, ist nicht sicher, ob eine Strategie der Zurückhaltung mittelfristig durchzuhalten ist, selbst bei einer erheblichen Aufrüstungsanstrengung (von der die amerikanische Rüstungsindustrie zweifellos stark profitieren würde). Nach dem Konzept von Donald Trump und seinem Vizepräsidenten bedeutet Artikel 5 des Nordatlantikvertrags keine automatische Verpflichtung und lässt den USA freie Hand bei der Wahl und dem Umfang der Mittel, die sie zugunsten eines angegriffenen Verbündeten einsetzen würden, was rein juristisch im Übrigen auch korrekt ist. Nach diesen Vorstellungen müsste ein mögliches militärisches Engagement der USA sogar finanziell kompensiert werden. Es ist daher vorstellbar, dass die USA aufgrund einer kuriosen Ironie der Geschichte versucht sein könnten, gegenüber der NATO eine Position einzunehmen, die an die von General de Gaulle angestrebte erinnert. Der Einsatz amerikanischer Streitkräfte zugunsten von Bündnispartnern würde dann von Fall zu Fall und auf der Grundlage von mit der NATO erstellten Plänen entschieden, so wie Frankreich nach seinem Austritt aus der integrierten Militärorganisation mit dem Ailleret-Lemnitzer-Abkommen zwischen dem französischen Generalstabschef und dem alliierten Oberkommandierenden (SACEUR – Supreme Allied Commander Central Europe) die Modalitäten für unseren möglichen Beitrag als Reservekraft zur konventionellen Schlacht in Europa geregelt hatte. In einem solchen Fall müsste die Kommandostruktur des Bündnisses neu überdacht werden, um sich an eine so bedeutende Veränderung auf amerikanischer Seite anzupassen, die zu einer Art Dienstleister würde. Die Frage nach einem europäischen SACEUR, die Jacques Chirac 1995 schon früh aufwarf und die viele aus Angst vor einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung nicht zu stellen wagen, würde dann ganz konkret und legitim. Sie würde ipso facto die Frage des europäischen Pfeilers des Bündnisses regeln. Sollten die USA infolge einer plötzlichen Verschlechterung der transatlantischen Beziehungen, z.B. aufgrund des Handelskriegs oder eines Streits über Russland, beschließen, die in Europa verbliebenen Kampfeinheiten abzuziehen, wäre eine solche Debatte unausweichlich.

 

Übersetzung: Norbert Heikamp

 

Dieser Text ist eine gekürzte Version eines Beitrags, der auf der Online-Plattform unseres Partners Telos unter dem Titel „Réflexions sur la défense européenne“ veröffentlicht wurde.

 

Der Autor

Bruno Racine (Copyright: Wikimedia Commons)
Bruno Racine (Copyright: Wikimedia Commons)

Bruno Racine ist ein französischer Spitzenbeamter und Schriftsteller. Er absolvierte die École normale supérieure und die ENA und begann seine Karriere 1979 bei der Cour des Comptes. Racine leitete die Villa Medici (1997–2002) und war Präsident des Centre Pompidou (2002–2007) sowie der Bibliothèque nationale de France. Seit 2001 ist er Vorstandspräsident der Fondation pour la Recherche Stratégique. 2020 übernahm er die Leitung des Palazzo Grassi und der Punta della Dogana in Venedig.

 

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