Zwei-Staaten-Lösung:
Nahost braucht eine deutsch-französische Initiative – Jetzt!


Frankreich will Palästina als Staat anerkennen – ein überfälliger Schritt, sagt Martin Kobler im Interview mit dokdoc. Europa dürfe nicht untätig bleiben und müsse jetzt innovative Wege gehen.
dokdoc: Herr Botschafter, Staatspräsident Emmanuel Macron hat am 25. Juli angekündigt, bei der nächsten UN-Vollversammlung im September Palästina als Staat anerkennen zu wollen. War das aus Ihrer Sicht der richtige Zeitpunkt?
Martin Kobler: Ich finde es zunächst gut, dass Präsident Macron diesen Schritt gemacht hat. Aus meiner Sicht kam er aber eher zu spät als zu früh. Mehrere europäische Staaten haben Palästina schon anerkannt. Wenn Frankreich früher gehandelt hätte, hätte es eine Führungsrolle übernehmen und auch Deutschland dafür gewinnen können.
dokdoc: Was meinen Sie genau damit?
Kobler: Es ist wichtig, möglichst im europäischen Verbund vorzugehen. Natürlich wird man nicht alle europäischen Staaten – denken Sie etwa an Ungarn – für eine gemeinsame Linie gewinnen können. Aber die großen Länder, insbesondere Deutschland und Frankreich als treibende Kräfte der EU, hätten besser gemeinsam handeln sollen. Das ist auch jetzt noch möglich. Allerdings will Deutschland nicht so recht mitziehen. Hätte man diesen Prozess früher gestartet, wären wir heute vielleicht schon weiter.
dokdoc: In Frankreich reagierte der RN prompt und bezeichnete Macrons Vorstoß als verfrüht – mit der Begründung, die Hamas habe dadurch internationale Anerkennung erhalten. Hat der Präsident damit Partei für die Hamas und gegen Israel ergriffen?
Kobler: Es stimmt nicht, dass dieser Ansatz der Hamas in die Hände spielt. Vielmehr stärkt er das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser. Die PLO hat bereits 1988 einen palästinensischen Staat ausgerufen – damals noch eine eher unrealistische Perspektive. Mit dem Oslo-Friedensprozess ab 1993 begann ein Weg, der den Endstatus jedoch offenließ.

Jitzchak Rabin wollte damals zu keinem Zeitpunkt einen palästinensischen Staat. Heute sind wir weiter: 147 Staaten in der UNO haben Palästina anerkannt. Gerade in dieser schwierigen Zeit müssen wir neue, innovative Wege gehen. Aus meiner Sicht war der Schritt des französischen Präsidenten richtig – und keinesfalls eine Anerkennung der Hamas. Die Hamas ist politisch am Ende und darf keine Rolle im zukünftigen Palästina spielen. Sie hat sich selbst diskreditiert. Die schrecklichen Bilder der Geiseln, die wir in den vergangenen Tagen gesehen haben, sind ein untragbares Verbrechen. Die Hamas ist aus dem politischen Spiel – und so soll es auch bleiben.
dokdoc: Könnte Macrons Entscheidung, Palästina anzuerkennen, eine Dynamik auslösen, die Israel weiter isoliert – und letztlich zu einer geopolitischen Neuordnung im Nahen Osten führt?
Kobler: Es geht erst einmal darum, Druck auf die israelische Regierung auszuüben, um den Friedensprozess wieder in Gang zu bringen. Dabei sollten die Europäer ihren Beitrag leisten, auch durch die Anerkennung des palästinensischen Staates. Ich bin überzeugt – und die meisten teilen diese Ansicht –, dass eine Zweistaatenlösung der Schlüssel zur Beilegung des Konflikts ist. Das ist auch die Position der Bundesregierung, der Europäer und der Palästinenser. Die israelische Regierung lehnt sie ab, ebenso die Knesset und ein erheblicher Teil der israelischen Bevölkerung. Aber das ist kein Grund, sie nicht dennoch als vernünftigen Weg zu verfolgen.
dokdoc: Die EU gilt als dann besonders handlungsfähig, wenn Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen. Warum gelingt es den beiden Staaten nicht, im Nahen Osten eine gemeinsame Linie zu finden?
Kobler: In Deutschland nimmt Israel aufgrund der historischen Verantwortung aus dem Holocaust eine besondere Stellung ein. Auch als Angehöriger meiner Generation bekenne ich mich ausdrücklich zu dieser Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels. Bei der nachfolgenden Generation sieht das vielfach schon anders aus: Sie betrachtet Israel zunehmend wie einen Staat unter vielen und beurteilt es entsprechend. Was Angela Merkel als Staatsräson bezeichnet hat, nämlich das uneingeschränkte Bekenntnis zur Sicherheit Israels, teile ich ohne Wenn und Aber. Doch was bedeutet Staatsräson in der praktischen Politik? Sie verpflichtet uns dazu, alles zu tun, was die Sicherheit Israels garantiert, und alles zu unterlassen, was sie gefährdet. Aus meiner Sicht gefährdet jedoch die Politik der gegenwärtigen Regierung Netanjahu die Sicherheit Israels. Deshalb ist es gerade für uns Deutsche – vielleicht noch mehr als für die Franzosen – wichtig, auf eine Kursänderung zu drängen: Kriegsverbrechen dürfen nicht geschehen, Hunger darf nicht als Waffe eingesetzt werden. Das ist die Verpflichtung, die sich aus unserer Staatsräson ergibt – und die uns dazu verpflichtet, auf die israelische Regierung in diesem Sinne einzuwirken, auch mit Druck.
dokdoc: Außenminister Jean-Noël Barrot hat sich zusammen mit Saudi-Arabien intensiv um Unterstützung für seinen Kurs bemüht – Stichwort: New Yorker Erklärung. Mit beachtlichem Erfolg, wie sich gezeigt hat. Auch Großbritannien hat inzwischen in Aussicht gestellt, einen Staat Palästina anzuerkennen. Ist Deutschland heute isoliert?
Kobler: Das würde ich so nicht sagen. Ich hätte mir jedoch gewünscht, dass daraus eine deutsch-französisch-saudisch-ägyptische Initiative geworden wäre. Deutschland hat aktiv an der New Yorker Erklärung mitgewirkt und ist keineswegs isoliert – insbesondere nicht im Rahmen der Vereinten Nationen. Besonders gefallen hat mir an der jüngsten Reise von Außenminister Wadephul, dass er den UNO-Aspekt wieder in den Vordergrund gerückt hat – ein Punkt, der in letzter Zeit leider stark vernachlässigt wurde.

dokdoc: Aber welche Rolle kann die deutsche Diplomatie im aktuellen Kontext überhaupt noch spielen? Denn mehr als Worte – oft dieselben wie in den vergangenen 30 Jahren – scheint Deutschland dem Konflikt nicht entgegensetzen zu können.
Kobler: Der Einfluss Deutschlands auf Israel ist insgesamt relativ gering. Das gilt nicht nur für Herrn Wadephul, sondern auch für seine Vorgänger. Ich war selbst Büroleiter von Joschka Fischer, und wir haben stets betont, dass die von allen bisherigen deutschen Regierungen verfolgte Linie notwendig sei, um die Gesprächskanäle zur israelischen Regierung offen zu halten. Doch hat sie eine Siedlung verhindert? Hat sie eine militärische Auseinandersetzung verhindert? Hat sie verhindert, dass Israel auf dem Weg zur Annexion der Westbank ist? Wie die Entwicklung zeigt, war das, glaube ich, ein Irrweg. Herr Wadephul führt diese Linie fort: vielleicht aus der Überzeugung, dass wir etwas für die Sicherheit Israels tun müssen – nicht für die israelische Regierung, sondern für das Land selbst –, aber sicher auch aus der Sorge, wegen pro-palästinensischer Äußerungen Antisemitismusvorwürfe zu erhalten oder von der Springer-Presse als „Israelfeind“ gebrandmarkt zu werden. Ich finde, wir müssen schleunigst dieses Schubladendenken hinter uns lassen, entweder als pro-israelisch oder pro-palästinensisch bezeichnet zu werden. Stattdessen sollten wir uns klar für das Völkerrecht einsetzen – das Rückgrat unserer internationalen Ordnung – und für Menschenrechte und Menschenwürde. Sie gelten universell, sind unteilbar und unverhandelbar. Kollektivbestrafung durch Zwangsvertreibung, Hunger und Blockade hat hier keinen Platz. Die gezielte Aushöhlung des humanitären Schutzes ist ein Angriff auf die Grundprinzipien der Menschlichkeit – und unter keinen Umständen zu rechtfertigen.

dokdoc: Wenn Sie auf die wechselvolle Geschichte europäischer Nahostpolitik blicken – von Suez bis Gaza: Was müsste heute geschehen, damit Europa in der Region als gestaltende Kraft ernst genommen wird?
Kobler: Ich bin der Meinung, dass Europa durchaus als Impulsgeber auftreten kann. Eine Idee, die ich hier einbringen möchte, betrifft die OSZE – beziehungsweise ihren Ursprung, die KSZE von Helsinki. Dem Nahen und Mittleren Osten fehlt eine vergleichbare ständige Organisation. Diese Idee ist nicht neu, sie wurde immer wieder vorgeschlagen, jedoch nie politisch umgesetzt. Eine solche Institution mit festem Sekretariat könnte sich – ähnlich wie die „Körbe“ der OSZE – um zentrale Fragen kümmern: den Weg zur Zweistaatenlösung, die wirtschaftliche Entwicklung sowie die demografische und demokratische Gestaltung der Region. Natürlich steht die OSZE heute wegen des Ukraine-Kriegs in der Kritik und ist in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Doch mit entsprechendem politischem Willen könnte ein solches Modell im Nahen Osten starten – etwa mit Israel, Palästina und einigen willigen Staaten – und später auf weitere Länder der Region ausgeweitet werden. In einer Zeit, in der Israel innenpolitisch zerrissen ist und zugleich in Gaza Krieg führt, wäre das ein wichtiger Impuls.
dokdoc: Aber wie sieht es mit der Rolle der Vereinten Nationen aus? Können sie hier nicht eine stärkere Führung übernehmen?
Kobler: Ich begrüße die französisch-saudische Initiative, die das Handeln zumindest teilweise wieder nach New York verlagert. Leider hat der UN-Generalsekretär es versäumt, eine aktive Rolle einzunehmen. Er wurde zur Persona non grata erklärt und darf nicht mehr nach Israel einreisen. Was haben die Europäer – insbesondere Deutschland und Frankreich – unternommen, um ihm zur Seite zu stehen? Eigentlich nichts, und das bedauere ich sehr. Denn letztlich muss alles in die Strukturen der UNO eingebettet sein. Ich erinnere mich noch gut an meine Zeit als Büroleiter von Joschka Fischer, als er 2002 die „Roadmap für den Nahen Osten“ entwickelte. Gemeinsam mit Frankreich gelang es ihm, diese Initiative in die EU einzubringen. Sie führte damals zur Gründung des Nahost-Quartetts bestehend aus Russland, den USA, der EU und der Arabischen Liga. Auch wenn die Situation heute schlechter ist als damals, bleibt dies ein Beispiel dafür, dass europäische Initiativen Wirkung zeigen können. Man darf nicht aufhören, solche Konzepte zu entwickeln – die Alternative, untätig zuzusehen, wäre noch schlimmer.
dokdoc: Herr Botschafter, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Die Fragen stellte Landry Charrier
Der Autor

Martin Kobler trat 1983 in den Auswärtigen Dienst ein. Er war Leiter des Vertretungsbüros der Palästinensischen Behörde in Jericho sowie Botschafter in Ägypten, im Irak und in Pakistan. Von 2000 bis 2003 war er Büroleiter des Außenministers Joschka Fischer. Für die Vereinten Nationen arbeitete Kobler in leitenden Positionen in Afghanistan, der Demokratischen Republik Kongo, im Irak und in Libyen.