Naher Osten:
„Europa muss vom Zaungast zum Architekten werden“

„Das Gelobte Land braucht eine Schuman-Erklärung!“ fordert Benoît Schuman in seinem jüngsten Beitrag für dokdoc. Wenige Tage nach der Verabschiedung des US-amerikanischen Gaza-Friedensplans haben wir mit Martin Kobler darüber gesprochen: Was bedarf es, um dauerhafte Stabilität zu fördern, und welche Rolle sollen Deutschland und Frankreich dabei spielen?
dokdoc: Letzte Woche hat der UNO-Sicherheitsrat dem amerikanischen Gaza-Friedensplan zugestimmt. Donald Trump sprach von einem „historischen Beschluss“, der „als eine der größten Zustimmungen in die Geschichte der Vereinten Nationen eingehen“ werde. Teilen Sie seine Begeisterung?
Martin Kobler: Meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Ich war lange Zeit in verschiedenen UN-Missionen tätig und habe etwas Erfahrung mit Mandaten. Und dieses hier ist ein schlechtes Mandat für eine internationale Stabilisierungstruppe. Es ist völlig vage, gibt keine klaren Zeitlinien vor, keine Angaben dazu, wie viele Personen was genau machen sollen. Normalerweise ist es bei Mandatsresolutionen für Friedensoperationen so, dass zuerst ein Konzept erarbeitet und dann vom Sicherheitsrat abgesegnet wird. Hier ist es umgekehrt: Der Sicherheitsrat segnet den Trump-Plan blanko ab, sagt einfach, dass es eine Mission geben soll – allerdings ohne konkrete Verpflichtungen oder klare Vorgaben. Das ist alles andere als historisch, es ist einfach unausgegoren.
dokdoc: „Zum jetzigen Zeitpunkt eröffnet der von den USA vorgelegte Friedensplan für den Gazastreifen (…) eine Gelegenheit für deutsch-französische Zusammenarbeit (…)“, schreibt Benoît Schuman in seinem Beitrag. Welche Rolle sollen nun Deutschland und Frankreich bei der Umsetzung des Plans übernehmen, etwa bei Sicherheit, Übergangsverwaltung oder wirtschaftlichem Wiederaufbau? Auch Sie forderten im August eine deutsch-französische Initiative in der Region.
Kobler: Herrn Schuman stimme ich völlig zu: Im deutsch-französischen Verhältnis gibt es in der Nahostfrage eine deutliche Dissonanz. Die Gründe liegen auf der Hand. Präsident Macron ist mit der französisch-saudischen Initiative vorgeprescht – ohne dies vorher mit Deutschland abzustimmen. Deutschland wiederum beruft sich auf die „Staatsräson“ und blockiert im Rahmen der EU. Ich habe mich stets dafür ausgesprochen, dass auch Deutschland den palästinensischen Staat anerkennen sollte – gemeinsam mit Frankreich. Diese Chance ist vertan. Jetzt müssen wir sehen, wie es weitergeht. Aus meiner Sicht sollte es nun darum gehen, wie wir mit den Geburtsfehlern des Trump-Friedensplans umgehen.

Einer der gravierendsten Mängel besteht darin, dass der Plan keine echte politische Perspektive bietet – weder in Bezug auf eine palästinensische Staatlichkeit, die lediglich en passant erwähnt wird, noch hinsichtlich einer umfassenden territorialen Lösung. Besonders problematisch ist, dass die Westbank weitgehend ausgeklammert bleibt. Der Plan ist im Kern ein Gaza-Plan. Die internationale Truppe soll ausschließlich in Gaza stationiert werden, nicht jedoch in der Westbank. Dadurch fehlt eine der zentralen Säulen: Die Gewalt, die fortgesetzte Landnahme und der Siedlungsausbau in der Westbank bleiben völlig unberücksichtigt. Und gerade dort liegt jedoch ein erhebliches Konfliktpotenzial für die Zukunft.
dokdoc: Unser Autor hat eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, wie Deutschland und Frankreich konkret zur Sicherung einer dauerhaften Stabilität im Nahen Osten beitragen könnten. Wie bewerten Sie diese Vorschläge?
Kobler: Schuman macht eine Reihe sehr wichtiger Vorschläge, die ich größtenteils unterstütze. Die humanitäre Öffnung ist bitter nötig. Wir können uns kaum vorstellen, unter welchen Bedingungen die Menschen dort leben – gerade jetzt, nach den heftigen Regenfällen der vergangenen Tage. In den provisorischen Zeltstädten stehen die Menschen buchstäblich im Wasser, Väter halten ihre Kinder hoch, damit sie nicht durchnässt auf dem Boden liegen müssen und überhaupt durchhalten. Solche Szenen tauchen im israelischen Fernsehen kaum auf und damit auch hier nicht. Noch immer gibt es nicht genug zu essen.
dokdoc: Was müsste jetzt konkret geschehen?
Kobler: Hier könnte – wie von Benoît Schuman vorgeschlagen – eine EU Commission for Access and Monitoring helfen, eine ähnliche EU-Mission haben wir bereits in Rafah mit der Grenzmission EUBAM. Man könnte also eine EU-Mission für Access and Monitoring einrichten und sie mit dem amerikanischen Modell verknüpfen. In Kirjat Gat gibt es schon ein großes amerikanisch-israelisches Civil-Military Cooperation Center (CMCC).

Dort sind auch Europäer vertreten, darunter sechs Deutsche sowie ein hochrangiger EEAS-Beamter. Dieses humanitäre Cluster muss deutsch-französisch gestartet werden. Warum plant nicht Herr Wadephul gemeinsam mit seiner französischen Gegenüber eine Reise nach Gaza, um die Lage vor Ort persönlich zu sehen? Gaza ist derzeit für Journalistinnen und Journalisten, für Fact-Finding-Missionen und Politikerbesuche vollständig geschlossen. Es ist höchste Zeit, dass der Gazastreifen für Beobachterinnen und Beobachter geöffnet wird. Am Anfang muss ein großer symbolischer Akt stehen! Eine gemeinsame deutsch-französische Reise in den Gazastreifen der beiden Außenminister wäre solch ein wichtiges Symbol. Auch die Polizeiausbildungskomponente, wie von Herrn Schuman betont, ist von entscheidender Bedeutung. Wir sollten jedoch die Fehler der Vergangenheit vermeiden: Militärs sollten keine Polizisten ausbilden. Polizisten müssen von Polizisten ausgebildet werden, nicht von Militärs – wie es gerade der US Security Coordinator für die Westbank macht. Auch ein deutscher General arbeitet da mit. Im Irak und in Afghanistan hat man diese Erfahrung gemacht und gesehen: Es funktioniert nicht, weil die Ausbildung ein völlig anderes Mindset erfordert. Ich war ja mit den UN im Irak und Afghanistan auf Posten und habe ein Déjà-vu. Warum werden immer wieder dieselben Fehler gemacht? Da werden nach den desaströsen Misserfolgen – denken wir nur an Afghanistan – „Lessons Learned“-Konferenzen veranstaltet – nur um bei der nächsten Mission genau dieselben Fehler zu wiederholen.
dokdoc: Herr Schuman regt außerdem die Schaffung eines europäischen Gaza-Fonds an, der zentrale Projekte vor Ort fördern soll. Was ist Ihre Einschätzung dazu?
Kobler: Den von Herrn Schuman vorgeschlagenen Fonds von zwei Milliarden würde ich stärker auf Erziehung zuspitzen. Meine große Sorge ist, dass die Terroristen von morgen heute geboren werden. Die Lage in Gaza ist dramatisch. Neben dem schwierigen politischen Fortschritt muss der Fokus auf Bildung liegen: Die Kinder müssen wieder in die Schulen zurückkehren. Die meisten dieser Schulen sind zerstört, Kinder hatten jahrelang keine Schulbildung. Zahlreiche von ihnen sind traumatisiert, durch die immer noch anhaltenden Angriffe. Durch die lange Hungerpolitik der israelischen Regierung sind sie irreparabel zerebral geschädigt – die Wissenschaft nennt dies „stunting“ –, haben Amputationen oder andere schwere Verletzungen erlitten. Allein 3800 Babys sind nach Angaben der UN an Hunger gestorben. Wir müssen jetzt handeln, sonst verschlechtert sich die Lage noch weiter.

dokdoc: Wie sehen Sie die politische Perspektive langfristig?
Kobler: Ich habe Zweifel, ob eine Zweistaatenlösung noch realistisch ist. Letztlich muss das zwischen Israel und Palästina ausgehandelt werden und nicht über deren Köpfe hinweg. Ich halte eine Konföderation für wahrscheinlicher, bei der zwei Staaten bestehen, die in einer Konföderation zusammengeschlossen sind. Freizügigkeit zwischen den beiden Teilstaaten ist dabei entscheidend. Jerusalem könnte als Blaupause dienen: Ich war vor kurzem in Ost-Jerusalem und bin in die Straßenbahn eingestiegen, die nach West-Jerusalem fährt – die meisten Fahrgäste waren da Palästinenser. Solche Modelle könnten für die Zukunft adaptiert werden. Die Botschaften nach Jerusalem zu verlegen, sobald substanzielle Fortschritte im Friedensprozess erzielt werden, wie Herr Schuman vorschlägt, halte ich jedoch verfrüht. Die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen in der Hauptstadt eines künftigen Palästinas und die Verlegung der Botschaft nach Jerusalem muss gleichzeitig erfolgen, sonst bleiben die Palästinenser außen vor.
dokdoc: Auf regionaler Ebene bedarf es eines neuen Gesprächsforums, schreibt Benoît Schuman, einer Art Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeerraum. Welche Schritte wären realistisch, um ein solches Forum aufzubauen?
Kobler: Die regionale Struktur ist entscheidend, um langfristige Stabilität zu gewährleisten. Schon Joschka Fischer hatte mit Hubert Védrine über ein solches Modell nachgedacht – ähnlich dem OSZE-Modell, bei dem Europa eine große Rolle spielen kann.

Eine ständige „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten“ fehlt bisher. Bis jetzt haben wir nur einzelne Prozesse: Der gescheiterte Oslo-Friedensprozess, die verschiedenen amerikanischen Friedenspläne von Carter bis Trump, den arabischen Friedensplan. Sinnvoll wäre eine Organisation, die permanent existiert – in guten wie in schlechten Zeiten – mit einem Sekretariat. Ursprünglich war Zypern als Standort vorgesehen. Dieses Konzept sollte wieder auf die Schiene gesetzt werden – als deutsch-französischer Initiative konzeptionell entwickelt, und von der EU indossiert werden. Die Staaten, im Nahen und Mittleren Osten, allen voran Israel und Palästina, aber auch die „Abraham-Staaten“, könnten den Anfang machen.
dokdoc: Welche Rolle sollte der Iran dabei spielen?
Kobler: Ich teile die Auffassung von Herrn Schuman, dass letztlich auch der Iran beteiligt sein muss. Das wird lange dauern, aber nur so kann eine nachhaltige Struktur entstehen. Leider haben wir derzeit mit dem Trump-Friedensplan und dem CMCC eine Situation, in der keine Palästinenser einbezogen sind und die Europäer nur als Zaungäste geduldet werden. Es fehlt an Ownership. Europa muss wieder vom Zuschauer zum Architekten werden.
dokdoc: Herr Kobler, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Die Fragen stellte Landry Charrier
Unser Gast

Martin Kobler trat 1983 in den Auswärtigen Dienst ein. Er war Leiter des Vertretungsbüros der Palästinensischen Behörde in Jericho sowie Botschafter in Ägypten, im Irak und in Pakistan. Von 2000 bis 2003 war er Büroleiter des Außenministers Joschka Fischer. Für die Vereinten Nationen arbeitete Kobler in leitenden Positionen in Afghanistan, der Demokratischen Republik Kongo, im Irak und in Libyen. Am 10. Oktober erschien sein Buch: Weltenbeben. Europas Chance auf neue Strahlkraft (Europa Verlag).
