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Antisemitismus

Rechts- oder Linksextremismus: Wo soll man Antisemitismus „einordnen“?

Benoît Schuman

Marsch gegen den Antisemitismus, Paris, 12. Dezember 2023 (Copyright: Imago)

18. Juni 2024

Während seines Staatsbesuchs in Deutschland (26.-28. Mai) überreichte Emmanuel Macron Serge Klarsfeld die Insignien eines Großkreuzes der Ehrenlegion und machte seine Frau Beate zur Großoffizierin desselben Ordens. Die Geste hatte große Signalwirkung: Sie zeigte, dass Macron es den „Nazijägern“ nicht übelnimmt, dass sie im Rassemblement National nun keine Gefahr mehr für Frankreich sehen.

Die Gleichsetzung von Antisemitismus und Rechtsextremismus war lange Zeit ein Postulat der politischen Debatte in Frankreich: Unter Missachtung der Realitäten über die Ursprünge des Faschismus gehörte es zum guten Ton zu behaupten, der Antisemitismus sei Teil der DNA des Front National (seit 2018 Rassemblement National).

Die extreme Rechte ist antisemitisch, der FN von Jean-Marie Le Pen ist ebenso antisemitisch, also ist der FN rechtsextrem. Diese Argumentation war lange Zeit vorherrschend und führt heute dazu, mit Beate und Serge Klarsfeld zu schlussfolgern, der RN sei nicht antisemitisch und gehöre nicht (oder nicht mehr?) zur extremen Rechten. De facto sei er als eine „konservative, radikale und populistische Bewegung“ zu betrachten. Diese ideologische Volte verdient eine Analyse.

Solidarität(en)

Die Ereignisse in Israel und im Gazastreifen haben den Streit darüber, wer in Frankreich (am ehesten) antisemitisch ist / wäre, neu entfacht: Die Nachfolger von Jean-Marie Le Pens FN oder die verschiedenen linksradikalen Gruppierungen, wie der Nouveau Parti Anticapitaliste von Olivier Besancenot? Die Reaktionen nach dem Angriff der Hamas auf Israel bringen die „Spaltung“ zum Ausdruck:

  • In seinen Bemühungen, „salonfähig“ zu werden (dédiabolisation), verurteilte der RN – wie fast alle anderen Parteien – die Hamas als eine „terroristische“ Organisation, deren Attacke als Völkermord zu bewerten sei. In dieser Logik war Marine Le Pen auch bei der Grande Marche gegen den Antisemitismus anwesend, die von der Präsidentin der Nationalversammlung Yaël Braun-Pivet und dem Senatspräsidenten Gérard Larcher am 12. November 2023 in Paris organisiert wurde;
  • Getreu dem Erbe des Schriftstellers Jean Genet, einem Freund der palästinensischen Fedajin, die nach dem Krieg von 1967 gegen die israelischen Besatzer kämpften, weigerte sich La France Insoumise die Hamas als „terroristisch“ zu bezeichnen. Sie sprach stattdessen von einer „nationalen Befreiungsbewegung“ in der Folge der „antikolonialistischen“ und „antiimperialistischen“ Kämpfe der 60er und 70er Jahre.

In Wirklichkeit hofft Jean-Luc Mélenchon Wähler für sich zu gewinnen, die Israel als „Produkt“ des westlichen Kapitalismus betrachten: Die USA und ihre Verbündeten hätten den jüdischen Staat gegründet, um die Erinnerung an den Holocaust „auf dem Rücken“ der arabischen Bevölkerung Palästinas auszutragen. Kritiker beklagen diese toxische Vermischung linker Werte (für das Selbstbestimmungsrecht der Völker, gegen koloniale Unterdrückung usw.) mit der Unterstützung einer „politischen“ und „identitären“ Ausprägung des Islam (die die Einheit der Republik gefährdet).

Verwandlung(en)

Die Befürworter des Rechts der Palästinenser auf einen unabhängigen Staat halten sich oft bedeckt, was die Grenzen dieses Staates angeht. Aber auch ihre Beweggründe: Handelt es sich um einen antiimperialistischen und antikapitalistischen Kampf oder um einen „Deckmantel“ für „extrem-linken Antisemitismus“?

Am anderen Ende des politischen Spektrums ist die Linie des RN für die öffentliche Meinung stringenter: Marine Le Pen unterstützt mit klaren Worten Israel und die jüdischen Franzosen: diese Haltung hat ihre Wurzeln in der „nationalen Präferenz“ und in der Ablehnung der „muslimischen“ Einwanderung. Nachdem der RN dem Antisemitismus abgeschworen hat, fordert er nun auch noch die Absolution! Aber diese Orientierung bringt eine neue Schwierigkeit der staatsbürgerlichen Integration mit sich, denn sie läuft auf die „Ethnisierung“ der Religion hinaus: Religiöse Überzeugungen werden nunmehr mit einer Hautfarbe assoziiert. So ermöglicht es die Doktrin des RN, ihren Willen, den „Kirchturm zu schützen“ mit dem Bekenntnis zur Laizität zu verbinden, ohne dabei auf den Begriff des Grand Remplacement zurückzugreifen (den der Polemiker Renaud Camus populär gemacht hat).

Heute ist der rechte Antisemitismus eine Randerscheinung: Dieses „Label“ kann dem RN und seinem Avatar Reconquête! nicht zugeschrieben werden. Dagegen könnte die Solidarität mit Palästina – der neuen „Cause du Peuple“ (um den Titel der 1968 von Roland Castro gegründeten Zeitung zu zitieren) – durchaus zum Erbgut der extremen Linken werden. Muss man – in der Disputation zwischen ‚Linksextremismus‘ (gauchisme) und ‚extreme Linke‘ (extrême gauche) – Karl Marx („Zur Judenfrage“, 1844) und Jean-Paul Sartre („Überlegungen zur Judenfrage“, 1946) vergessen? Israel das Recht abzusprechen, als hebräischer Staat zu existieren, heißt, die Legitimität des jüdischen Volkes auf eine eigene Nation (und einen selbständigen Staat) in Frage zu stellen: Indem sie den Juden das Recht auf ihren ureigenen geopolitischen Raum verweigern, gefährden die Kritiker des Zionismus die Gleichheit der Söhne und Töchter Abrahams (vgl. die unter Donald Trump ausgehandelten „Abraham-Abkommen“, mit denen diplomatische Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Ländern etabliert werden sollten). Übrigens, gerade der Antiamerikanismus ist ein Merkmal des Linksextremismus.

Wahlinstrument(e)

Rima Hassan bei einem pro-palästinensischen Protest in Sciences Po Paris, 26. April 2024 (Copyright: Imago)

In Frankreich hat die Europawahl gezeigt, dass Israelfeindlichkeit bestimmte Wähler mobilisieren kann: Der von Rima Hassan (MDEP Liste LFI) geschürte Antizionismus und die Vorfälle in Sciences Po Paris sorgten für Schlagzeilen. Die vergiftete Atmosphäre wusste der RN für sich zu nutzen. Der Krieg in der Ukraine löste nicht die gleichen Emotionen aus, obwohl – paradoxerweise – RN und LFI der „Milde“ und des „Verständnisses“ für Wladimir Putin beschuldigt wurden. Auch hier bewies der RN Geschick, denn sein Spitzenkandidat Jordan Bardella bekräftigte umgehend seine Unterstützung für Kiew. Nach einer ersten Salve von Kommentaren geriet die Anerkennung des Staates Palästina durch Irland und Spanien (28. Mai) sowie Slowenien (4. Juni) schnell wieder in Vergessenheit, da (k)eine gemeinsame EU-Außenpolitik nur einen begrenzten Einfluss auf die Fortsetzung des Krieges in Gaza hat.

Übersetzung: Norbert Heikamp

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