Zeitzeugenstimmen
„Man machte sehr viel mit wenigen Worten.“
18. August 2023
Ein Gespräch mit Rudolf Herrmann zum 60. Jubiläum des DFJW
Der Historiker und Politologe Rudolf Herrmann hat als Koordinator des Deutsch-Französischen Jugendwerks viele Jahre mit jungen Französinnen und Franzosen gearbeitet. Im Gespräch mit dokdoc spricht er über die Anfänge des DFJW, den Umzug von Rhöndorf nach Paris und die Zukunft der Institution. Rudolf Herrmann war von Anfang an „dabei“: Un morceau d’histoire!
dokdoc: Herr Herrmann, lassen Sie uns zunächst einmal einen Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen werfen. Deutschland und Frankreich haben 2022 eine schwierige Phase durchgemacht. Wie ist es heute um die bilateralen Beziehungen bestellt?
Rudolf Herrmann: Die Turbulenzen der letzten Monate haben die Ernsthaftigkeit der gemeinsamen Sache in den Fokus gerückt. Die Zusammenarbeit zwischen einem stürmischen Präsidenten und einem langsam agierenden Bundeskanzler ist zwar nicht einfach. Insgesamt lässt sich aber sagen, dass das eine gute Mischung ist, die bei unseren Partnern viel Respekt einflößt.
dokdoc: Den Grundstein für den Aufbau des DFJW legten Konrad Adenauer und Charles de Gaulle mit der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags am 22. Januar 1963. Die neue Institution wurde wenige Monate später, am 5. Juli 1963, ins Leben gerufen. Waren alle Parteien gleich von der Idee begeistert und bereit, dafür viel Geld in die Hand zu nehmen?
Rudolf Herrmann: Der Anfang ist stellvertretend für eine Problematik, die die 1960er Jahre durchzieht. Das Auswärtige Amt hatte nicht die Absicht, viel in diesem Bereich zu tun – im Gegensatz zum Jugendministerium, das von Anfang an gesagt hat: Man solle viel Geld in die neue Struktur investieren. De Gaulle und Adenauer teilten diese Meinung.
dokdoc: Im deutsch-französischen Kulturabkommen von 1954 hatten Deutschland und Frankreich beschlossen, „die Zusammenarbeit der in jedem der beiden Länder anerkannten Jugendverbände sowie die Jugendtreffen erzieherischen, sozialen oder beruflichen Charakters“ verstärkt zu fördern. Es gab also zum Zeitpunkt der Gründung durchaus Erfahrungen, auf welche man zurückgreifen konnte.
Rudolf Herrmann: Ja, das ist richtig. Es gab einzelne Felder, wo etwas gemacht wurde und da waren vor allem deutsche und französische Verbände federführend. Auf französischer Seite blickte man auf andere Erfahrungen zurück, was die Finanzierung angeht und war ganz erfreut, als es auf einmal eine permanente Finanzierung gab.
dokdoc: Und Sie waren 1963 schon „dabei“?
Rudolf Herrmann: So kann man das mehr oder weniger sagen. Gleich nach dem Elysée-Vertrag wurde eine gemeinsame Konferenz der Verbände gegründet, die sehr inhaltliche Beiträge machen konnte. Ich war in diesen Konferenzen dabei und habe von März 1963 bis ich ins Jugendwerk dann selbst ging, immer als Vertreter der katholischen Jugend immer an diesen Besprechungen teilgenommen. Wir arbeiteten da wirklich gut zusammen mit der evangelischen Jugend, den Sozialdemokraten und den Gewerkschaften. Die einzigen Störfrieden auf beiden Seiten waren die Sportverbände. Die sagten: Her mit dem Geld, wir wissen, was wir tun, und da fing sozusagen der Kampf an: Will man nur das machen, was man bisher gemacht hat, oder macht man ein Experimentierfeld mit ganz vielen Sachen, und überlegt man die Pädagogik des Austauschs?
dokdoc: Wie lief es in den ersten Jahren? Und welche Akzente setzte man?
Rudolf Herrmann: In der ersten Phase stand der Gruppenaustausch im Fokus. Und da hat man sehr schnell gemerkt, dass man den – man würde heute sagen – Teamern gemeinsame Ausbildungen anbieten musste, und da gab es das nächste Problem: Wie können Leute, die die Sprache des Anderen nicht sprechen, die wir aber haben möchten, in diesen Programmen ihren Platz finden? Es war also von Anfang an von ungeheurer Bedeutung, Dolmetscher zu haben, aber eben nicht die klassischen, sondern Gruppendolmetscher. So waren die ersten Jahre: Man machte sehr viel mit wenigen Worten.
dokdoc: Vor wenigen Tagen wurde das 60. Jubiläum des DFJW gefeiert. Hat man die Ziele erreicht, die man sich 1963 gesetzt hatte und was genau wurde gefeiert?
Rudolf Herrmann: Was gefeiert wurde, war die Tatsache, dass das DFJW zur Jugendbildung, zur Internationalität der Jugendbildung etwas beigetragen hat, mit Lehrlingen, mit Schülern, mit allen Zielgruppen in der Altersstufe – dass es keine Kindergeschichte geworden ist, was ja auch eine Gefahr war, und keine zu elitäre Geschichte. Also diese Art von Éducation populaire im guten Sinne auf eine internationale Ebene zu bringen, und das ist sicherlich ein Erfolg.
dokdoc: Sie haben viele Jahre für das DFJW gearbeitet. Gibt es eine Anekdote, an welche sie sich heute noch besonders gerne erinnern?
Rudolf Herrmann: Das Absurdeste, was ich erlebt habe, das war an dem Tag, an dem ich in Rhöndorf anfing. Genau an diesem Tag wurde der französische Beitrag gekürzt. Das war 1973. Der neue Generalsekretär, Pierre Gril, kam von der Éducation nationale und war vorher Leiter der französischen Schulen in Deutschland gewesen. Er hatte also eine gute Deutschlanderfahrung, aber auch eine sehr autoritäre Art zu führen. Als ich ihm das erste Mal begegnete, sagte er mir, Sie brauchen hier keine Vorschläge zu entwickeln: Ich bin der Chef. Das war für mich ein Frankreicherlebnis, das ich noch nie gehabt hatte.
Aber lassen Sie mich noch eins hinzufügen, damit kein falscher Eindruck entsteht: Pierre Gril hat als Generalsekretär viel geleistet. Eins seiner größten Verdienste ist es, die ganze Verwaltung in Rhöndorf zentralisiert und aus dem Kreis der Mitarbeiter eine richtige deutsch-französische Mannschaft gemacht zu haben.
dokdoc: 2001 zog die Zentrale von Rhöndorf nach Paris. Aus welchem Grund? Und welche Auswirkungen hat diese Entscheidung auf die Arbeit des DFJW gehabt?
Rudolf Herrmann: Ich sprach soeben von der Zentralisierung, die unter Pierre Gril erfolgte. Das gefiel Paris sehr gut. Nach Pierre Gril wurde der ehemalige persönliche Referent von Bundeskanzler Willy Brandt, Reinhard Wilke, zum Generalsekretär ernannt. Ab diesem Moment fing eine unaufhörliche Debatte an: Soll alles in Rhöndorf bleiben? Oder einiges nach Paris gebracht werden? Das ging dann schrittweise, über 20 Jahre, mit lauter kleinen Entscheidungen, bis das Büro in Paris dann 16 Mitarbeiter hatte. Und dann kam die Strukturentscheidung, dass man also erstmal einen Umzug von Rhöndorf nach Berlin machte und dann den Ausgleich mit Paris suchte.
dokdoc: War es richtig, die Zentrale nach Paris zu verlagern?
Rudolf Herrmann: Damals ja, aber heutzutage, wenn sie sich die Wirklichkeit ansehen, die letzten Generalsekretäre funktionieren ein bisschen nach dem Muster: Der Deutsche mehr in Berlin, der Franzose mehr in Paris. Ich betrachte das mit großer Skepsis, weil ich sozusagen das Positive erlebt habe. Aber, um auf Ihre Frage zurückzukommen: Dass man die Zentrale nach Paris brachte, hatte eigentlich eher mit dem normalen Egoismus der Beteiligten zu tun.
dokdoc: Eine letzte Frage. Vor welchen Herausforderungen steht heute das DFJW und was möchten Sie unseren Leser*innen mit auf den Weg geben?
Rudolf Herrmann: Das Jugendwerk hat ein großes Problem mit den neuen Bildungsstrukturen, mit der Einführung der Ganztagsschule. Früher war es in Deutschland so: Vormittags war Schule, nachmittags hatten die Kinder und Jugendlichen Freizeit. Jetzt haben viele Schüler erst um fünf Uhr Schulschluss. Und so spät haben sie nicht unbedingt mehr Lust, in Jugendgruppen zu gehen. Die Zahl der organisierten Strukturen ist also zurückgegangen. Darauf muss auch das Jugendwerk reagieren. Frankreich war in diesem Prozess viel weiter und schneller. Eine weitere Herausforderung liegt in der veränderten Lebenswirklichkeit der Betreuer. Früher kamen viele aus Sportvereinen, aus großen Verbänden. Heute sind es zum Beispiel kleine Umweltgruppen. Das hat natürlich Einfluss auf die Pädagogik, die sich weiterentwickeln muss.
dokdoc: Herr Herrmann, ich danke Ihnen für dieses Interview.
Das Interview führte Landry Charrier