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Meinungen

Was wollen wir in der Ukraine erreichen? Antwort an Benoît Schumann

Thomas Jäger

Antony Blinken im Gespräch mit Dmytro Kuleba und Annalena Baerbock in München, Februar 2023 (Copyright: Wikimedia Commons)

22. April 2024

In seinem Beitrag „‘Nichts ist ausgeschlossen‘ – bis zum Sieg?“ hat Benoît Schuman analysiert, unter welchen Bedingungen der Krieg in der Ukraine beendet und der Frieden gesichert werden könnte. Thomas Jäger antwortet ihm.

Die EU-Staaten haben sich auch nach mehr als zwei Jahren Krieg Russlands gegen den Beitrittskandidaten Ukraine nicht auf ein gemeinsames Ziel zur Unterstützung der Ukraine einigen können, sondern bleiben eine vielstimmige Gruppe. Dementsprechend finden die einzelnen Staaten nicht in ihre Rollen, vor allem diejenigen nicht, die Führung anbieten müssten. Mehr noch: Sie zeigen sich unwillig oder unfähig, wenigstens einen Teil der militärischen Abschreckung aufzubauen, die notwendig sein wird, um Russland von einem weiteren gewaltsamen Vordringen nach Westen abzuhalten. Die EU-Staaten, die sich jahrzehntelang darin geübt haben, große Worte mit schwachen Taten in Einklang zu bringen, bleiben sich in dieser Hinsicht treu.

Ebenso werden die EU-Staaten keine wirksamen Garantien für den Erhalt eines wie auch immer ausgehandelten Status geben können. Dazu fehlen ihnen die Mittel. Da weder Russland noch die Ukraine kapitulieren werden, entfallen wichtige Voraussetzungen für eine Zypern-Lösung für die Ukraine. Als Mitglied der EU, aber nicht der NATO, müsste die Ukraine dann Sicherheitsgarantien durch die EU erhalten. Dazu sind die EU-Staaten aber nicht in der Lage, weil sie diese militärische Abschreckung nicht leisten können. Mehr noch: Mit dem Ende des Krieges werden in Europa jene Stimmen an Gewicht gewinnen, die sich gegen eine teure Aufrüstung der Streitkräfte aussprechen und damit – vermutlich erfolgreich – Wahlkampf machen können.

Wozu die Unterstützung des Westens?

Russland hatte sich verkalkuliert, denn eine Annahme zu Beginn des Jahres 2022 war, dass die EU-Staaten zerstritten und unfähig sein würden, eine gemeinsame Antwort auf einen schnellen russischen Vormarsch auf Kiew zu finden. Es kam anders und die EU-Staaten waren sich – auch dank amerikanischer Führung – lange Zeit sehr einig in der Unterstützung der Ukraine, wenn auch mit den üblichen nationalen Abweichungen und Trittbrettfahrern. Ungarn und die Slowakei scheren derzeit aus, aber das scheint verkraftbar. Schwieriger ist, dass mit zunehmender Dauer des Krieges die Frage immer virulenter wird, welchen Zweck die westliche Unterstützung in diesem Krieg eigentlich erfüllen soll.

Solange die USA die Führungsrolle innehatten, waren dies akademische Debatten. In dem Maße, in dem der Kongress der US-Regierung das Heft des Handelns aus der Hand nimmt, und in dem Maße, in dem in Europa darüber nachgedacht wird, wer mehr tun könnte, wird die Frage drängender: Warum die Unterstützung? Zu welchem Zweck? Und wenn der Zweck definiert ist, mit welchen Mitteln soll er erreicht werden? Hier gibt es große Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland, aber auch zwischen anderen EU-Staaten.

Es rächt sich, dass der Zweck der Unterstützung des ukrainischen Verteidigungskampfes immer an die jeweiligen innen- und koalitionspolitischen Erwägungen angepasst, aber nie konkret und handlungsleitend auf EU-Ebene definiert wurde. Die Ukraine darf nicht verlieren, sie wird unterstützt, solange es nötig ist, waren eher Platzhalter für politische Unentschiedenheit als inhaltliche Festlegungen. Deshalb gibt es auch keine europäische Strategie zur Unterstützung des Beitrittskandidaten Ukraine, denn wo das Ziel fehlt, schweben die Taktiken im politischen Raum. Zudem haben einige EU-Staaten die imperialistischen Ambitionen Russlands nie wirklich ernst genommen. Andere schon. In Osteuropa würde eine Zypern-Lösung keine Unterstützung finden, denn anders als die Türkei in Zypern ist Russland in Europa eine aggressiv expansionistische Macht. Würde sich Russland auf eine Demilitarisierung der besetzten Gebiete einlassen und ein robustes Mandat für externe Friedenstruppen akzeptieren? Der Kreml müsste eine solche Entwicklung als Niederlage empfinden, vor allem wenn die Referenden über die Zugehörigkeit zu Russland negativ ausfielen. Aus russischer Sicht müsste dies, so unwahrscheinlich es auch sein mag, mit einer Entmilitarisierung der Ukraine gekoppelt werden. Darauf wird sich keine ukrainische Regierung einlassen. Aber die Frage stellt sich nicht: Russland hat die ukrainischen Gebiete „verfassungsmäßig annektiert“ und will mehr, keinesfalls weniger.

Wer wird welche Rolle spielen?

Die Kriegssituation ist seit mehr als zwei Jahren in mancher Hinsicht stabil. Die Kämpfe finden fast ausschließlich auf ukrainischem Territorium statt. Ukrainische Städte werden seit mehr als zwei Jahren bombardiert. Die Ukraine kann nur wenige Angriffe mit eigenen Waffen gegen militärische Ziele in Russland ausführen. Die Unterstützung ist im Osten der EU am größten, in der Mitte geringer und im Süden und Westen noch etwas zurückhaltender.

Das alles konnte stabil bleiben, weil die USA entscheidenden Einfluss ausübten. Dieser bröckelt, weil die USA das Ziel der Unterstützung ebenso flexibel definieren und derzeit nicht ausreichend Waffen und Munition liefern können. Deshalb verstärkt die Ukraine ihre Angriffe auf russische Raffinerien, obwohl die Biden-Regierung das ablehnt. Für eine doppelte Erpressung – der Ukraine die Waffen zu verweigern und Russland damit zu drohen, der Ukraine die modernsten Waffen zu liefern -, um beide Seiten zu Zugeständnissen zu bewegen, fehlt der US-Regierung die Verlässlichkeit. Sie kann ihren Handlungsspielraum nicht fest kalkulieren, und deshalb wird sich keine Seite darauf einlassen. Zudem wäre dies ein verheerendes Signal an Polen, die baltischen Staaten, Rumänien, Bulgarien, selbst an Georgien und Moldawien.

Der Spiegel, Ausgabe vom 23. April 2022 (Copyright: Depositphotos)

In der EU ist ein Wettbewerb um die Führungsrolle gegenüber der Ukraine entbrannt. Frankreich wollte die Unterstützung weniger transparent machen, Putin mehr im Ungewissen lassen. Er sollte abschätzen müssen, welche Reaktionen seine Angriffe auslösen könnten. Das wollte Deutschland nicht. Jede Unsicherheit mit Putin ist für Scholz ein Grund zur Sorge, ihm schaudert vor einer Eskalation. Die großen EU-Staaten haben diese kleine Scharade nicht ernsthaft diskutiert. Aus Sicht der östlichen EU-Staaten dürfte beides mit gehöriger Skepsis betrachtet werden. Denn weder die strategische Autonomie der EU noch die Scheu vor Putin, die es im deutsch-französischen Verhältnis zu überwinden gilt, gelten dort als tragfähig. Zu Recht. Beide Staaten spielen die Rolle von Statisten, die darauf warten, dass der Hauptdarsteller die Bühne wieder betritt. Wie sollen sie ein robustes Mandat zur Sicherung der ukrainischen Souveränität ausführen? Je länger der Kongress die US-Regierung schwächt, desto improvisierter wirken die Dialoge. Die EU hat ihre Rolle bei der Unterstützung der Verteidigung der Ukraine noch nicht gefunden: Unterstützung ja, aber mit großen Einschränkungen. Vor allem hat sie ihre Rolle beim Aufbau ihrer eigenen Verteidigung noch nicht gefunden: Die EU-Staaten bleiben unfähig, sich selbst zu verteidigen und Stabilität in ihr geografisches Umfeld zu projizieren. Nordafrika und die Sahelzone haben sie aufgegeben. Russland drängt in diese Länder. Die EU-Staaten, die jahrzehntelang darin geübt waren, sich über ihre eigene Bedeutung in der Welt zu täuschen, sehen sich außerstande, die Rollen zu übernehmen, die für die Gestaltung einer neuen europäischen Sicherheitsordnung notwendig sind. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sie diese Rollen nur spielen.

Regionalkrieg, europäischer Konflikt oder Weltkrieg?

Europa ist der Streitpunkt dieses Krieges, der weder ein regionaler Konflikt zwischen Slawen ist, wie man in Ungarn sagt, noch ein Weltkrieg, wie manche glauben machen wollen. Ob er es wird? Das hängt vor allem davon ab, welche Entscheidungen China und die USA in den nächsten Monaten und Jahren, solange der Krieg dauert, treffen. Ein europäischer Krieg ist er schon jetzt. Umso erstaunlicher ist die Nachlässigkeit, mit der viele europäische Regierungen darauf reagieren. Dieselben, die vermuteten, dass Putin niemals die Ukraine angreifen würde, sind sich nun sicher, dass er niemals ein EU-Land angreifen würde. Obwohl Putin und seine Sprecher genau das immer wieder betonen: erst die Ukraine, dann das Baltikum, den Kaukasus, Osteuropa, Mitteleuropa. Zwischen Selbsttäuschung und fiskalischen Zwängen verharrt die EU-Verteidigungsbereitschaft. Nur in den besonders betroffenen Staaten hat sie Priorität. Der Rest wartet ab.

Dabei ist schon heute unstrittig, dass dieses Abwarten die Freiheit zur Eigenentwicklung der EU gefährden wird. Dabei ist es gleichgültig, welche Zugeständnisse man Putin machen könnte, als würde man damit den faschistischen russischen Staat aufhalten, der die Gewalt nach innen und außen zur Rechtfertigung seines pseudozivilisatorisch überideologisierten Regimes inzwischen braucht wie die Luft zum Leben. Es ist egal, welche Form die Ukraine auf dem Weg zu einer Einigung annehmen könnte, ob Korea, die deutsche Teilung oder Zypern als Bezugspunkte dienen könnten. Warum? Weil das in den Augen des Kremls nur Zwischenschritte sind. Denn eine Lösung, bei der die Ukraine Mitglied der NATO wird und unter dem nuklearen Schirm der USA ihre Unabhängigkeit verteidigen kann, ist nicht in Sicht. Der Widerstand dagegen ist groß und wird mittelfristig anhalten.

(Copyright: Thomas Jäger)

Statt sich über ein Abkommen mit der Ukraine Gedanken zu machen, auf das die EU-Staaten kaum nennenswerten Einfluss nehmen können, weil sie keine Sicherheitsgarantien geben können, wäre es hilfreicher und effektiver, sich auf das zu konzentrieren, was in ihrer eigenen Macht steht: Die Ukraine tatkräftig zu unterstützen und vor allem sich selbst so auszurüsten, dass eine ernsthafte militärische Abschreckung gegenüber Russland erreicht werden kann. Dieses Ziel müssen die EU-Staaten verfolgen, egal wie der Krieg in der Ukraine ausgeht, egal welche Entscheidungen China trifft, egal wie groß der Druck der verlorenen afrikanischen Staaten wird, egal wie sich die USA unter dem nächsten Präsidenten positionieren.

Das wird viele Jahre dauern. Warum das nicht in allen Staaten geschieht, ist das eigentliche Geheimnis der EU-Staaten angesichts der russischen Aggression. Diese wird nicht mit Krieg enden und wird derzeit schon hybrid gegen europäische Staaten geführt. Desinformation, politische Korruption und militärische Drohungen bereiten den Boden dafür, dass in den EU-Staaten die russische Weltsicht als gleichberechtigte Grundlage der eigenen Interessenbildung akzeptiert wird. Deshalb bleibt die Aufrechterhaltung der Selbstausgrenzung Russlands aus Europa und damit die Aufrechterhaltung der Sanktionen ein wichtiges Element zur Stabilisierung der Sicherheitsgemeinschaft EU als Modell des Zusammenlebens in Europa. Dafür die Unterstützung anderer Staaten zu gewinnen, wird an Bedeutung gewinnen. Denn die internationale Isolierung Russlands ist eines der wichtigen Druckmittel, mit denen die Europäer die Ukraine unterstützen können.

Der Autor

Thomas Jäger ist seit 1999 Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Herausgeber der Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik und Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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