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Meinungen

„Nichts ist ausgeschlossen“ – bis zum Sieg?

Benoît Schuman

W. Selenskyj auf dem NATO-Gipfel 2023 in Vilnius (Copyright Depositphoto);

22. April 2024

Mit seinen Äußerungen zu Bodentruppen hat Emmanuel Macron im Grunde nichts anderes getan, als die Frage nach Sinn und Zweck der Unterstützung für die Ukraine zu stellen. Benoît Schuman geht in seinem Beitrag dieser Frage nach und erläutert, was ein Sieg der Ukraine bedeuten würde und wie der Frieden gesichert werden könnte.

In Bezug auf die Unterstützung Frankreichs für die Ukraine gegen die russische Aggression sagte Emmanuel Macron, dass „nichts ausgeschlossen“ sei. Damit nimmt der Staatschef die Verantwortung wahr, die ihm laut Artikel 15 der Verfassung vom 4. Oktober 1958 zukommt: „Der Präsident der Republik ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte“. Der Präsident betont, dass ein Sieg Wladimir Putins verhindert werden müsse, weil eine Niederlage der Ukraine schwerwiegende Folgen für die Sicherheit – und damit für Freiheit und Demokratie – in Europa hätte. Der Einsatz westlicher Bodentruppen ist also denkbar, und allein diese Möglichkeit – deren Bedingungen nicht festgelegt wurden – bedeutet eine „strategische Ambiguität“, mit der die imperialistischen Ambitionen des Herrschers im Kreml, der sich für den späten Nachfolger Peters des Großen hält, eingedämmt werden könnten.

Was würde ein Sieg der Ukraine bedeuten?

Die Einverleibung der Ukraine als Ganzes oder in Teilen und/oder die Verwandlung einer „Rumpfukraine“ in einen Vasallenstaat Moskaus nach dem Vorbild Weißrusslands sind für Frankreich inakzeptabel, auch wenn dies die „vitalen Interessen“ Frankreichs nicht gefährden würde. Frankreich befindet sich zwar nicht im Krieg mit Russland, aber die Ziele seiner massiven Hilfe für Kiew sollten überdacht werden:

  • In erster Linie geht es um die Verteidigung des Völkerrechts und die notwendige Unterstützung eines Staates in seiner legitimen Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Als ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates fühlt sich Frankreich hier in besonderer Weise verantwortlich;
  • Gemäß der Charta von Paris für ein neues Europa vom 21. November 1990 und den Grundsätzen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa verteidigt Frankreich die Unabhängigkeit und die territoriale Unverletzlichkeit eines Landes, das sich einem expansionistischen und „kriegerischen“ Nachbarn gegenübersieht.
    Was bedeutet ein Sieg? Ein Friedensvertrag besiegelt normalerweise den Sieg einer Kriegspartei über die andere, wobei letztere die Bedingungen des Siegers für die Beendigung der Feindseligkeiten akzeptieren muss: Der Frankfurter Vertrag (10. Mai 1871) und das „Diktat von Versailles“ (28. Juni 1919) sind dafür oft zitierte Beispiele, einschließlich der darin geregelten Grenzverschiebungen (Elsass-Lothringen). Im Falle der Ukraine und Russlands ist die Kapitulation einer der beiden Kriegsparteien eher unwahrscheinlich: Es wäre daher angebracht, sich von anderen internationalen Abkommen unter der Schirmherrschaft der UNO inspirieren zu lassen. Man denke etwa an die Beendigung des Koreakrieges 1953 oder an den 2+4-Vertrag vom 12. September 1990.

Akteur oder Zuschauer?

E. Macron (Copyright Depositphoto)

Will der französische Präsident also einen Sieg der Ukraine, d.h. die Rückgabe aller seit 2014 von Russland besetzten Gebiete? Das würde sowohl die Halbinsel Krim und den Donbass als auch die seit dem 24. Februar 2022 eroberten Gebiete umfassen. Oder hofft Frankreich eher auf einen Zusammenbruch des neostalinistischen Regimes von Wladimir Putin durch eine neue „Oktoberrevolution“ oder einen neuen Staatsstreich nach dem gescheiterten Versuch von Jewgeni Prigoschin?
Ebenso unwahrscheinlich wie die Kapitulation einer der beiden Seiten ist heute ein Waffenstillstand:

  • Putin glaubt immer noch an einen militärischen Durchbruch und die Niederlage der Ukraine, ohne dass der Westen aus praktischen Gründen oder wegen einer skeptischen öffentlichen Meinung (niemand ist bereit, „für Sewastopol zu sterben“) viel dagegen tun könnte;
  • Selenskyj kann eine Einstellung der Kampfhandlungen nicht akzeptieren, da dies zu einem „eingefrorenen Konflikt“ führen würde, mit der Anerkennung einer „Demarkationslinie“, vergleichbar mit der zwischen der Republik Zypern und dem türkisch kontrollierten Nordteil der Insel.
Karte von Zypern, mit Demarkationslinie (Copyright: Depositphoto)

Der Vergleich ist gewagt: Die Ukraine könnte sich mit einer „zypriotischen“ Lösung mit soliden Garantien seitens der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten gemäß Artikel 4 des Aachener Vertrags zufrieden geben. Dort heißt es: „Sie (die beiden Staaten) werden einander im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, einschließlich militärischer Mittel, gewähren“. Gleichzeitig müsste die territoriale Reichweite solcher Sicherheitsgarantien festgelegt werden.

Mangels einer klaren Position Frankreichs (und Europas) hängt die Zukunft der Ukraine auch heute noch von den USA ab:

  • Washington kann die Fortsetzung eines „Stellvertreterkrieges“ (proxy war) mit Russland um den Preis weiteren Blutvergießens ukrainischer Soldaten akzeptieren, will aber möglicherweise nicht die „Demütigung“ des russischen Volkes, weil dies Chinas Einfluss auf Russland stärken würde;
  • Der (künftige) US-Präsident (Joe Biden oder Donald Trump) könnte versuchen, einen Waffenstillstand zu erzwingen, indem er gleichzeitig W. Selenskyj weitere Waffenlieferungen verweigert, wenn die Ukraine keinen Waffenstillstand anbietet, und W. Putin mit der Lieferung noch effektiverer Waffensysteme (F35, Marschflugkörper) an Kiew droht, wenn Moskau ein Friedensangebot Selenskyjs nicht annimmt. Trotz der Beteuerungen Donald Trumps ist die sofortige Zustimmung beider Kriegsparteien nicht garantiert.
    Da der Tribut an Menschenleben (Tote und Verletzte) unerbittlich weiter steigt und der Wiederaufbau der Infrastruktur lange dauern dürfte, könnte diese doppelte „Erpressung“ einen Ausweg aus der Krise weisen, vorbehaltlich einer „asymmetrischen“ Abstimmung mit der EU und China (unter Berücksichtigung der jeweiligen Rolle, die Brüssel und Peking an der Seite der Protagonisten spielen).

Kessel oder Sumpf?

Die Situation erfordert rasche Reaktionen:

  • Ohne Putin einen völkerrechtlichen „Bonus“ einzuräumen: Welchen Status haben die von Russland illegal annektierten Gebiete, wenn die Besatzungstruppen nicht über die Grenzen von 1994 (Budapester Vertrag) zurückgezogen werden können? Unabdingbar wäre ihre Entmilitarisierung mit der Perspektive eines Referendums über ihren Verbleib in der Ukraine (mit weitgehender Autonomie) oder ihren Anschluss an Russland (unter Beibehaltung der ukrainischen Staatsbürgerschaft und mit besonderen „lokalen“ Bürgerrechten). Hierfür müssten klare Fristen gesetzt werden, um schädliche Verzögerungen zu vermeiden (vgl. Minsker Abkommen von 2014);
  • Welche Zukunft kann man Selenskyj bieten, der als ukrainischer „de Gaulle“ oder „Churchill“ in die Geschichte eingehen möchte? Sein neuer Botschafter in London, General Walerij Saluschnyj, könnte eine wichtige Rolle spielen, entweder als Staatsoberhaupt (Präsidentschaftswahlen) oder als Premierminister (Parlamentarisierung“ der Verfassung).
General Walerij Saluschnyj im August 2022 (Copyright: Wikimedia Commons)

Im gegenwärtigen europäischen Kontext muss diese Debatte „hinter verschlossenen Türen“ geführt werden, bevor mögliche Entscheidungen öffentlich präsentiert werden. Medienwirksame Kontroversen würden nur zu einer giftigen Spaltung führen, wenn es darum geht, die (berechtigten) Sorgen der Bürger zu zerstreuen, auch wenn unterschiedliche Orientierungen möglich sind, die aber nicht durch parteipolitische Auseinandersetzungen in Geiselhaft genommen werden dürfen.

Und jetzt?

Was also tun, um den Titel von Lenins Buch (1902) zu zitieren? Die Bildung einer großen Armee nach dem Vorbild Napoleons, um Russland zurückzudrängen, ist unrealistisch: Nur der Rückgriff auf Artikel 5 des NATO-Vertrags würde es ermöglichen, eine solche Armee gemeinsam mit den USA aufzustellen. Da die Ukraine nicht Mitglied der NATO ist (auch wenn ihr der Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt wurde), hat Washington bereits zu verstehen gegeben, dass sich seine Streitkräfte nicht an einem solchen Abenteuer beteiligen würden. Im Falle eines Waffenstillstands könnten jedoch – unabhängig von der NATO – europäische Streitkräfte eingesetzt werden, um das Blutvergießen zu beenden und die Sicherheit des ukrainischen Territoriums zu gewährleisten. Dabei würde es sich nicht um eine „UNIFIL“-Mission handeln, sondern um eine Mission mit einem „robusten“ Mandat, das auch Kampfeinsätze im Falle einer Verletzung der Vereinbarung vorsieht.
Der Krieg in der Ukraine wird möglicherweise als erster globaler Krieg des 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen: Neben der militärischen Dimension hat der Konflikt auch eine wirtschaftliche, technologische und ideologische Dimension, für die eine Befriedung nicht in Sicht ist:

  • Im Handelsbereich müsste mittelfristig ein Ende der Sanktionen gegen Russland ins Auge gefasst werden, um den Kreml zur Einhaltung seiner Verpflichtungen zu bewegen (wobei die „Oligarchen“ einen gewissen Einfluss ausüben könnten), möglicherweise in Verbindung mit einer „Abgabe“ für die Ukraine;
  • Die Turbulenzen auf den Währungs- und Finanzmärkten erfordern Maßnahmen zur Öffnung gegenüber dem „globalen Süden“ (Reform des IWF und der Weltbank), um den ehemaligen „Dritte-Welt“-Ländern, die mehr „Mitspracherecht“ fordern, eine breitere Vertretung zu gewähren;
  • Die digitale Konfrontation verschärft sich und könnte mit dem Einsatz von Satelliten und der Intensivierung der „hybriden Kriegsführung“ (Eindringen in IT-Systeme) verheerende Folgen haben, ganz zu schweigen von einer technologischen „Entkoppelung“ zwischen den USA und China;
  • Die Medien und sozialen Netzwerke sind Schauplatz einer übertriebenen Inszenierung von „Werten“, die der Westen für „universell“ hält – eine Definition, die in Moskau, Peking, Johannesburg und anderswo mit „antikolonialistischen“ Argumenten zurückgewiesen wird.

Ohne einen raschen Ausweg ist zu befürchten, dass der Schlacht um Europa ein „Wutausbruch“ in Asien folgen wird, der zweifellos noch schrecklicher wäre.

Thomas Jäger hat in einem Beitrag mit dem Titel „Was wollen wir in der Ukraine erreichen?“ auf Benoît Schumanns Vorschläge geantwortet.

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