Deutschland in der EU
Ein „deutsches Europa“?
4. Juli 2024
Die Überzeugung, Deutschland wolle der EU sein Modell aufzwingen, ist in Frankreich weit verbreitet und gehört schon lange zum rhetorischen Arsenal der Rechts- und Linksextremisten. Auch in anderen EU-Staaten wird nicht selten dieses Narrativ verbreitet. Was ist daran wahr?
Weit verbreitet ist die Auffassung, vor allem in Südeuropa, das heutige Europa sei ein deutsches Europa. In diesem Kontext gibt es so manche berühmt gewordene Formulierung oder Geste. Jean-Pierre Chevènement erklärte beispielsweise, „was Deutschland durch zwei Weltkriege nicht erreicht habe, hätte es nun auf anderem Weg durch den Aufbau Europas erreicht“. Und wer erinnert sich nicht an die über der Akropolis wehende Reichskriegsflagge während der griechischen Schuldenkrise? Die Botschaft war klar: Deutschland zwingt Griechenland ein neues Diktat auf und bestimmt weitgehend die Geschicke in der EU.
„Die Deutschen sind wie wir geworden!“
Die europäische Einigung ermöglichte Deutschland die Wiederaufnahme in den Kreis der internationalen Völkergemeinschaft, förderte aber zugleich auch seine Rückkehr in eine wirtschaftliche und politische Spitzenposition dank der erfolgreichen Bonner Diplomatie der Zurückhaltung.
Durch die 1990 erfolgte Wiedervereinigung wurden dann die Karten neu gemischt. Deutschland erlangte seine Souveränität zurück, konnte eigene Interessen robuster vertreten und brachte diverse Themen im Alleingang voran. So erkannte es im Dezember 1991 einseitig die Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens an, ohne die europäischen Partner zu konsultieren; die schlossen sich erst zwei Monate später an. Während des Ersten Golfkriegs 1991 praktizierte Bonn eine „Scheckbuchdiplomatie“, die bei den Ländern, die Truppen zur Bekämpfung von Saddam Hussein entsandten, auf wenig Gegenliebe stieß. Wirtschaftspolitisch drängte die Bundesrepublik ihre europäischen Partner zur Liberalisierung des Handels und zur Anerkennung der WTO (Welthandelsorganisation). Innerhalb der EU bestand das Land auf strengen Konvergenzkriterien und sprach sich vehement für die Unabhängigkeit der EZB (Europäische Zentralbank) aus. So verteidigte Deutschland eisern seine eigenen Interessen und strebte für die EU vor allem Wirtschafts- und Haushaltsdisziplin sowie eine Dosis Föderalismus an.
Die deutsch-französische Konfrontation auf dem Gipfel von Nizza (2000) machte es ganz deutlich: Frankreich musste der deutschen Delegation im Europäischen Parlament sogar eine größere Anzahl an Sitzen einzuräumen, wo bis dahin Parität zwischen den beiden Staaten geherrscht hatte. Der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine kommentierte das auf seine ganz eigene Art: „Die Deutschen sind wie wir geworden!“ So erschien die Bundesrepublik auf der internationalen Bühne auf einmal unverkrampfter, ganz so, wie es sich Bundeskanzler Schröder wünschte, der als erster Kanzler den Krieg nicht miterlebt hatte!
Die sitzen überall!
Seine Regierung und die Angela Merkels, die ihm 2005 als Bundeskanzlerin nachfolgte, stellten Deutschland in den Mittelpunkt Europas. Es nahm dort fortan eine führende Rolle ein. Zunächst einmal, weil die Deutschen die europäischen Institutionen in der Kommission oder im Parlament besetzten, weil sie europäische Gruppierungen wie die EVP (Europäische Volkspartei) oder die SPE (Sozialdemokratische Partei Europas) kontrollierten und mit Hans-Gert Pöttering (2007-2009) und Martin Schulz (2012-2017) zwei Präsidenten des Europäischen Parlaments stellten.
Zudem besetzten sie mit Klaus Welle von 2009 bis 2023 auch noch die Position des Generalsekretärs des Euroäischen Parlaments. Nicht zu vergessen Ursula von der Leyen an der Spitze der Kommission! In anderen Gremien, wie dem Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), besetzten deutsche Gewerkschafter bis zur Hälfte der Führungspositionen. Die Liste ließe sich fortsetzen: Deutsche Entscheidungsträger sind in Brüsseler Strukturen stärker vertreten als die anderer Länder. Dadurch kennen sie die Abläufe und sind wertvolle Multiplikatoren für den Einfluss der Bundesrepublik.
Sodann wurde Berlin für die Osterweiterung der EU die Brücke schlechthin zwischen dem Westen und dem Osten des Kontinents. Im Osten war Deutschland der größte Investor und hatte dort erfolgreich seine Unternehmen angesiedelt. Es warb dort für die Vorzüge der Demokratie und des Binnenmarktes. Als Befürworter einer europäischen Verfassung konnte es sich nach der Ablehnung durch Frankreich im Jahr 2005 wieder neu sortieren und den Vertrag von Lissabon (2007) federführend vorantreiben, der dann den Großteil der 2005 in Frankreich abgelehnten Bestimmungen enthalten sollte.
Auf Kosten anderer?
Deutschland profitierte von der Wirtschaftskrise 2008 (weil es weniger betroffen war als seine wichtigsten Partner, insbesondere Frankreich). Es bestand auf Sparmaßnahmen und Haushaltsdisziplin und setzte in der Schuldenkrise (2011- 2015) seine harte Haltung gegenüber Griechenland durch, indem es eine Vergemeinschaftung der Schulden ablehnte.
In der Migrationskrise infolge des syrischen Dramas beschloss Angela Merkel, die deutschen Grenzen für die Migrantenströme zu öffnen (2015). Damit bewirkte sie eine Sogwirkung, die die europäischen Partner nicht wollten. Eine weitere einseitige Entscheidung war der Ausstieg aus der Kernenergie im Jahr 2011 und die Rückkehr zur umweltschädlichen Kohleverstromung in der Bundesrepublik.
Diese deutsche Selbstbehauptung, diese Entschlossenheit bei der Verteidigung eigener nationaler Interessen lässt sich auch in anderen Bereichen nachweisen. Ab den 1990er Jahren intervenierte die Bundesrepublik auch auf externen Kriegsschauplätzen. Sie engagierte sich auf dem Balkan und beteiligte sich am Kosovokrieg. Später folgte sie der NATO nach Afghanistan. Ihr Engagement hatte indes so recht kein System: 2003 lehnte sie gemeinsam mit Frankreich eine Intervention im Irak ab; bei der Abstimmung der Vereinten Nationen 2011 über eine Intervention in Libyen enthielt sich Deutschland der Stimme. Die Stärkung seines internationalen Gewichts in den letzten Jahrzehnten bewog Berlin dazu, einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UNO) zu beanspruchen. Darüber hinaus waren Deutschlands „Flitterwochen“ mit Russland einigen seiner Partner ein Dorn im Auge. Diese besondere Beziehung sollte billige Energielieferungen garantieren (siehe die Ostseepipelines North Stream I und II) und, so die Hoffnung in Deutschland, Sicherheit im Osten Europas.
Ohne Kompromisse geht nichts
Wenn Deutschland seine Macht wiedererlangt hat, dominiert es dann auch notwendigerweise die EU? Hat es den Grundstein für ein „deutsches Europa“ gelegt, wie manche behaupten? Niemand kann leugnen, dass die wirtschaftlichen Kernelemente der EU von denen der Bundesrepublik übernommen wurden: Verzicht auf Handelsschranken, Wettbewerbsrecht, Verwaltung des Euro, Haushaltsdisziplin, Beherrschung der Defizite – all dies war immer das A und O der volkswirtschaftlichen Ausrichtung Deutschlands. Berlin hat das erfolgreich auf die EU übertragen. Unzweifelhaft entspricht das Ausmaß an Föderalismus, das die Verträge für die EU vorsehen, auch der föderalen Struktur des deutschen Staates. Ebenso zufrieden ist Deutschland mit der in den Verträgen festgeschriebenen Rolle der Regionen für die europäische Integration. Trotzdem kann die Bundesrepublik ihren Willen nicht allein durchsetzen. Für die Errichtung der WWU (Wirtschafts- und Währungsunion) in ihrer jetzigen Form musste Deutschland sich auf die Unterstützung gleichgesinnter Staaten verlassen: Niederlande, Luxemburg, Dänemark, Schweden, Finnland, kurzum einen Club nördlicher Staaten, deren finanzielles und wirtschaftliches Gewicht in Europa nicht zu vernachlässigen ist. Ohne deren Unterstützung wäre nichts möglich gewesen. Diese Staaten stehen übrigens nicht im Verdacht, die Hegemonie Deutschlands in Europa anzustreben! Und Deutschland musste auch oft Kompromisse eingehen, die von seinen ursprünglichen Positionen abwichen.
In der griechischen Schuldenkrise ließ es sich auf zwischenstaatliche Mechanismen zur Sicherung der Finanzstabilität ein, die es ursprünglich nicht wollte. Derartige Kompromisse werden oft zusammen mit Frankreich ausgearbeitet. In der Migrationsfrage gelang es Deutschland nicht, einigen mitteleuropäischen Ländern (Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechische Republik) die angestrebten Migrationsquoten aufzuzwingen. Und was vielleicht noch viel wichtiger ist: Deutschland setzt in seiner Verteidigungs- und Sicherheitspolitik vornehmlich auf seine transatlantischen Beziehungen und gerät damit gegenüber der britisch-französischen Allianz ins Hintertreffen; die hatte schon 1998 mit dem Abkommen von St. Malo zwischen Chirac und Blair der gemeinsamen Verteidigung Europas wichtige Impulse verliehen. Zwar ist Deutschland auch in Einsatzgebieten außerhalb der EU präsent, doch die öffentliche Meinung im Land steht robusten Auslandseinsätzen deutscher Truppen sehr skeptisch gegenüber. Das bremst deutsches Hegemoniestreben nachhaltig aus! Berlin bekennt sich zwar zu einer wie immer ausgestalteten europäischen Verteidigungspolitik, ist aber zugleich bestrebt, die Interessen der eigenen Rüstungsindustrie nicht aus dem Auge zu verlieren. Aber es kann trotz allem seine eigenen Vorstellungen in diesem Bereich nicht durchsetzen, die ja auch bei weitem nicht von allen geteilt werden, wie die französisch-polnische Annäherung.
Deutschland kann nicht alleine
Die Annäherung Deutschlands an Russland hat zudem bei den Alliierten und den europäischen Partnern Besorgnis hervorgerufen. Washington fand harte Worte zu den Ostseepipelines, und die mittel- und osteuropäischen Länder sahen in den „Flitterwochen“ zwischen Moskau und Berlin ein „neues Rapallo“. Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ukraine waren für diese Staaten der Beleg dafür, dass die deutsche Politik gegenüber Russland in eine Sackgasse geführt hatte. Und auch die Erinnerung an die Greuel der Naziherrschaft sind noch ein rotes Tuch, das den Deutschen von einigen Nationen immer wieder vorgehalten wird und die Bundesrepublik zu einer gewissen Zurückhaltung zwingt. Die deutsche Vergangenheit – insbesondere die Nazizeit – wurde zum Beispiel auch während der griechischen Schuldenkrise instrumentalisiert. Regelmäßig taucht das auch zwischen Deutschland und Polen bzw. der Tschechischen Republik auf, nicht zuletzt wenn es um Fragen wie die der deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa oder die Entschädigungsforderungen von Flüchtlingen geht.
Kurzum, selbst wenn es das wollte, könnte Deutschland Europa seinen Willen nur schwerlich aufzuzwingen!
Übersetzung: Norbert Heikamp
Dieser Beitrag stammt aus einem im April 2024 veröffentlichten Buch: Idées recues sur l’Union européenne (von Martial Libera und Sylvain Schirmann, Éditions du Cavalier Bleu, Paris). Er erschien unter der Überschrift „L’Allemagne faconne-t-elle l’Europe?“
Der Autor
Sylvain Schirmann ist emeritierter Professor und ehemaliger Direktor von Sciences Po Strasbourg und des deutsch-französischen Exzellenzzentrums Jean Monnet.