Zeitenwende
„Man setzt Deutschlands Sicherheit aufs Spiel“
18. September 2024
Christoph Heusgen war der entscheidende außenpolitische Berater von Kanzlerin Angela Merkel. Seit 2022 ist er Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Im Gespräch mit dokdoc blickt Heusgen auf die deutsch-französischen Beziehungen und spricht über den Krieg gegen die Ukraine sowie Deutschlands Rolle in Europa.
dokodoc: Herr Botschafter, Sie haben mehrere französische Präsidenten aus nächster Nähe erlebt, Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron, zumindest bis Ende 2017. Was ist Ihnen bei Emmanuel Macron besonders aufgefallen?
Christoph Heusgen: Ich kenne Emmanuel Macron schon aus seiner Zeit als Wirtschaftsberater von Präsident Hollande und habe ihn als sehr sympathisch erlebt. Gleichzeitig habe ich auch erlebt, dass er ein energiegeladener und ungeduldiger Mensch ist, voller Tatendrang.
dokdoc: Sie schreiben in Ihrem 2023 veröffentlichten Buch „Führung und Verantwortung“: „In der Außenpolitik zeigte sich Macron mit Blick auf Europa weniger engagiert“. Wie soll man das verstehen?
Heusgen: Das erscheint vielleicht nicht ganz logisch. Als Emmanuel Macron Präsident wurde, war ich Botschafter bei den Vereinten Nationen und habe da mit Erstaunen festgestellt, dass gerade Frankreich auf der Bremse steht, wenn es darum geht, die europäische Stimme zu erheben. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die afrikanischen Staaten haben zum Beispiel immer drei Mitglieder im Sicherheitsrat, die bei den meisten Themen mit einer Stimme sprechen. Wir Europäer können es nicht tun, nicht zuletzt aufgrund französischer Vorbehalte.
dokdoc: Dabei hatte Staatspräsident Macron in seiner ersten Sorbonne-Rede 2017 für ein starkes Europa plädiert, das als geopolitischer Akteur auftritt.
Heusgen: In dieser Rede steckt viel, doch wenn man sie sich näher anschaut, sieht man: Es ging vor allen Dingen in Richtung europäische Finanzunion, europäischer Finanzminister und genau hier hat sich Macrons Ungeduld deutlich gezeigt. Die Bundeskanzlerin hatte erwartet, dass der Staatspräsident erst einmal Reformen in Frankreich durchführt, die es ihr dann leichter machen würde, im Bundestag dafür eine Mehrheit zu bekommen. Mit etwas mehr Geduld hätte man sicherlich viel mehr erreichen können, wenn man mal von dem Corona Wiederaufbaufonds absieht.
dokdoc: Sie sind auffallend zurückhaltend, was Merkels Frankreichpolitik angeht. Hat die Bundeskanzlerin das Richtige, Helmut Schmidt würde sagen, das Notwendige getan?
Heusgen: Ich habe zwölf Jahre die Bundeskanzlerin begleitet. Ich erinnere mich ganz genau an den ersten Tag ihrer Kanzlerschaft. Alle hatten erwartet, dass sie nach Großbritannien zu ihrem Freund Tony Blair fliegt. Das hat sie nicht gemacht, sondern ist nach Paris gereist. Die deutsch-französischen Beziehungen, das hatte ihr Helmut Kohl mit auf den Weg gegeben, standen bei ihr immer an erster Linie: in der Russlandpolitik, wo Deutschland und Frankreich es 2014-2015 geschafft haben, die russische Aggression zu stoppen – wenn auch nur zeitweise, wie wir seit dem 24. Februar 2022 wissen. Aber auch in der Finanzkrise, um ein weiteres Beispiel zu nennen, hat die Kanzlerin immer wieder versucht, mit Frankreich eine gemeinsame Position aufzubauen. Sie hat also aus meiner Sicht, um bei Helmut Schmidt zu bleiben, das Notwendige und darüber hinaus das getan, was ich nach wie vor für wichtig halte, nämlich echte deutsch-französische Kompromisse, die dann – wie im Fall des Wiederaufbaufonds – auch europäisch den Weg geebnet haben.
dokdoc: „Das deutsch-französische Verhältnis (bleibt) bis heute und in Zukunft Grundvoraussetzungen für das Funktionieren der EU“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Was, wenn Frankreich aufgrund der innenpolitischen Situation wegfällt bzw. für längere Zeit handlungsunfähig bleibt?
Heusgen: Emmanuel Macron und Olaf Scholz sind zwar politisch angeschlagen, man darf aber nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass wir gemeinsam nicht mehr viel erreichen werden. Gerade im Hinblick auf Russland wäre es wichtig, dass beide Länder jetzt gemeinsam vorgehen, genau, wie wir es vor 10 Jahren getan haben.
dokdoc: „Wir dürfen nicht zu lange warten, wenn Frankreich mit sich beschäftigt ist“, forderte neulich ein ehemaliger deutscher Politiker. Sein Vorschlag: Deutschland müsse nun seine Beziehungen zu anderen Ländern ausbauen und zusammen mit ihnen die EU in ausgesuchten Feldern voranbringen. Kann Deutschland Führung? Die allerwenigsten glauben heute noch daran. Was dann? Wäre es nicht an der Zeit, anzuerkennen, Deutschland will nicht, kann nicht und wird nicht diese Rolle übernehmen?
Heusgen: Ich habe ein Buch darüber geschrieben, dass Deutschland Führung und Verantwortung zeigen muss, dass es sich nicht wegducken kann. Von daher glaube ich, dass es wichtig wäre, wenn Deutschland jetzt vorangehen würde. Es ist ja nicht so, dass es noch Vorbehalte gegen eine deutsche Führungsrolle gäbe; diese Zeiten sind vorbei. Natürlich ist die Anbindung an Amerika immer wichtig, und es ist gut, dass die Amerikaner sich zum wiederholten Male in Europa engagieren, damit unser Kontinent wieder sicher wird. Aber wir dürfen nicht davon ausgehen, dass das so bleiben wird. Sich hinter den Amerikanern zu verstecken, das halte ich für den falschen Weg. Wir, will sagen: Deutschland und Frankreich, müssen gerade in der Sicherheitspolitik viel mehr europäisch denken, zusammen mit den Briten. Das passiert leider nicht. Und jetzt muss ein Land wie die Niederlande die Konsequenz ziehen und als erstes Einsatzbeschränkungen für Waffen an die Ukraine aufheben, anstatt dass das eben von Großbritannien, Deutschland und Frankreich ausgeht.
dokdoc: Nach der Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten haben viele in Paris von einem „effet d’anesthésie“ (Anm.d.Red.: „Betäubungseffekt“) gesprochen: Scholz werde sich jetzt verstärkt den USA zuwenden und das Streben nach einem autonomen Europa als zweitrangig betrachten. Der Krieg gegen die Ukraine hat gezeigt: Die Analyse war nicht falsch. Warum tut sich der Bundeskanzler immer noch schwer damit, europäischer zu werden?
Heusgen: Der Bundeskanzler tut sich nicht nur schwer damit, europäischer zu werden. Er tut sich schwer damit, im Sicherheits- und Verteidigungsbereich die Führung zu übernehmen und mit Entschlossenheit vorzugehen. Die Zeitenwende-Rede des Kanzlers vor dem Bundestag war mutig und richtig. Zwei Jahre später stellt man fest, dass wir zu langsam vorankommen. Das Sondervermögen war zwar ein richtiger Schritt, aber wir brauchen langfristig auch eine Erhöhung des regulären Verteidigungshaushalts.
dokdoc: Andere in der Bundesregierung zeigen aber, wie es gehen könnte…
Heusgen: Sie meinen Boris Pistorius? Pistorius macht klare Ansagen, ist sehr aktiv, kann konkrete Erfolge vorweisen. Er ist deshalb sehr beliebt, nicht nur im Westen, sondern auch im Osten Deutschlands. Das zeigt: Es ist diese Führung und diese klare Kommunikation, die die Menschen wollen.
dokdoc: Der Wahlkampf in Sachsen, Thüringen und Brandenburg hat wieder einmal deutlich gemacht, dass der Osten aufgrund der Erfahrungen der DDR und wichtiger Weichenstellungen in den Wendejahren nicht in denselben Kategorien wie der Westen denkt. Welche Auswirkungen haben diese Unterschiede auf die Gestaltung deutscher Außenpolitik und – am Ende – Deutschlands Handlungswilligkeit? Das wird in Frankreich selten thematisiert.
Heusgen: Dass viele Menschen im Osten nach Frieden statt nach Sicherheit rufen, hat natürlich historische Gründe wie Sie sagen. Es hat aber auch mit der ambivalenten Kommunikation der SPD zum Thema Ukraine zu tun. Es fehlt die klare Ansage, wie sie der Bundeskanzler in seiner berühmten Zeitenwende-Rede gemacht hat. Am Ende erntet man die Früchte dessen, was man gesät hat, eben dass man angesichts der irrwitzigen russischen Aggression keine klare Politik verfolgt. Vor allem im Osten hat dies dramatische Folgen. Eine deutlich klarere Kommunikation zu den echten Bedrohungen, die von Russland ausgehen, wäre notwendig.
dokdoc: Im Ukrainekrieg setzten Sie auf eine Verhandlungslösung, doch die Geschichte zeigt, Putin schert sich wenig um Abkommen und Abmachungen – Stichwort: Minsker Verhandlungen. Wie soll das gehen? Haben wir überhaupt eine Strategie, um die Ukraine in eine Position der Stärke zu bringen und Verhandlungen zu ermöglichen?
Heusgen: Ich finde es absolut richtig, wenn man von morgens bis abends darüber nachdenkt, wie man zu einer Verhandlungslösung kommen kann. Ich glaube, dass wir es den Menschen schuldig sind, die jeden Tag um das Überleben ihres Landes kämpfen, und unsere Freiheit indirekt verteidigen. Deswegen dürfen wir nicht so zögerlich sein, was die Bereitstellung von Waffen anbelangt. Denn eins ist klar: Man kann mit Russland nur dann erfolgreich verhandeln, wenn man aus einer Position der Stärke operiert. Und ja: Wir wissen aus der Geschichte, dass Russland sich an keine Abmachungen hält. Das ist auch eine klare Lehre aus den Minsker Abkommen. Deswegen muss ein Friedensvertrag mit Garantien versehen werden, die weit über das hinausgehen, was man der Ukraine 1994 gegeben hat. Es ist in diesem Zusammenhang für mich unabdingbar, dass die Ukraine Mitglied der NATO wird, damit Putin, sollte er wieder einmal Lust bekommen, seine Aggression auszuleben und andere Territorien zu erobern, es dann mit der geballten Macht der NATO zu tun bekommt.
dokdoc: Die für den Verteidigungshaushalt vorgesehenen Ausgaben sollen in den kommenden drei Jahren konstant bleiben. Erst im Jahre 2028 soll es einen großen Sprung geben, von 53,5 auf 80 Milliarden €. Einige Experten sprechen von einem „Versagen der Berliner Politik“, der am Ende tragische Folgen haben könnte, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für ganz Europa. Stimmen Sie ihnen zu?
Heusgen: Aktuell erreichen wir das 2-Prozent-Ziel mit dem Sondervermögen. Aber das Sondervermögen ist begrenzt, und wenn es ausläuft, sind wir wieder auf den Haushalt zurückgeworfen, in den Dimensionen, wie er vorher war, nämlich bei rund 1,5 Prozent. Mit diesem Haushalt setzt man Deutschlands Sicherheit aufs Spiel. Ich glaube, dass die Verteidigung, die Sicherheit, die Freiheit unseres Landes wichtiger als die Einhaltung und Befolgung der Schuldenbremse sind. Putin sagt ausdrücklich, er wolle das russische Imperium wiedererrichten: Das heißt, er droht offen mit Angriffen auf die baltischen Staaten bzw. das NATO-Gebiet. Wenn wir nicht darauf vorbereitet sind, dann ist das verantwortungslos. Wir dürfen keine Vogel-Strauß-Politik betreiben und darauf hoffen, dass es die nächste Regierung schon richten wird. Wir müssen jetzt eine mutige und offene Debatte über Haushaltsprioritäten und den Wert unserer eigenen Sicherheit führen.
dokdoc: Herr Botschafter, Sie sprechen gerne Französisch. Haben Sie noch Gelegenheit dazu?
Heusgen: Pour moi, c’est toujours un grand plaisir de parler français, notamment avec mes amis Maurice Gourdault-Montagne, Jean-David Levitte, Jacques Audibert, et Philippe Étienne. Durant nos échanges, nous nous sommes toujours battus pour savoir quelle langue on allait parler. Mes amis français ont toujours insisté pour parler allemand, et moi, français. Aujourd’hui, nous sommes toujours en contact. Nous avons toujours eu une relation de confiance entre conseillers et ça, c’est la meilleure base de travail !
(Für mich ist es immer ein großes Vergnügen, Französisch zu sprechen, insbesondere mit meinen Freunden Maurice Gourdault-Montagne, Jean-David Levitte, Jacques Audibert und Philippe Étienne. Bei unseren Gesprächen haben wir uns immer darum gestritten, welche Sprache wir sprechen sollten. Meine französischen Freunde bestanden immer darauf, Deutsch zu sprechen und ich Französisch. Heute sind wir immer noch in Kontakt. Wir, die Berater, haben immer ein Vertrauensverhältnis gehabt: Das ist die beste Grundlage für eine gelungene Kooperation!)
Die Fragen stellte Landry Charrier
Unser Gast
Botschafter Christoph Heusgen ist seit 2022 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Er trat 1980 in den Auswärtigen Dienst ein. Nach Stationen im deutschen Konsulat in Chicago und der deutschen Botschaft in Paris wurde er 1988 zum Persönlichen Referenten des Koordinators für Deutsch-Französische Zusammenarbeit ernannt. Von 1993 bis 1997 arbeitete Heusgen im Ministerbüro von Außenminister Klaus Kinkel. Anschließend übernahm er für zwei Jahre die Leitung der Unterabteilung Europa im Auswärtigen Amt.
Von 1999 bis 2005 leitete Christoph Heusgen den Politischen Stab des Hohen Vertreters für Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Javier Solana. Zwischen 2005 und 2017 beriet er Bundeskanzlerin Merkel zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen und leitete als Ministerialdirektor die Abteilung für Außenpolitik im Bundeskanzleramt. Bevor er den Vorsitz der MSC übernahm, war Botschafter Heusgen von 2017 bis 2021 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen in New York und saß im April 2019 und Juli 2020 dem UN-Sicherheitsrat vor.