Krieg gegen die Ukraine:
Finnlandisierung ist weiterhin keine Option für die Ukraine

Krieg gegen die Ukraine: Finnlandisierung ist weiterhin keine Option für die Ukraine
  • VeröffentlichtNovember 11, 2024

 

Soll die Ukraine finnlandisiert werden? Mit diesem Vorschlag am Rande eines Treffens mit Mark Rutte sorgte Olaf Scholz für große Kontroversen. Die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander erklärt, warum der Bundeskanzler falsch liegt. 

 

In den Wochen vor Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine (24. Februar 2022) hat Emmanuel Macron viel Zeit damit verbracht, Wladimir Putin von seinen Plänen abzubringen. Über eine mehrstündige Verhandlung im Kreml am 7. Februar 2022 wurde berichtet, dass er die „Finnlandisierung“ der Ukraine als Lösung vorgeschlagen hätte. Der französische Präsident dementierte dies später, aber die Idee hatte sich in der Zwischenzeit bereits verbreitet.

 

In Finnland wurde Macrons Vorschlag mit Bestürzung aufgenommen. Die Finnlandisierung ist hier als eine in vielerlei Hinsicht negative Phase der nationalen Geschichte in Erinnerung geblieben – eine Zeit, die man am liebsten vergessen oder an die man nicht erinnert werden möchte. Denn Finnlandisierung bedeutete nicht nur reine Bündnisneutralität, sondern ging mit vielen darüber hinausgehenden negativen Begleiterscheinungen einher. Finnlandisierung war eine Überlebensstrategie: Sie bedeutete eine gewissermaßen freiwillige Rücksichtnahme auf die außen- und innenpolitischen Interessen des sowjetischen Nachbarn, um Schlimmeres wie die gewaltsamen Interventionen in Ungarn 1956 oder in Prag 1968 zu verhindern. Es ging darum, die UDSSR bei Laune zu halten und eine angebliche Freundschaft gemäß dem bilateralen Freundschaftsvertrag von 1948 zu beschwören. Gleichzeitig sollte die Neutralität und Unabhängigkeit Finnlands betont werden, um sich von Moskau zu distanzieren.

 

Auf Messers Schneide

 

Der finnisch-sowjetische Freundschaftsvertrag hatte zahlreiche Implikationen für die finnische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. So legte der erste von insgesamt acht Artikeln das Verhalten Finnlands im Falle eines Angriffs durch Deutschland oder ein mit Deutschland verbündetes Land (seit dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik 1955 also die NATO) fest: Sollte Finnland selbst oder die Sowjetunion über finnisches Territorium angegriffen werden, würde sich Finnland – gegebenenfalls mit Unterstützung der Sowjetunion – verteidigen. Von großer Bedeutung war Artikel zwei. Er besagte, dass ein solcher Beistand nicht automatisch, sondern nach Konsultationen erfolgen sollte. Helsinki hatte also Verteidigungspläne gegen einen Angriff aus dem Westen, aber aus finnischer Sicht war die wahrscheinlichste Bedrohung ein erneuter Angriff der Sowjetunion (nach zwei Kriegen in den 1940er Jahren, dem Winterkrieg 1939-40 und dem Fortsetzungskrieg 1941-44). Aufgrund der prekären außen- und sicherheitspolitischen Lage und der Einschränkungen durch den Freundschaftsvertrag konnte Helsinki jedoch keine offiziellen Vorbereitungen für einen solchen Fall treffen. Die wahre Richtung der Bedrohung war jedoch zwischen den Zeilen der Operationspläne zu lesen.

 

Minna Alander © Liisa Valonen

Außenpolitisch bedeuteten das „finnische Modell“ der Neutralität und der Freundschaftsvertrag mit Moskau, dass jede Zusammenarbeit mit dem Westen von der Sowjetunion gebilligt werden musste. Deshalb konnte Finnland nicht an der europäischen Integration teilnehmen, mit Ausnahme der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA, die von der Sowjetunion als unpolitisch angesehen wurde – solange der sogenannte „Osthandel“ nicht darunter litt. Innenpolitisch ging dies mit Einschränkungen und Kompromissen bei demokratischen Standards einher: nicht nur eine mediale und literarische Selbstzensur, sich mit Kritik an Moskau zurückzuhalten, sondern auch ein Einfrieren des politischen Machtwechsels für 25 Jahre. Präsident Urho Kekkonen konzentrierte ab 1956 die politische Macht in seiner Person. 1973 wurden Präsidentschaftswahlen gänzlich ausgesetzt, um Kekkonens Amtszeit per Ausnahmeregelung bis 1981 fortzusetzen. Dies wurde toleriert, weil Kekkonen für viele als unersetzlich für die guten Beziehungen zu Moskau galt.

 

Die nordische Balance

 

Während des Kalten Krieges profitierte Finnland von seinen engen Beziehungen zu Schweden und den anderen nordischen Ländern. Schweden begründete seine Neutralität zum Teil mit der so genannten „Finnland-Frage“: Es würde Helsinki in eine gefährliche Lage bringen, wenn Schweden der NATO beitreten würde und Finnland allein als neutraler Puffer zwischen der Sowjetunion und der NATO verbliebe. In diesem Fall würde Moskau wahrscheinlich einen neuen Versuch unternehmen, Finnland ganz in ihren Einflussbereich zu ziehen, so die schwedische Einschätzung. Finnland war rund 700 Jahre lang Teil des schwedischen Königreichs, bis Schweden es 1809 im Schwedisch-Russischen Krieg an Russland verlor. Wie es in dem Buch von Kent Zetterberg und Gunnar Artéus Cold War views on Sweden (2018) heißt, war „Schweden […] das einzige Land in der Welt, für das die Sicherheit Finnlands eine Priorität war“. Die Idee des nordischen Gleichgewichts bestand darin, die Neutralität Schwedens und die selbst auferlegten Beschränkungen Norwegens in Bezug auf die Präsenz von NATO-Truppen und Atomwaffen auf norwegischem Territorium mit dem Schicksal Finnlands zu verknüpfen: Sollte die Sowjetunion den Druck auf Finnland erhöhen oder gar versuchen, Finnland zu annektieren, würde Norwegen mehr NATO-Präsenz zulassen und Schweden gegebenenfalls der NATO beitreten. Moskau war daran interessiert, so wenig Nato wie möglich in der Arktis zu haben, Schweden außerhalb der Nato zu halten und die Stabilität in Nordeuropa zu wahren. Ein großer Teil des Erfolges der Finnlandisierungsstrategie war daher den westlichen Nachbarn Finnlands zu verdanken.

 

Folgen der Finnlandisierung

 

Obwohl Finnland unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges der EU beitrat – was im Land als Ende der politischen Neutralität empfunden wurde –, blieb es bis 2022 außerhalb der NATO. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die finnische Strategie gegenüber Russland bestand nach wie vor darin, das aus finnischer Sicht unverminderte Bedrohungspotenzial durch möglichst gute nachbarschaftliche Beziehungen in Schach zu halten und dafür zu sorgen, dass Finnland keine Provokationen vorgeworfen werden konnten. Bis zum Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 wurde an der eigentümlichen Russlandpolitik festgehalten, in der Russland nie offen als Bedrohung bezeichnet wurde, sondern immer nur Vorbereitungen für die gesamtgesellschaftlich wohl verinnerlichte Bedrohung getroffen wurden.

 

Eine kuriose Nachwirkung der Finnlandisierung war die Bürgerinitiative im Frühjahr 2022, die dem Präsidenten Sauli Niinistö per Ausnahmeregelung eine dritte, allerdings von sechs auf vier Jahre verkürzte Amtszeit ermöglichen wollte – die finnische Verfassung sieht maximal zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten vor. Die Bürgerinitiative erhielt nur etwas mehr als 10 000 Unterschriften und verfehlte damit die Schwelle von 50 000 Unterschriften, ab der sich das Parlament mit der Initiative befassen muss. In einer Meinungsumfrage im Februar 2022 sprachen sich jedoch 26% der Befragten für den Vorschlag aus (59% dagegen). Präsident Niinistö selbst hat allerdings deutlich gemacht, dass eine dritte Amtszeit für ihn nicht in Frage kommt.

 

Wiederaufleben der Finnlandisierungsidee

 

Ministerpräsident Orpo, Juni 2024 (Copyright: Wikimedia Commons)

Am 4. November 2024 berichtete Politico, dass die Idee einer Neutralität nach finnischem Vorbild als Lösung für die Ukraine wieder aufgekommen sei – diesmal im Rahmen eines Treffens zwischen Olaf Scholz und NATO-Generalsekretär Mark Rutte in Berlin. In Finnland wurde die Nachricht mit Unglauben aufgenommen: Das Land ist inzwischen selbst der NATO beigetreten und hat damit deutlich gemacht, dass es in Europa keine Grauzonen mehr geben könne. Der finnische Ministerpräsident Petteri Orpo wies die Idee entschieden zurück: „Finnland ist Mitglied der Nato und der EU. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen die russische Aggression. Das ist das Modell, für das die Ukrainer kämpfen.

 

Finnland hat selbst während des Kalten Krieges für die Anerkennung und den Respekt des Existenzrechts aller Staaten, unabhängig von ihrer Größe, gekämpft. Nicht zufällig fand 1975 in Helsinki die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa statt, deren Schlussakte die Grundlage für eine regelbasierte Sicherheitsordnung in Europa wurde. Die Finnlandisierung gehört einer längst vergangenen Zeit an, die in Europa nicht wieder heraufbeschworen werden darf.

 

Die Autorin

 

Minna Ålander ist Research fellow am Finnish Institute of International Affairs in Helsinki und non-resident fellow am CEPA in Washington D.C. Zuvor arbeitete sie an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind deutsche und finnische Außen- und Sicherheitspolitik, NATO und Sicherheit in Nordeuropa, Verteidigungszusammenarbeit der nordischen Länder sowie arktische Sicherheit.

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